Der Roman „Die Unschärfe der Welt“ von Iris Wolff ist bald auf dem Büchermarkt
Ausgabe Nr. 2685

Iris Wolff: Die Unschärfe der Welt, Roman, Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2020, 213 Seiten, ISBN 978-3-608-98326-5, erscheint am 22. August 2020
„Tief ist der Brunnen der Vergangenheit. Sollte man ihn nicht unergründlich nennen?“ Mit diesem Zweiklang stimmt Thomas Mann den Leser in das epische Werk „Joseph und seine Brüder“ ein. Die Koordinaten, die Iris Wolff ihrem Bilderbogen aus Erinnerung, Familie und Freundschaften zwischen dem rumänischen Banat und dem Ausreise-Deutschland in den 80-er Jahre des vergangenen Jahrhunderts setzt, heißen „Lass mir das Kind“ – zu Beginn – und „Der Blick des Zauberers ist der Blick des Publikums“ – am Schluss. Ein epischer Atem kann zu einem durchkonstruierten Roman führen, er kann aber auch ein Netz aufspannen, ein Zelt aus Einsichten, Begegnungen und Beobachtungen, in dem der Leser hin- und hergehen kann.
So ist es hier. Ein Stück Rhapsodie, in dem es klingt und trauert, inszeniert mit duftigen Als-ob-Sätzen und anderen Konjunktiven, die zu Erwägungen, Gefühlen und Traurigkeiten führen, denen man sich gerne anvertraut, auch wenn der Leser zuweilen den Faden verliert. All das ist grundiert vom Esprit und der weichen Weltwahrnehmung der Autorin und beglaubigt den Titel des Buches. Rumänien ist eine weiche Harfe, hat viele Saiten und klingt deshalb in allen Landteilen immer anders. Iris Wolff wurde ins siebenbürgische Hermannstadt geboren, das rumänisch Sibiu heißt, die EU-Kulturhauptstadt des Jahres 2007. Sie ist also im besten Sinne bewandert, zweisprachig aufgewachsen und kulturhistorisch informiert. Nach der Ausreise 1985 aus ihrer Heimat studierte sie in Marburg deutsche Sprache und Literatur, auch Religionswissenschaften sowie Graphik und Malerei; damit wuchsen ihr Kompetenzen zu, die ihren Büchern zugutekommen. Nun wohnt sie schon seit Jahren im Breisgau, im Freiburg. Anders als bei Herta Müller ist ihre Prosa nicht kontaminiert vom rumänischen Realsozialismus, von Securitate-Erfahrungen und Verfolgungen der Familie der deutschen Minderheit in Rumänien. Das alles kennt sie zwar, beschwert aber nicht ihre Seele und so auch nicht ihr Schreiben, das Noblesse und poetische Klarheit ausstrahlt.
Wenn hier von Rumänien erzählt wird, dann vom Banat, das viele Sprachen versammelt, wo sie einige Jahre als Kind lebte und dessen Dichter die deutsche Lyrik geprägt haben, allen voran Rolf Bossert (1952-1986) und der nun in Berlin lebende Richard Wagner (geb. 1952), dessen Gedicht aus dessen letzten Sammlung von 2017 die Autorin ihrer Prosa voranstellt: „Ich sah / den Stein schmelzen/und die Liebe gehen // ruft der Vogel / aus dem Baum // Wir sagen: Er singt“. Diese Verse intonieren das Buch, das auch singt, das Worte und Sätze hochwirft und sich in manchem wie ein Prosagedicht lesen lässt.
Um sieben Hauptfiguren bewegen sich die Personen der Prosasequenzen von Iris Wolff, sie zoomt sie mit warmem Licht heran und gleitet weg, so dass alle zusammengehören und sich zugleich zu verlieren scheinen. Mit Florentine und Hannes, Samuel und dessen Freund Oz, dessen Geschwister, Mina, Malu und Noah, mit Bene, mit Malva und Kontanty durchstreifen die Wolffs-Sätze die pannonische Ebene des Banats, Namen, als kämen sie aus einer anderen Zeit. Ja, auch Echo wird jemand genannt. „Es gab das Grau des Himmels. Den Fluss und die Weiden. Die weite Ebene und die Einsamkeit. Es gab den Rand und die Mitte. Das Ja und das Nein. Die Ungewissheit. Und doch, dachte Florentine, lässt dich diese Landschaft wie du bist.“ Das sind Zeilen, die das melancholische Timbre des Banats erfassen, die Seele spiegeln, eine Landschaft, die aussetzt und bewahrt in einem, wo ein Kind retten kann, eine schneeige Welt, in die Florentine ihren Sohn Samuel – geweissagt von Marina, einer Zigeunerin – ins Leben schickt. Die Erzählerin entführt in eine ferne Welt des Bäuerlichen und Naturnahen, wie dies auch der Film von Michael Haneke „Das weiße Band – Eine deutsche Kindheit“ aus dem Jahre vermocht hat. Wie andere Regionen der damaligen Sozialistischen Republik Rumänien war das Banat Ausweichquartier für DDR-Bürger.
Und so kommt es in der Welt der Schafe und Brunnen zu Begegnungen mit Besuchern aus dem einstigen Bruderstaat. Die Erzählsequenzen entfalten sich in Prosastudien, die ein In-sich-Leben skizzieren unter den Überschriften „Zapada“, „Echo“, „Leviathan“, „Windwanderer“, „Makromolekular“, „Jupiter“ und „Prestigio“. Das hat etwas Rätselhaftes und dies schwingt auch durch die Seiten.
Die Autorin will sich in jedem ihrer Bücher und so auch in diesem beheimaten, aber es gelingt ihr nicht immer, zu deutlich sind Abschied und Verlust intoniert, die Suche nach Halt. Dies – so scheint mir – macht indes das rumänische und noch mehr das rumänisch-deutsche Lebensgefühl aus. Und dies bleibt nicht dort, sondern zieht mit nach Deutschland. So holt immer wieder Tristesse die Tage ein. Wer schon mal auf einem evangelischen Pfarrhof in Rumänien war, geht gern mit Iris Wolff auf jenen von Hannes, fühlt, dass das Wort wärmende Mauern haben kann, in dem Florentine und Samuel ihr Zuhause suchen und wo das Läuten eine Kunst ist und das Ausläuten die anderen Kirchen zu den Glocken ruft, über Konfessionen hinweg, zu den Toten hinüber.
Und man lässt sich gern mitnehmen zum Schwarzmeerhafen Constanța und dort aufs Schiff „Transilvania“. „Das Schiff ächzte ein Wiegenlied, der Wind kämmte zahm die Wellen.“ Solche Lyrismen sind fein und stimmig. Und wer weiß, dass man sich noch an den letzten König Rumäniens – er musste erst 1947 abdanken – erinnert, an König Michael I., der 2017 im schweizerischen Exil starb? „Der König war fort und gleichzeitig nicht fort, denn Karoline hatte angefangen, ihn zu erfinden“, dichtet die Autorin.
„Es war einmal, wie es nicht gewesen“, so beginnen denn auch die rumänischen Märchen. Und Iris Wolff kann das auch. „Eine Schwalbe konnte klingen, als waren es zwei, im ewigen Zwiegespräch mit sich selbst.“ In solchen Sätzen atmet der feminine Esprit der Autorin und zugleich jenes Rumänien, das mir durch die Sinne fliegt und klingt. Und in diesen Erzählungen bleibt es, auch wenn Stuttgart der Handlungsort ist. Das Wort Erinnerung meint das Hinabsteigen in die innere Welt des Unbewussten, das französische Wort dafür ist „Souvenir“, was sich wörtlich auch „unterkommen“ übersetzen ließe. Und dieses Unterkommen trägt die Folge der Erzählungen, die gedanklichen Ausflüge und führt hin zum Schlusssatz „Der Blick des Zauberers ist der Blick des Publikums“. Wortklang und Sprachimaginationen halten lange, wie eine Enescu-Rhapsodie nehmen sie mit in den deutschen Alltag. Iris Wolff hat Sprachvermögen, das aus den Quartieren ihrer Bildung sowie aus der deutsch-rumänischen Sprachbürgerschaft ein Buch entwickelt hat, das ihr und auch dem Leser eine Heimstatt sein kann. Dies vermag nur Literatur von Rang.
Matthias BUTH