„…mit eisernem Willen sich selbst geformt“

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Ausgabe Nr. 2427
 

Zum 100. Todestag des Bischofs Friedrich Müller I.

 

 

Am 25. April 1915, mitten im Ersten Weltkrieg, starb Altbischof D. Dr. Friedrich Müller, doch hing sein Tod keineswegs mit dem Krieg zusammen: er war schon neun Jahre vor seinem Tod auf eigenes Ansuchen hin wegen hochgradiger Schwerhörigkeit emeritiert worden. Weshalb uns das nach 100 Jahren noch interessiert? Zunächst, weil er im Urteil seiner Zeitgenossen eine ungewöhnliche Persönlichkeit war; dann aber auch, weil er im Schatten seines berühmten Vorgängers und seines gleichfalls berühmten Nachfolgers vielfach übersehen wurde. Repräsentation war nicht seine Stärke und deshalb wurde er auch bald vergessen. Dazu kommt, dass er immer wieder mit dem späteren Bischof gleichen  Namens verwechselt wird, den wir zur Unterscheidung Friedrich Müller II. zu nennen pflegen und der mit Friedrich Müller I. nicht anverwandt war.

   Bei der Beerdigung des Altbischofs Friedrich Müller erklangen aus dem Mund seines Amtsnachfolgers Friedrich Teutsch die Worte: „Wie hat er mit eisernem Willen sich selbst geformt, … die Kleinmütigen gestärkt, den Zagenden Mut eingeflößt… Ein Abglanz der ewigen Liebe glühte in seinem Herzen, das nicht nur für die Seinen schlug…“. Aber der Sprecher ließ auch durchblicken, dass diese Liebe „nicht jedem sichtbar entgegen trat.“ Müllers Art galt vielmehr als schroff. Nur wer länger mit ihm zusammengearbeitet hatte, erkannte, dass in seinem Inneren ein Kern lebendiger Nächstenliebe glühte. Wir fragen: Wer war dieser einzigartige und gelegentlich fast sonderbare Mensch?

Friedrich Müller wurde als Kind einer angesehenen Familie in Schäßburg geboren: sein Vater war Senator, sein Großvater Stadtpfarrer. Die Mutter stammte aus der bekannten Familie Misselbacher. Friedrich war der einzige Sohn seiner Eltern, er hatte jüngere Schwestern. In der Familie herrschte ein strenges Bewusstsein für Recht und Tradition, dazu gehörten auch soziale Verantwortung und persönliche Sparsamkeit. Als Fritz zwölf Jahre alt war wünschte er sich einen Rodelschlitten, um wie seine Schulkollegen neben der Schülertreppe den Berg hinab zu fahren, doch sein Vater zog bedenklich die Augenbrauen hoch. Der strenge Großvater aber fragte: „Wann bist du geboren, Junge?“ „Am 15. Mai 1828, Herr Großvater“, war die Antwort. Der Alte griff nach seinem Bambusrohr und bestellte den Jungen für Nachmittag zu sich nach Hause. Als Fritz pünktlich erschien, holte der Großvater seine alte Pelzmütze aus dem Schubladkasten und setzte sie dem Jungen auf. Als er sah, dass sie ihm passte, sagte er: „Für deine Winterausrüstung mag dies vorläufig eine Beisteuer sein.“ Fritz war freudig überrascht: das war ja Großvaters eigene Mütze aus Fuchsfell! Er küsste dem Alten die Hand, dankte und stürmte hinaus. In der Pause, als die andern Jungen mit ihren Schlitten den Schulberg hinunterfuhren, setzte er sich auf die Pelzmütze und rutschte ihnen mit Hurra! hinterher.

Fritz ist erst 17 Jahre alt, als er die Reifeprüfung besteht, danach geht er für ein Jahr als Hauslehrer nach Klausenburg, wo er die größere Stadt kennen lernt und manche Erfahrungen sammelt. Danach bezieht er die Universität in Leipzig, wo er mit bescheidenen Mitteln, aber großem Eifer studiert. Hier erlebt er den Ausbruch der Revolution und geht für ein Sommersemester nach Berlin. Schon im Herbst 1848 wird er als Gymnasiallehrer an die Bergschule in seiner Heimatstadt berufen.  Jetzt steigt er voll ins Leben ein, die politischen Ereignisse und die Arbeit in der Schule nehmen ihn gefangen. Ab 1850 ist im ganzen Habsburgerreich eine Schulreform angeordnet, die in Schäßburg vorbildlich durchgeführt wird, woran Müller wesentlich beteiligt ist. Von neuen didaktischen Methoden hält er aber nicht sehr viel. Durch gut vorbereiteten und lebendigen Vortrag weiß er die Schüler zu fesseln. Die Einführung des Turnunterrichtes ist ihm ein Anliegen. Weiterhin ist ihm auch das sittliche Betragen der Schüler wichtig, denn als Zielpunkt der Gymnasialbildung sieht er die Erziehung eines sittlich-religiösen Charakters an. 

Mit 23 Jahren heiratet Friedrich Müller die tatkräftige Henriette Melas aus Mühlbach; dieser Ehe werden im Lauf der Jahre neun Kinder geschenkt. Das gesegnete Familienleben kennzeichnet sein Wort: „Ohne die Mutter schöpft man die besten Gedanken in ein Sieb.“  – An der Schäßburger Bergschule entsteht eine enge Freundschaft mit Georg Daniel Teutsch, der kurze Zeit Müllers Gymnasiallehrer war und nun sein Schuldirektor ist. Als Teutsch 1863 ins Pfarramt geht, übernimmt Müller die Leitung der Schule. Die Jahre an der Bergschule sind die fruchtbarste Zeit seiner wissenschaftlichen Tätigkeit. Mit jugendlichem Schwung und großem Fleiß erarbeitet er eine Reihe von Studien zur siebenbürgischen Archäologie, zur Baugeschichte von Kirchen und Kirchenburgen, zu Glocken und Goldschmiedearbeiten in Siebenbürgen, zu Hexenprozessen und Hospitälern im Mittelalter. Die hier geleistete Forschungsarbeit, vorort und in Archiven, bildet zum großen Teil den Grund und Ausgangspunkt für spätere Forscher. Einer breiteren Leserschaft wurde lediglich seine Sammlung „Siebenbürgische Sagen“ bekannt. Über sein Werk „Deutsche Sprachdenkmäler in Siebenbürgen“ urteilte Adolf Schullerus später, es sei „lange unbeachtet und nicht in seinem Wert gewürdigt“ worden. Man kann es bedauern, dass Müller niemals dazu kam, seine historischen Erkenntnisse zusammenzufassen. Der Grund dafür sind neue Lebensaufgaben, die sich ihm stellen und seine Zeit und Schaffenskraft voll in Anspruch nehmen.

Als Müller 1869 Pfarrer von Leschkirch wird – er ist 41 Jahre alt – erlebt das Land neuerlich große Umgestaltungen, die nicht nur durch die wirtschaftlichen Entwicklungen und den allgemeinen Fortschritt der Zeit bedingt sind, sondern noch mehr durch den sogenannten „Ausgleich“ zwischen der österreichischen und der ungarischen Reichshälfte, die den Anschluss an Ungarn mit sich bringt und die ungarische Verwaltung. Hinfort tritt neben die Arbeit für Kirche und Schule auch der Kampf um die Erhaltung der völkischen Identität. Bald wird Müller in das Landeskonsistorium gewählt und es gibt kaum ein Problem der Kirche, der Schule und des sächsischen Volkes, an dem Müller nicht aktiv beteiligt ist. Dabei erweist er sich als treuer Anhänger des Bischofs Georg Daniel Teutsch, setzt jedoch andere Akzente und bestimmt somit die Richtung des Ganzen mit. Schon nach fünf Jahren wird er zum Stadtpfarrer von Hermannstadt gewählt und rückt somit auch räumlich näher an den Bischof heran.

Zu der Zeit, da Friedrich Müller das Amt des Stadtpfarrers antrat, hatte das gottesdienstliche Leben der Stadt einen Tiefpunkt erreicht, der sich auch durch die eindrucksvollen Predigten Müllers kaum ändern ließ. Einerseits entwickelte das städtische Bürgertum ein kulturelles Leben, das nicht mehr von der Kirche geprägt war, andererseits brachte die aufkommende Industrie einen Zuzug armer Leute vom Land mit sich, denen die Integration in die neue Umgebung schwer fiel. Müller hatte einen klaren Blick für die sozialen Probleme der Zeit und forderte mit aller Entschiedenheit ein größeres soziales Engagement der Kirche. Dafür brauchte es Geld. Nun lief gerade zu jener Zeit der Prozess um die sogenannte Brukenthalsche Fideikommiss-Stiftung, die ein beträchtliches Kapital umfasste. Ein Großneffe des Gubernators Samuel von Brukenthal hatte ein Testament hinterlassen, dem zufolge im Falle der männliche Stamm der Familie von Brukenthal ausstirbt oder dem evangelischen Bekenntnis Augsburgischer Confession untreu wird, sein Vermögen an die evangelische Kirchengemeinde in Hermannstadt fallen soll. Dieser Fall war eingetreten, als Hermann von Brukenthal im Jahr 1872 starb. Es gab aber noch einen Abkömmling der Familie, Gyula von Brukenthal, der im ungarischen  Adel aufgegangen war und nicht mehr zu unserer Kirche gehörte. Dem Testament zufolge war es eigentlich klar, dass er kein Erbrecht hatte, doch wandte er alle möglichen juristischen Kniffe an, um das Erbrecht der Evangelischen Kirche anzufechten, wobei er die politische Tendenz der Zeit, die Magyarisierung, zu seinen Gunsten auszunützen sich bemühte. Der Prozess dauerte insgesamt elf Jahre und war für das Presbyterium eine Nervensäge. Zeitgenossen urteilten, dass der letztgültige Ausgang zugunsten der evangelischen Kirche in Hermannstadt allein der Gedankenschärfe und Härte des Stadtpfarrers zuzuschreiben sei. Sicher hat ihn dieser Prozess viel Zeit gekostet und seine Nerven belastet.

Der günstige Ausgang des Prozesses ermöglichte es, nach der Anlegung des Stadtparks auf dem Soldisch den Bau des Waisenhauses und der Johanniskirche in Angriff zu nehmen. Dass an dem Neubau bald Schäden auftraten, ist weder dem Stadtpfarrer noch dem Presbyterium anzulasten. Sowohl das Waisenhaus als auch die Johanniskirche waren ein wichtiges Anliegen Müllers. Dazu trat die Gründung der Krankenpflegeanstalt, die ihm ebenfalls ein Herzensanliegen war. Er orientierte sich an dem Diakonissenwesen der evangelischen Kirchen in Deutschland, kam aber zum Schluss, dass eine Diakonissenanstalt nach dem Vorbild von Kaiserswerth oder Neuendettelsau dem Wesen des sächsischen Volkes nicht entspräche. Er befürwortete eine nüchterne Form  der geordneten Krankenpflege. Ob diese Entscheidung richtig war, lässt sich diskutieren, jedenfalls nahm das Presbyterium sie an. Der Stadtpfarrer wandte sich an das Sophienhaus in Weimar und bat um Diakonissen als Instrukteurinnen für die hiesigen Schwestern, doch kam es nicht dazu. Hingegen erklärte sich die Großherzogin Sophie von Sachsen-Weimar bereit, in ihrer Anstalt Lehrschwestern aus Siebenbürgen unentgeltlich auszubilden, was auch geschah. Mitte Mai 1888 konnten die ersten drei Krankenschwestern ihre Arbeit in einem Haus neben dem Bürgerspital aufnehmen. Müller begleitete diese Arbeit nicht nur als Auftraggeber, sondern auch mit Herz und Gemüt, wofür die Erzählungen Zeugnis ablegen, die er in freien Stunden selber schrieb und die den Schwestern zur Herzensbildung dienen sollten. Die Arbeit dieser Schwestern umfasste nicht nur Krankenpflege in Bürgerhäusern, sondern auch unentgeltliche Hilfe für Bedürftige. Die Verbindung zum Sophienhaus blieb weiter bestehen, so dass nach Müllers Tod, das war fast 30 Jahre später, von dort ein Kondolenzbrief eintraf, in dem es hieß: „Ihre Landeskirche betrauert in ihm eine Persönlichkeit, die in ihrer Geschichte weiter leben wird … Sein Leben ist Gottesreichsarbeit gewesen.“

Friedrich Müller bekleidete das Amt des Stadtpfarrers von Hermannstadt neunzehn Jahre lang (1874-1893). Bei seinen Mitarbeitern und Gemeindegliedern galt er als hart in seinen Forderungen, doch vor allem hart gegen sich selbst. Wenn man uns Sachsen vorwirft, dass Demut für uns ein Fremdwort sei, so muss gesagt werden, dass Friedrich Müllers Charakter nicht nur durch strenges Pflichtbewusstsein, sondern gleicherweise auch durch echte Demut gekennzeichnet war. Sowohl im Familienleben als auch im Beruf galt er als äußerst sparsam, jedoch nicht als geizig. – Seit den 1880-er Jahren war er zugleich auch Bischofsvikar. Als solcher hat er die Aufsicht über die Schulen inne gehabt, eine neue Schulreform im ungarischen Staat unseren Verhältnissen angepasst und überwacht und dadurch wesentlich zur Erhaltung unserer Kirchenschulen beigetragen. Als Bischofsvikar hat er auch das Entstehen des Allgemeinen Frauenvereins unserer Kirche veranlasst und begleitet, um die Rolle der Frau in unserer Kirche dadurch zu heben. Nach seinem Tod wurde er als der „Begründer und langjährige Beirat des Vereins“ bezeichnet.

Nach dem Tod des Bischofs Georg Daniel Teutsch wurde Friedrich Müller nahezu einstimmig zu dessen Nachfolger gewählt. In der Rede, die er im Anschluss an die Wahl hielt, sagte er unter anderem: „Ich glaube an die Zukunft und den Fortbestand unserer Landeskirche, weil ich glaube an das Evangelium, von dem der Herr gesagt hat, dass die Pforten der Hölle es nicht überwältigen werden.“ Wir sollten nicht vergessen, dass schon 1876, als der Königsboden aufgelöst wurde, sich in unserem Volk und auch in unserer Kirche eine Untergangsstimmung ausbreitete, gegen die Müller immer wieder zu Felde zog. Mit den eben zitierten Worten signalisierte der neu gewählte Bischof, dass er seine Hoffnung auf die Botschaft des Evangeliums von Jesus Christus gründet. Eine Aussage, die gerade zu jener Zeit keine Selbstverständlichkeit war. In seinem Hirtenbrief des Jahres 1895 hat er diese seine Haltung ausführlich dargelegt. Hier warnte er die Gemeindeglieder vor einem überhand nehmenden Egoismus und hielt ihnen das königliche Priestertum der Gläubigen als Ziel vor Augen. Die Pfarrer mahnte er, mehr als lediglich nüchterne Moral zu lehren, auch nicht an politischen Tagesnachrichten hängen zu bleiben, sondern die biblische Botschaft zu predigen. Das Ziel des Hirtenbriefes war der Aufbau des Gemeindelebens.

Als Müller zum Bischof gewählt wurde, hatte er bereits das 66. Lebensjahr überschritten. Seinem engsten Mitarbeiter, dem Hauptanwalt Karl Fritsch, sagte er: „Ich fühle mich verpflichtet, dem Ruf zu folgen. Freilich würde ich dem Amte besser dienen können, wenn ich um zehn Jahre jünger wäre.“ Diese Äußerung ist nicht als falsche Bescheidenheit zu verstehen, sie entspricht vielmehr der ihm eigenen Sachlichkeit. Was er als Bischof tat, geschah alles, um die ihm noch gewährte Zeit zu nützen. So hat er an dem ersten landekirchlichen Gesangbuch von 1898 wesentlich mitgearbeitet. Vor allem der Gebetsteil wurde in vielen Nächten von ihm zusammengestellt. Und das Erscheinen der Kirchlichen Blätter geht auch auf ihn zurück. Mehr noch: seine Mitarbeiter bezeugen, dass er die ersten Jahrgänge zum großen Teil selbst verfasst hat, und tatsächlich tragen die meisten Predigten und viele Beiträge keine Angabe des Verfassers. Das entspricht seiner Art ebenso, wie die Tatsache, dass er mit 79 Jahren selbst den Antrag stellte, emeritiert zu werden. Sein Nachfolger im Amt wurde Friedrich Teutsch, der Sohn seines Vorgängers Georg Daniel Teutsch. Dieser Friedrich Teutsch schrieb über seinen Vorgänger Friedrich Müller I.:  „Mir ist er Führer und Begleiter durch das Leben gewesen, ein Führer zum Leben im schönsten Sinne.“ Und an anderer Stelle: „…seinesgleichen schenkt das Schicksal einem Volk nicht alle Tage.“

Zuletzt sei noch darauf hingewiesen, dass Friedrich Müller II., einen Monat nachdem er Stadtpfarrer von Hermannstadt geworden war, anlässlich des 100. Geburtstages von Friedrich Müller I. eine eindrucksvolle Gedächtnisfeier veranstaltete, in welcher er dessen Lebenswerk würdigte. Darin sagte er: „Weil er so sehr mit Taten beschäftigt war, machte er auf die, die ihn weniger kannten, oftmals den Eindruck der Härte, und doch ist selten solche Wärme zu finden, wie er sie besaß, solche Gabe der Teilnahme und der Tröstung. Bischof Müller ist der getreue Eckart unseres Volkes gewesen in einer Zeit, wo alle äußeren Stützen zu zerbrechen schienen…“

Mit diesem Wort des späteren Bischofs über den früheren Bischof gleichen Namens dürfen wir schließen.               

Wolfgang H. REHNER

 

Dieses von Carl Dörschlag (1832-1917) gemalte Bildnis von Friedrich Müller I. befindet sich in der sogenannten Bischofsloge (Porträts der Bischöfe der Evangelischen Kirche A. B. in Rumänien) im Festsaal des Bischofspalais.                   

Reproduktion: Fred NUSS

 

 

Veröffentlicht in Aktuelle Ausgabe, Persönlichkeiten.