Ausgabe Nr. 2821
Die sechs Besten bei der diesjährigen Landesphase des Schülerwettbewerbs im Fach Deutsch als Muttersprache erhielten je ein HZ-Jahresabonnement als Sonderpreis. Es handelt sich um Sophie Dahinten, Mühlbach, 7. Klasse, Nora Lucia Zoe Becker, Arad, 8. Klasse, Maria Măndăchescu, Bukarest, 9. Klasse, Martin Arvay, Kronstadt, 10. Klasse, Paula Dörr, Hermannstadt, 11. Klasse und Isabella Hoffmann, Neumarkt, 12. Klasse.
In dieser Ausgabe lesen Sie den Aufsatz von Isabella Hoffmann (Alexandru-Papiu-Ilarian-Nationalkolleg, Neumarkt/Târgu Mureș), die folgende Aufgabe zu lösen hatte: ,,Verfasse ausgehend von dem Zitat einen Text. Finde eine passende Überschrift: ‚Es gibt eine Menge Menschen, aber noch viel mehr Gesichter, denn jeder hat mehrere.‘ Rainer Maria Rilke„
All‘ deine Gesichter
Septembermorgen. Die Robinie am Fenster der Universität, die im Frühjahr immer so bezaubernd blühte und dabei alle aus dem Wirtschafts- und Ökonomielabor mit ihrem süßen, unvergleichlichen Duft umhüllte, nahm jetzt die Gestalt eines ganz gewöhnlichen Baumes an. Vielleicht wegen des Nebels? Wie sollte sich schon eine Robinie in all‘ ihrer Pracht entfalten, wenn sie von der grauen Decke der Natur bedeckt ist?
Jedoch bewunderte er sie trotzdem: „Heute ist sie noch viel schöner als sonst!“, bemerkte er, Herr Dr. Egon Herz, am Fenster stehend. „Es sieht fast aus, als trage sie einen Schleier. Mysteriös, das ist sie! Und schön … wunderschön wie im ersten Jahr, als sie uns allen ihre Blüten zeigte“, fuhr er fort.
Das mochte ich am meisten an ihm. Man würde behaupten, als Wirtschafts- und Ökonomielehrer müsse er eher streng und engstirnig sein, doch dieses Vorurteil passte gar nicht zu ihm; er sah in allem etwas Gutes, er forderte einen auf, seinen Sichtwinkel zu erweitern und nicht immer nur bis zum Horizont der Vernunft zu blicken, sondern weit, weit über ihn hinweg.
„Es gibt eine Menge Menschen, aber noch viel mehr Gesichter, denn jeder hat mehrere.“ Das ist eines meiner Lieblingszitate von Rainer Maria Rilke. Egon zitierte es in einer seiner Vorlesungen und seitdem hatten mich diese Worte nie verlassen. Ich finde, sie passen so gut zu ihm, aber auch zur Robinie selbstverständlich: Es gibt so viele Arten von Bäumen, doch sogar ein einziger Baum ist in seiner Vielfalt betrügend. Wie die Robinie! Wenn ich nicht wüsste, dass sie schon seit mehr als drei Jahren vor dem gleichen Fenster steht, würde ich jetzt, im September, behaupten, sie sei ein einfacher Kirschbaum.
„Gesichter“ sind ja nicht immer „Masken“, wie viele denken, so hat das Zitat für mich nicht unbedingt etwas Negatives an sich. „Gesichter“ sind oft „Facetten“ eines Menschen, die diesen umso spannender machen.
Dieser Gedanke bringt mich zurück in mein erstes Studienjahr 2016. Dann begegnete ich zum ersten Mal dem Herrn Dr. Egon Herz. Er war damals Wirtschafts- und Ökonomielehrer, jedoch war seine berufliche Lage eher lächerlich, denn er wurde im selben Jahr für Steuerhinterziehung vom Staat angeklagt, weshalb er fast jede Woche vors Gericht gehen musste.
„Was für ein Volltrottel!“, dachte ich mir damals, entschuldigt den Ausdruck! Wie kann man ein Fach unterrichten, welches mit Finanzen zu tun hat, dabei noch von seiner eigenen Doktorarbeit im selben Fach prahlen, nur um schließlich vors Gericht gerufen zu werden wegen eines Fehlers, den man glatt hätte vermeiden können?
Das war aber bevor ich ihn persönlich kennenlernte. „Lotte-Blumenschatz!“, stellte ich mich vor, als ich ihm nach einer seiner Vorlesungen eine Frage bezüglich einer Statistik stellen wollte. „Egon Herz!“, antwortete er fast frech, als ob ich ihn nicht kennen würde. Wer geht schon zu einer Vorlesung, ohne den Redner am Namen zu kennen?
Nach unserer Begegnung könnte ich gar nicht genau wiedergeben, was alles noch zwischen uns geschehen war, doch was ich weiß, ist, dass mal dort ein Lächeln, mal dort ein Zwinkern, mal ein netter Blick, eine Hand auf meiner Schulter oder ein Streicheln durch seine pechschwarzen Locken, schließlich zu einer heißen, sozusagen „akademischer Romanze“ führte.
Nach ein paar Wochen wurde die Romanze zu wahrer Liebe und von Liebe kam es dann zur Ehe. Seit einem halben Jahr sind wir jetzt schon verheiratet und selbstverständlich sehe ich ihn jetzt nicht mehr als „Volltrottel“. Vielleicht liegt es auch an unserer gemütlichen Zweisamkeit, die mich so beruhigend wie sie ist, immer auf die passenden Gedanken führt.
Als ich Egon kennenlernte, erfuhr ich auch, was eigentlich hinter der Steuerhinterziehungsanklage stand. Der damalige Direktor der Universität, der große, berühmte, hochverehrte Herr Damask! Dieser Herr trug wirklich eine Maske! Nach außen strahlte er seine Güte aus, seine Intelligenz und seine Weisheit waren unbestreitbar, angeblich. Doch was er mit den Professoren und den Professorinnen an der Universität anstellte, blieb bis zu Egons Gerichturteil ungeklärt.
Herr Damask, wie es sich im Nachhinein herausstellte, verfälschte nämlich Lohnzettel. Nein! Er fabrizierte gleich zwei davon! Zwei für jede Lehrkraft! Auf dem Lohnzettel, den er dem jeweiligen Lehrer gab, stand ein glaubwürdiger, doch geringerer Lohn als erforderlich für die geleistete Arbeit gewesen wäre. Dieser Lohn wurde der Lehrkraft, netto, dann auch ausgezahlt. Jedoch, was niemand vermutet hätte, gab es für jeden Lohnzettel auch eine Fälschung, die einen höheren Geldbeitrag vom Staat zur Auszahlung der Professorinnen und Professoren erforderte. Und die Differenz der beiden Lohnzettel landete natürlich in die Hosentasche des Direktors. Voll müssten die gewesen sein …. überfüllt!
Den Rest des Geschehens kann man sich schon vorstellen. Als das Finanzamt zunächst eine Kontrolle durchführte, stellte man fest, dass Egon, wie auch andere Lehrer, nicht die entsprechenden Steuern für ihr Einkommen gezahlt hatten. Also … das hatten sie schon, nur was sie zu dem Zeitpunkt noch nicht vermuteten, war der reelle Beitrag ihres Lohnes.
So kam es dann zur Anklage und letztendlich stellte sich die Wahrheit bezüglich des Direktors heraus. Wir, also Egon und automatisch auch ich, bekamen sogar eine Entschädigung von Seiten des Staates.
„Gesichter“ können also vieles sein. Egon zeigte mir seine Facetten, der Direktor trug eine Maske. Aber das Gefährliche mit Masken ist immer, dass sie in jedem Augenblick hinunterfallen können. Und was soll dann geschehen? Man steht dann bloß, nackt, ungeschützt und ausgeliefert zu den Füßen anderer, die nun nur das einstige Bild des einen vor sich haben. Doch das einstige Bild ist täuschend! Es entspricht nicht der Wahrheit! Der Herr Damask war kein gütiger, ehrenwerter Mensch; als seine Maske hinunterfiel, blieb er ganz allein, denn niemand konnte ihn erkennen. Er war ein Anderer!
Facetten hingegen sind spannend, sie zeigen, ob ein Mensch genau der Mensch ist, den er behauptet zu sein, unabhängig vom Umfeld, in dem er sich befindet. Egon war Lehrer, Vorbild, Angeklagter, Geliebter, Ehemann, Aufgelöster, einst Kind, Freund, Kollege, Leier und noch so vieles mehr, doch was blieb, waren immer seine Aufrichtigkeit, sein Respekt und sein Mut, Sachen zu erkennen, die für andere unverständlich und unerreichbar sind.
Eines Tages wird auch die Robinie am Fenster der Universität zu einem Ende kommen, sie wird vertrocknen, oder gefällt werden oder zu etwas Neuem wachsen. Vielleicht wird hier irgendwann an Stelle der Universität ein einfaches Familienhaus gebaut werden und vielleicht wird die Robinie dann zu einem Baumhaus; doch ihre Wurzel, ihre Seele und der Duft, den sie einst entfaltete, die werden für immer erkennbar sein, egal welche Form oder Gestalt sie auch nähme.
Schließlich ist es auch mit Menschen so: Gesichter sind leicht zu erkennen, wenn man den Menschen kennt. Doch ob man den Menschen kennt, ist nie sicher. Manchmal hängt es gar nicht davon ab, ob man den Menschen kennt, beziehungsweise ob man all seine Facetten gesehen hat, sondern ob man bereit ist, einen Menschen zu akzeptieren und zu lieben, ohne die Sicherheit zu haben, dass man all seine Gesichter entdeckt hat.
Und du, Egon, du musst wissen: Ich liebe all deine Gesichter! Egal wie viele es auch seien!