Eine Albtraumreise in das Jahr 1941
Ausgabe Nr. 2514
Am 29. und 30. September 1941 fand in Babi Jar/Altweiberschlucht in der Ukraine ein Massaker der brutalsten Art an jüdischen Bürgerinnen und Bürgern statt. 75 Jahre danach fand vor Ort eine Gedenkveranstaltung statt, zu der auch die HZ-Mitarbeiterin, die Berliner Fotografin und Autorin Christel WOLLMANN-FIEDLER eingeladen war. Ihren Bericht drucken wir im Folgenden aus Anlass des Internationalen Tags des Gedenkens an die Opfer des Holocaust, der laut dem 2005 erfolgten Beschluss der Vereinten Nationen (UNO) am 27. Januar begangen wird.
Junge Mütter schieben Kinderwagen durch den Park von Babi Jar, Kinder mit Rollern und Fahrrädern begleiten sie, Kinderlachen ist zu hören, fröhlich ist die Stimmung. Die Blätter schimmern gelb-golden, herbstlich ist das Licht. Alte Menschen spazieren entlang der Pappelallee, lassen sich von der Sonne wärmen. Ruhe und Heiterkeit liegen über der Altweiberschlucht.
In die Spätnachmittagssonne setze ich mich an den Wiesenabhang. Vor mir steht trotzig das Mahnmal von Michail Lisenko aus dem Jahr 1976 aus schwarzem gegossenem Eisen, das an die in der Nazizeit ermordeten sowjetischen Bürger und Soldaten erinnert. Kälte zieht über meine Schulter, Angst überkommt mich, an der Altweiberschlucht, im Babi Jar, am Rande der Stadt Kiew. Meine Gedanken gehen in die Vergangenheit, in das Jahr 1941, meinem Geburtsjahr. Furchtbare Gewalttaten gegen jüdische Menschen geschahen bereits am 8. Juli im Norden Rumäniens an der Grenze zur Ukraine und anderen Gebieten. Jüdische Bürger wurden aus freien Stücken, ohne menschliches Erbarmen, von Nazischergen und Helfershelfern der Rumänen und Ukrainern auf Feldern und im Wald erschossen und verscharrt, selbst der Nachbar machte mit. Erst vor Jahren erinnerte man sich der Grausamkeit von damals, das Buch von Simon Geissbühler „Blutiger Juli“ erinnert an das Geschehene.
Die Ukraine hatte vor dem Zweiten Weltkrieg die größte Jüdische Gemeinschaft in Europa mit über 2,4 Millionen Menschen, 1,6 Millionen jüdische Bürger wurden im 2. Weltkrieg auf der Strecke während des Russlandfeldzugs ermordet. 200.000 Juden lebten 1939 in der Stadt Kiew am Dnjepr.
Im September 1939 begann der von den Nazis gewollte 2. Weltkrieg mit dem Überfall auf Polen, bereits zwei Jahre später, am 22. Juni 1941, überfielen die Nazideutschen die Sowjetunion gegen sämtliche völkerrechtliche Konventionen. Das Unternehmen „Barbarossa“ startete. Ein Vernichtungskrieg sollte es werden und wurde es! Ein deutsches „Kolonialreich“ wollten Hitler und seine hörigen Offiziere im Osten errichten, die „arische Herrenrasse“ sollte Wohnraum im Osten bekommen. Den „Jüdischen Bolschewismus“ wollten sie in der Sowjetunion ausmerzen. Noch gab es verbündete Staaten, die Hitlers Feldzüge unterstützten.
Die Erde bebte bereits in Europa, doch es sollte noch schlimmer werden. Massenmorde, Massengräber waren das Ergebnis. Eine der größten Zerstörungen der Menschheit auf unserem Planeten begann, die größte Vernichtung des jüdischen Volkes und der Untergang ihrer Kultur, eine totale Zerstörung Deutschlands, das Land Goethes und Schillers!
Verschiedene andere europäische Gebiete und Länder waren bereits besetzt, die Stadt Kiew am 19. September 1941 auf äußerst brutale Weise „erobert“ und sowjetische Soldaten zu Kriegsgefangenen degradiert.
Stadtkommandant von Kiew wurde Generalmajor Kurt Eberhard, der sich 1947 aufgrund seiner mörderischen Aktion in Stuttgart das Leben nahm. Die Deutsche Wehrmacht, die Sicherheitspolizei und die SS unter ihrem Offizier Paul Blobel, setzten das Massaker in die Tat um, eine der Unmenschlichsten überhaupt. Paul Blobel wurde 1951 in Landsberg am Lech erhängt.
Jüdische Bürger wurden aufgefordert, sich zur Umsiedlung am Rande der Stadt, in der Altweiberschlucht, einzufinden. „Wer den Anweisungen nicht folgt, wird erschossen!“ Pässe, Wertgegenstände und Geld seien zum Treffpunkt mitzubringen. Der größte Teil der damals in der Stadt lebenden, über zweihunderttausend Juden sollen es gewesen sein, flohen aus der Stadt und retteten vorerst ihr Leben. Andere, jüdische Frauen und Männer, Greise und Kinder, folgten der Aufforderung. Ihre Habseligkeiten wurden ihnen genommen, geschlagen und erniedrigt, mussten sich entkleiden. Mütter umklammerten ihre Kinder, schrien, wollten leben, nicht sterben. Am 29. und 30. September 1941 fand das Massaker der brutalsten Art statt. 33.771 Menschen wurden in den zwei Tagen auf kaum vorstellbare Art und Weise von der SS, der deutschen Wehrmacht und der Sicherheitspolizei, liquidiert, ganz einfach erschossen durch Genickschuss! Generalmajor Eberhard hatte seine Pflicht erfüllt!
Maschinengewehrsalven, das Kreischen und Wimmern der Menschen, das Weinen der Kinder von damals hängt noch heute über der Altweiberschlucht, dem Babi Jar, und wird niemals verschwinden.
1961 wurde der junge Dichter Jewgeni Jewtuschenko aus dem Süden Sibiriens von heute auf morgen mit seinen beiden Gedichten über das Massaker von Babi Jar berühmt. Heute ist er ein weltweit bekannter russischer Schriftsteller. In der Literaturnaya Gazeta, einer sowjetischen Kulturzeitschrift, erschienen 1961 die Gedichte, weitere Auseinandersetzungen mit dem Sowjetischen Staat erfolgten durch die Vertonung der Gedichte. Der Komponist Dimitri Schostakowitsch aus St. Petersburg vertonte die beiden Gedichte. Fünf Sätze gehören zu der Sinfonie Nr. 13 in b-moll, op. 113, doch nur der erste Satz erzählt von Babi Jar, andere erinnern an andere sowjetische Geschichten. Nikita Chruschtschov, der damalige Ministerpräsident der UDSSR, sprach die Verbote aus. Hier zwei Zeilen, in der Übersetzung von Paul Celan: „Über Babij Jar, da steht keinerlei Denkmal./Ein schroffer Hang – der eine unbehauene Grabstein.“
75 Jahre sind vergangen seit den Gräueltaten, nach 75 Jahren, am 29. September 2016, denken wir an das damals Geschehene. Präsident Petro Poroschenko hat die Welt eingeladen zum Erinnern und Gedenken. Exzellenzen, Eminenzen, das diplomatische Corps, eine Delegation des Jüdischen Weltkongresses aus New York, wichtige andere jüdische Vertreter aus der gesamten Welt und der Ukraine sind anwesend, die Medien sowieso, um den nicht anwesenden Menschen in aller Herren Länder die bereits historischen, kaum nachvollziehbaren verbrecherischen Geschehnisse von damals zu vermitteln.
In Babi Jar ist es dunkel geworden, die Herbstkühle zieht durch den Park, auf einer Freilichtbühne werden, performanceähnliche Musikvideos gezeigt, eine farbige Erinnerungsshow. Ruhige musikalische Klänge des Komponisten Svyatoslav Lunyov ziehen vorbei, fünf musikalisch hochbegabte Kiewer Kinder, Anastasia Bahinska, 11 Jahre, Oleksandr Podolyan, 12 Jahre, Varvara Vasylyeva, 12 Jahre, Oleksandra Khmara, 11, Vadim Perig, 11 Jahre, singen Vertonungen literarischer Texte, spielen auf Instrumenten.
Präsident Poroschenko hält seine ukrainische Rede, andere Europäer, der EU Ratspräsident Donald Tusk, Janos Ader, Staatspräsident von Ungarn und der Deutsche Bundespräsident Joachim Gauck treten ans Pult und Peggy Pritzker aus den USA. Freiheit, Demokratie, nie mehr Antisemitismus, nie mehr Fremdenhass, kein Nationalismus, kein Rassismus – nie wieder, nie wieder…Das Vokabular ist sich einig. Der Deutsche Bundespräsident erinnert in seiner Rede an das Buch von Katja Petrowskaja „Vielleicht Esther“, eine gute Idee, eine gute Rede. Katja Petrowskajas Großmutter wurde 1941 in der Schlucht von Babi Jar erschossen, die Enkelin lebt in Berlin, bekam vor drei Jahren den Ingeborg Bachmann-Preis, hat in Kiew recherchiert und ein fiktives Buch geschrieben.
Luigi Toscanas fotografische Portraitsammlung von fünfzig Holocaustüberlebenden in Großformat durchziehen den Park von Babi Jar. Zuvor war diese Sammlung in Mannheim, der Heimatstadt des Fotografen und Filmemachers Toscana, zu sehen.
In den zwei Jahren der Besetzung Kiews wurden nicht nur Juden, auch Andersdenkende, Anderslebende, Kommunisten, „Zigeuner“ und russische Kriegsgefangene ermordet, über 200.000 Menschen sind angegeben. Sie alle waren im Visier der SS.
An der übergroßen Menora, dem siebenarmigen Leuchter, dem wichtigsten religiösen Symbol des Judentums, werden in der Dunkelheit von den Politikern Kerzen abgestellt und schweigend der Ermordeten gedacht. 1992 erst entstand am Platz der Erschießungen die Menora aus Eisen des Künstlers Yuri Paskevich.
Am Morgen des Gedenktages wurde im Nationalmuseum am Taras Shevchenko-Boulevard eine Erklärung unterzeichnet. Der Bau eines Erinnerungszentrums, einer Gedenkstätte, eines Dokumentations- und Lehrzentrums (Baby Yar Holocaust Memorial Center), soll in Kiew, in Babi Jar, gebaut und bereits im Jahr 2021 zum 80. Jahrestag eingeweiht werden. Alle Welt hat solche Zentren. Berlin, New York und Jerusalem wurden in den Reden der Mitglieder der Initiative besonders hervorgehoben. Nie mehr Intoleranz wurde gefordert, Europa ist nichts ohne die Juden, sie gehören zu Europa.
Rabbi Yaakov Dov Bleich, Oberrabbiner der Ukraine, Joschka Fischer, Deutschland, Mihail Fridman, Pavel Fuks, German Khan, Volodymyr Klitschko, Alexander Kwasniewki, Polen, Joe Lieberman, USA, Victor Pinchuk, Ukraine, Natan Sharansky, Svyatoslav Vakarchuk, sind die Mitstreiter dieser wichtigen Initiative. Petro Poroschenko, der Präsident der Ukraine, war zu dem Ereignis gekommen und sprach von einer gesellschaftlichen Aktion, ebenso kam Vitali Klitschko, der Bürgermeister von Kiew.
Bevor Präsident Poroschenko den Saal verließ, wurde er mit Veteranen, mit Überlebenden von damals, fotografiert und gefilmt, das Auditorium gab großen Beifall.
Björn Geldhof, der belgische Kurator und Künstlerische Direktor des privaten PinchukArtCentre für Moderne Kunst begann 2015, über eine Ausstellung nachzudenken. Das Thema „Babi Jar“ wurde aktuell. Drei internationale Künstler suchte er aus: Christian Boltanski aus Paris, Berlinde de Bruyckere aus Gent in Belgien und Jenny Holzer aus New York. Bis Ende Januar 2017 sind ihre künstlerischen Ideen zum Thema Babi Jar ausgestellt. Geldhof führte mit großer Begeisterung und Engagement durch die Ausstellung „LOSS – In memory of Babi Yar“, „VERLUST – In Erinnerung an Babi Jar“.
Die Sonne senkt sich im Westen hinter den Bäumen, der Abendnebel zieht über die Altweiberschlucht, mich fröstelt. Der Albtraum von 1941 ist beendet, den Ort des Grauens verlasse ich, gehe über die vul Mel‘nykova zur U-Bahn-Haltestelle Dorohozhychi, fahre mit der Rolltreppe einige hundert Meter unter die Erde und komme am Platz L’va Tolstoho aus der Metro herauf auf den Platz. In Kiew ist es Nacht geworden.
Foto 1: „Zigeunerwagen“ im Park von Babi Jar.
Foto 2: 1992 wurde am Platz der Erschießungen die eiserne Menora von Yuri Paskevich aufgestellt.
Fotos: die Verfasserin