Betrachtungen zu 80 Jahren seit dem Victory in Europe Day (kurz: VE Day)
Ausgabe Nr. 2910

Paul Milata: Zwischen Hitler, Stalin und Antonescu. Rumäniendeutsche in der Waffen-SS. 478 Seiten, Schiller Verlag Hermannstadt-Bonn 2023, broschierte Ausgabe, ISBN 978-3-9499583-48-3, 89 Lei/19,90 Euro.
Das Titelbild zeigt SS-Obergruppenführer Berger, wie er im Oktober 1943 in Wien zu Rekruten der Waffen-SS aus Siebenbürgen spricht.
Die bedingungslose Kapitulation Deutschlands am 8. Mai 1945 beendete fast alle Kampfhandlungen des Zweiten Weltkrieges in Europa. Etwa 3 Prozent der Weltbevölkerung war von 1939 bis 1945 getötet worden. Der 8. Mai kennzeichnet auch das Ende des sogenannten Zweiten Dreißigjährigen Krieges (1914-1945).
Auch für die Deutschen in Rumänien war der Zweite Weltkrieg eines der folgenschwersten Ereignisse ihrer Geschichte. Und auch hier gilt: Wer die Jahre 1939-1945 verstehen möchte, muss in das Jahr 1919 zurückblicken.
Nach dem Ersten Weltkrieg hatte sich Fläche und Bevölkerung Rumäniens verdoppelt. Dazu zählten 30 Prozent nicht-Rumänen, darunter 800.000 Deutsche. Diese erwarteten wenig von Bukarest. Es wurden Misswirtschaft, Korruption, Verstaatlichungen und eine allgemeine Verarmung befürchtet. Das deutsche Großbürgertum bezeichnete die Vereinigung als alternativlos. Deutsche Industrielle hofften, die verlorenen Absatzmärkte Österreich-Ungarns durch die Rumäniens zu ersetzen. Dort sah man zwar weniger Verbraucher, aber hohen Bedarf und weniger Konkurrenz.
Das Großbürgertum setzte sich nach 1919 durch. Zusammen mit den Kirchen kontrollierte es die politischen Strukturen. Von 1922-1938 wurden die Deutschen von denselben 7-11 Personen in Bukarest vertreten. Darunter entscheidend: der Schwiegersohn des Vorsitzenden der Industriellenvereinigung, Hans Otto Roth. Die „zuwartende Haltung“ (Passivität) dieser Gruppe – unter denen Roth als klarsichtig gelten muss – gegenüber Bukarest äußerte sich in einer sehr niedrigen Zahl von Protesten im Parlament, den Medien oder beim Völkerbund.
Die Befürchtungen der Bevölkerung wurden in den 1920er Jahren bestätigt. Von der juristisch festgelegten Gleichberechtigung konnte keine Rede sein. Korruption machte sich breit. 1921 wurde der Gemeindeboden verstaatlicht. Staatsleistungen fehlten. Steuern wurden doppelt gezahlt. Die Masse der Bevölkerung verarmte zusehends. Früher Protest (Lehrerstreik 1920, Bauernbund 1920, Unzufriedene 1924) scheiterte. Daraufhin nahm die Auswanderung zu, die Geburtenrate ab und Oppositionelle radikalisierten sich.
Auch die rumänische Bevölkerung Siebenbürgens und des Banats wurde von Bukarest enttäuscht. „Sie betrachten und behandeln Siebenbürgen als eine Kolonie“, so die Klausenburger Zeitung Patria am 26.12.1920. 1922 blieb die Partei der Rumänen Siebenbürgens und des Banats (Iuliu Manius Nationalpartei) demonstrativ der Königskrönung fern.
Die politische Polarisierung der Deutschen war 1928 abgeschlossen – also noch vor der Wirtschaftskrise 1929. Den Status Quo bildeten „Konservative“: Kirche, Industriellenvereinigung, Großbürgertum sowie die von diesen dominierten Volksräte. Die machtlose Opposition konzentrierte sich zunehmend in der nationalsozialistischen Selbsthilfe. Die Bevölkerung forderte ein Ende der Politik im kleinen Kreis durch Einführung von Vorwahlen. Nur Kronstadt folgte dieser Forderung.
Die Nationalsozialisten gewannen 1933-1935 die regionalen Wahlen und übernahmen 1935 den nationalen Volksrat. Im Oktober 1938 wurden sie von der SS gleichgeschaltet.
1937 befand sich unter den ins Deutsche Reich ausgewanderten Siebenbürger Sachsen ein NS-Anhänger namens Andreas Schmidt. Schmidt heiratete die Tochter des SS-Rekrutierungschefs Gottlob Berger. Dessen Position hing von der Anzahl der Rekruten ab, die er für den bewaffneten Arm der SS (Waffen-SS) gewinnen konnte. Dabei stieß er im Inland auf den Widerstand der Wehrmacht. Berger ließ Schmidt in Siebenbürgen die erste ausländische Rekrutierung des Dritten Reiches durchführen (1.000-Mann-Aktion, 1939 – 1940). Deren Erfolg beruhte auch auf Bestechungsgelder. Zum Dank ernannte die SS Schmidt im September 1940 zum „Volksgruppenführer“ aller Deutschen in Rumänien. Sein Schwiegervater war einen Monat vorher zum Chef des SS-Hauptamtes befördert worden.
Bis zum Sommer 1943 verbat Marschall Antonescu weitere SS-Rekrutierungen. Gleichzeitig schmuggelte Schmidt eine kleine Zahl NS-naher junger Männer diskret nach Deutschland. Als Rumänien bei Stalingrad 18 seiner 26 Divisionen verlor und gleichzeitig eine Mobilisierung ankündigte, setzte Hitler Antonescu unter Druck. Bukarest erlaubte im Sommer 1943 eine Waffen-SS-Rekrutierung der Deutschen. Die Wehrmacht war aufgrund eines Abkommens mit der Waffen-SS von Rekrutierungen Deutscher im Ausland ausgeschlossen.
Die Gesamtzahl der Deutschen aus Rumänien in der Waffen-SS belief sich auf etwa 63.560; von diesen waren etwa 50.000 erst im Sommer 1943 eingetreten. Etwa 3 Prozent wurden polizeilichen Einheiten wie SD-Sonderkommandos und KZ-Wachmannschaften zugewiesen, was dem Waffen-SS-Durchschnitt entsprach. Innerhalb dieser Gruppe finden sich ungewöhnlich viele Zuweisungen an Wachmannschaften der Vernichtungslager.
Die Freiwilligkeit der Meldung zur Waffen-SS kann so wenig angezweifelt werden wie das dreifache Spannungsfeld, in dem diese Entscheidung fiel. Der Eintritt war nicht nur ein ideologischer Rausch, sondern eine Geste der Unterstützung NS-Deutschlands – trotz oder wegen Hitler –, eine Reaktion auf das nationalistische System Rumäniens und ein Zeichen gegen die Sowjetunion. Nach Stalingrad fiel die Entscheidung für die Waffen-SS und gegen die armata (die rumänische Armee) ausgesprochen leicht.
Etwa die Hälfte der Rekruten waren jünger als 21. Mindestens 28 Prozent fielen. Nur 7 bis 30 Prozent kehrten nach Rumänien zurück. Die übrigen bildeten in Deutschland den Brückenkopf, der während des Kalten Krieges zum Schneeballeffekt der Familienzusammenführung, der Auswanderung und des Exodus (1990-1992) führte.
Ende 1944 war die SS-Aktion ein ultimatives Argument der sowjetischen Seite. Diese führte zur Deportation von bis zu 90.000 Deutschen für bis zu 10 Jahre Zwangsarbeit in die Sowjetunion, wo etwa 12 Prozent starben.
Nach dem Zweiten Weltkrieg bildeten die NS-Führungskräfte der Zwischenkriegszeit in Deutschland sogenannte Landsmannschaften, die von Bonn als alleinige Interessensvertreter betrachtet und finanziert wurden. Der NS-Widerstand organisierte sich in Vereinen und fristete ein bescheideneres Dasein. Fehlende Forschung und Aufklärung ermöglichte das Aufkommen von Mythen, die in Rumänien (z. B. 2017) politisch eingesetzt wurden.
Paul MILATA