Vom Zauber leiser Suchtöne

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Gedanken zum Gedichtband  von Dietfried Zink /Von Gerhard KONNERTH

Ausgabe Nr. 2822

Dietfried Zink (rechts) und seine Gattin, die Autorin Dagmar Dusil Zink, stellten den neuen Gedichtband gemeinsam bei den 33. Deutschen Literaturtagen in Reschitza am 7. Mai d. J. vor.                   Foto: Beatrice UNGAR

Als „poetische Bilanz der vorletzten Stunde“ wird dem interessierten Leser der Gedichtband ,,Der leise Suchton des kreisenden Vogels“ des dichtenden, 1943 in Hermannstadt geborenen und heute in der Bundesrepublik Deutschland lebenden Deutschlehrers Dietfried Zink vorgestellt, der in dieser Zeit schlimmster Krisen im verdienstvollen Pop Verlag Ludwigsburg, in der Reihe Lyrik seine durch „Schreiben konstituierte Identität“ (als Band 182, 1. Auflage 2023) herausgegeben hat.

Nun ist es gewiss so, dass wir in unserer Vorstellung und in den zu erwartenden Abläufen diese vorletzten Stunden nicht mit einer Zeit verbinden, die „verschwunden und versunken“ (G. A. Bürger) ist. Und man muss sich sicherlich nicht alt fühlen und keineswegs auch nicht besorgt sein, wenn man hier zunächst zu glauben geneigt ist, dass es sich womöglich um die innere Einstellung eines Dichters, vermutlich gar um seine Endzeit handeln könne. Vielmehr möchte man sich beim Gebrauch der Worte „vorletzte Stunden“ – ich habe sie von Walter Fromm übernommen, aus seinem auf bemerkenswertem Wissen und fundierter Gelehrsamkeit aufgebauten Nachwort zum Gedichtband –, man möchte sich bei diesen Worten vielmehr keinem anderen als Friedrich Nietzsche anschließen, von dem folgendes Nachsinnen über die Vergänglichkeit überliefert ist: „Die Zeit ist wie die Rose des Frühlings…“. Ein Nachsinnen, dem er – sicherlich als Botschaft subjektiver Begegnung und Wahrnehmungen – die Lebensweisheit hinzugefügt hat (er muss es ja gewusst haben!): „und die Lust wie der Schaum des Baches.“ So dass man eher dazu neigt, den Zauber dieser leisen Suchtöne der kreisenden Vögel als ein stilles Selbstgespräch mit „des Sommers letzten Rosen“ wirken zu lassen.

Liest man nun zunächst den Paratext zu „dieser Zusammenstellung von Gedichten“ aus allen Schaffensperioden des Germanisten und dichtenden Deutschlehrers Dietfried Zink aus Siebenbürgen, so wird einem bedeutet, dass Dietfried Zink gerade als Germanist und Deutschlehrer schon in seiner Sprachheimat den „Königsweg zum literarischen Schaffen“ (Walter Fromm) gefunden hat. Und dass er in seiner Sprachheimat – fügen wir hinzu – auf diesem „Königsweg“ sicherlich auch die Widerhallräume gefunden hat, die seine Dichtung damals eingebettet haben in den allgemeinen Text der in seiner Sprachheimat Dichtenden und Wirkenden, bis seine „Leiden reif und sehend geworden sind“. So Rose Ausländer. Denn – auch dies nach Rose Ausländer  –  der Dichter darf alles als Material für die eigene Dichtung verwenden.

Walter Fromm, vor dem und vor dessen Beurteilung der ästhetischen Qualität der Gedichte dieser Zusammenfassung ich mich hiermit respektvoll verneige, nennt diese Fülle von Anschauungen und von Gefühlen, die dem ehemals in Siebenbürgen um seine Selbstbehauptung ringenden Dietfried Zink in „sechs Jahrzehnten poetischer Artikulationsversuche“ gelungen ist, nennt diese Fülle somit ein „beharrliches Anschreiben gegen die Vergangenheit“. Das sind Worte und Gedanken, die schließen lassen, dass auf Dietfried Zink bereits bei diesen ersten „Artikulationsversuchen“ schöpferische „Wege zugestürzt sind“ (Rose Ausländer) und dass er vermutlich damals schon, hier in Siebenbürgen, das Unmögliche von sich gefordert hat. Das „Vollmaß des Erlebens“ jedoch ist allerdings viel später, erst in der Bundesrepublik, in einem „Anderssein“ in ihn „eingeströmt“ (Rose Ausländer) und lässt somit folgendes Zeitbild erschließen: In der alten Heimat ist bei Dietfried Zink durch ein Selbstgefühl zunächst nur angedeutet worden, was Jean Paul Sartre als Heimweh nach Zukunft beschrieben hat. Und erst Jahre später wurde dies „gesetzhaft Menschliche“ (Fritz Martini) im fremden „Anderssein“ durch die Zäsur an einem Winterabend im Dezember/in der Kreuzkapelle brannte das ewige Lichtzu einer anderen Daseinserfahrung, die der Dichter in die Metapher der Heimat in der Heimatlosigkeit (zitiert aus dem Gedicht Teil einer Biographie) gebracht hat. Und um dem Geheimnisvollen keinen Raum zu lassen, erinnern wir hier an den Prediger Salomo, bei dem es heißt: „Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde“; und weiterhin verkündet der Prediger: „suchen hat seine Zeit“, „reden hat seine Zeit“. (Prediger 3, 1.6-7) Es erfüllte sich somit eine Zeit des Suchens und des Redens in der Stimmungstiefe der Metaphern; es geschieht eine „Zeit, die aus den Früchten fiel“ (Dietfried Zink in Teil einer Biographie). Und wir vermeinen, diese Zeit auf dem „göttlichen Urgrund“ jener Schrift deuten zu können, die alle „irdische Wirklichkeit“ (Fritz Martini) transzendiert.

Dietfried Zink: Der leise Suchton des kreisenden Vogels. Gedichte. Pop Verlag Ludwigsburg, 2023, Reihe LYRIK, Band 182, 137 Seiten, ISBN: 978-3-86356-376-9. 16, 50 Euro/82 Lei.
In Hermannstadt liegt das Buch in dem Erasmus-Büchercafé und in der Schiller-Buchhandlung auf.

Zweifellos gilt, dass Dietfried Zink das Suchen nach seiner Lebenswelt, nach den Freuden und Anregungen und ebenso nach den Bedrängnissen und Tiefen des Lebens nie aufgegeben hat. Und ich meine damit im Grunde das Suchen nach der Wahrheit, nach der zu erkennenden und frei machenden Wahrheit (Johannes 8,32), und dies im Gewebe der Worte und der Gedanken, der Bilder und der Klänge auch in der Lyrik. Wo der Dichter doch der Versuchung erliegen kann, durch die Kühnheit der Metapher in der Wahrheitsvielfalt die Wahrheit nur für sich zu finden. Dies zunächst wohl in den Anfängen, als Dietfried Zink die Schlussfolgerung gezogen haben mag, dass er sich nur auf sich selbst verlassen könne, wenn ihm damals auch wichtige Erfahrungen seiner Generation, wie Gemeinschaftssinn, gesellschaftliches Bewusstsein und Eigenverantwortung, wohl nicht zur Gänze gefehlt haben mochten. Im Unterschied zu der Offenlegung von anderen, von späteren Augenblicken des Lebens, in denen das schöpferische Leben sich zu schwarzer Leere verdichtet und die Geschehnisse des Lebens keine lebendigen Schwingungen mehr reflektieren, sondern auf der Harfe des Gewissens als gefrorene Klänge auftauen und zum Oratorium anwachsen. Dietfried Zink mag den einen oder den anderen der Leser mit diesem Gedicht (,,Harfe des Gewissens“) dazu verleiten, zu meinen, dass in diesem Andachtsraum der Gedanken und Gefühle das Wort aufhören könne und durch andere, gleichermaßen gewaltige, befreiende Mittel der Kunst zu ersetzen sei. Heißt es doch bei Yehudi Menuhin: „Musik beginnt tatsächlich, wo das Wort endet.“ Und an anderer Stelle: „Des Menschen letzter Sprung auf dem Weg zu Gott geschieht durch die Musik; sein leidenschaftlicher Überschwang wird letztlich durch Musik ausgelöst, vom Trinklied bis zum Tanz“ (Yehudi Menuhin).

Vermuten lässt sich jedoch, dass sich Dietfried Zink schon hier, in der siebenbürgisch-sächsischen Heimat, reinen Sinnes und reinen Gewissens, selbst „zum Vorbild guter Werke, mit unverfälschter Lehre, mit Ehrbarkeit, mit heilsamem und untadeligem Wort“ (Titus 2,7-8) gemacht habe. Heißt es doch in der Offenbarung des Johannes (21,5-6): „Schreibe, denn diese Worte sind wahrhaftig und gewiss!“ Und ebenfalls an dieser Stelle heißt es: „Ich will dem Durstigen geben von der Quelle des lebendigen Wassers umsonst.“

Mit diesen (und anderen) Worten der Schrift gestatte ich mir, den Beitrag des dichtenden Siebenbürgers zur Deutung der hier und anderswo erlebten Wahrheit – durch Worte und Bilder – zu sublimieren. Und, diesem Gedankengang gleichermaßen zugewandt, erlaube ich mir, durch die Worte der Schrift sein Weltbild zu überhöhen, das er als begründete Wahrheit – an der alle Anteil haben sollen – durch die Metapher als „höchste dichterische Aussage“ künstlerisch verfeinert hat. Eine Offenlegung somit, die Teil von ihm selbst geworden ist (Rose Ausländer), allerdings nicht im Sinne einer mystischen Religiosität oder der Vision eines „ewigen Willensgeistes“. Wenn er auch im Gedicht ,,Gebet“, von innerlichem Glühen durchdrungen, die Glaubensgesinnung und den Wunsch entfaltet, in den göttlichen Kosmos einbezogen zu werden: Von deiner Welt, o Gott, / schenk mir ein Tausendstel, / ein Hundertstel von deinem Geist, / und lehr mich formen / aus dem Nichts den Atemzug, / und zeige mir, / wie man so richtig leben muss / und führe meine ungeschickte Hand / über unbebautes Land, / tropf mir in meinen Blick ein bisschen Schärfe / und in meine Seele die Gelassenheit, / tauch meine Füße in den Schritt der Zeit / und verzeih mir meine Überheblichkeit.

Von einem solchen Bekenntnis durchdrungen, klingen in seiner Dichtung Variationen auf ein Thema so eindringlich auf, als ob die ganze Welt sich im Brennpunkt eines einzelnen zusammenzöge, physisch und geistig: I. 1. Ich habe gedacht und geglüht / im Frühling, / wenn alles erblüht. / 2. Ich habe gelacht und geweint / im Sommer, / wenn überall die Sonne scheint. / 3. Ich hab gedroht und gefleht / im Herbst, / wenn alles vergeht. / 4. Ich habe gelitten und geirrt / im Winter, / wenn der Frost klirrt. Und auch in der Selbstbeobachtung der folgenden Bilder: Du hauchst den Atem / des Alltags, / der in allen Steinen ruht –, zeigt sich eine in die umwolkten / Gefühlstrümmer hinausgezogene Trostlosigkeit der Lebenserfahrung: … zum tödlichen Wagnis / der Wille, hinaus / zum reifenden Allein-Sein. Es sind Bilder, die die „Hilflosigkeit“ und das „Ausgeliefertsein“ (Walter Fromm) und das Leid zu bewältigen suchen; und der Leser wird durch diese Bilder aufgefordert zu prüfen, ob diese Metapher des Leids und des Hasses, des Schmerzes und der Ausweglosigkeit nicht bereits in anderen Gedichten präfiguriert ist. Etwa im Gedicht ,,Tragfläche“: Das geborene Sterben / rinnt sanft / über alles von Zeiten Geschliffene. / Schleppt der Unwissende / seinen müden Geist/ zum weisen Mimir / wie eine Kinderzunge / Sprachlaute an tote Dinge trägt. Oder im Gedicht ,,In mir“, aus dem der Traum nach Sehnsucht und der Schauder der Leere und der Entgrenzung sprechen: Auf gläserner Sehnsucht / liege ich, / ausgestreckt wie ein Fakir. / Nun komm, / schnüre mir / mit deiner Schleife Hass / die Augen zu! Es ist, als ob Liebe als innerer Frieden und als stilles Glück so fern, so weltweit wie nur möglich sei. Oder nur als seelische Erfahrung Erfüllung finden könne. So im Gedicht ,,Ich suche dich“: Ich suche dich / und werd‘ dich finden / und frage mich, / wie wollen wir uns binden, / wie eine Kette fest und heiß / und uns vertrauen blind / oder so, dass nur die Seele weiß / wie nahe wir uns sind.

Die intuitive Übertragung einer solchen Lebenserfahrung des Dichters auf die Leser, zu der auch das Zweifelsgeschehen der Liebe gehört, hat für das Erleben und das Zusammenleben mit den Lesern eine bedeutende Rolle. Man kann in solchen Fällen von Resonanzphänomenen sprechen, ohne die die Einstellung und die Erwartungen, die Intuition und Empathie der Leser undenkbar wären. Tritt nun in den Wahrnehmungshorizont der Leser ein durch eine Metapher geschaffenes Bild, so erzeugt dies bei den Lesern einen Widerhall, ein Verhalten. Und ruft zunächst Emotionen und Gefühle hervor, die ihren Ausdruck in einem Gewebe von Worten und Gedanken finden können – oder auch nicht.

Ob es nun die sprachlichen Bilder eines Gedichts sind oder die Klanggestalt eines lyrischen Kunstwerks, ihre Wirkung auf die Leser wird vom Erwartungs- und vom Verständnishorizont sowie vom Bildungshorizont der Leser bestimmt. So die Fachliteratur, die in diesem Zusammenhang von der kommunikativen Aneignung von Literatur spricht.

Beziehen wir nun diese Begriffe auf den Wahrnehmungshorizont der Leser wie auch auf ihr Empfindungsvermögen, das von den künstlerischen Bildern der Gedichte des Bandes ,,Der leise Suchton des kreisenden Vogels“ ausgerichtet wird, so ist zweifelsohne festzustellen, dass die Metaphern der Gedichte jeweils von der „Verbindung von Erkennbarem und Vorhersagbarem“, von „Überraschendem“ und mitunter sogar „Unberechenbarem“ bestimmt sind (Yehudi Menuhin). Zweifellos jedoch von menschlichen, von schöpferischen Impulsen, die die ganze Dichtung des Germanisten und Deutschlehrers Dietfried Zink durchdringen.

Diese schöpferischen Impulse sind ein Hoffnungsschimmer in einer „in Nachtgesang und Schattenraum“ „gehüllten“ Zeit (Rose Ausländer), in der sich der Humanist Dietfried Zink an unsere Kräfte wendet, unsere Hand / der Harmlosigkeit / als Schutz über die Weisheit zu halten und den Trunk / der Vernunft…zu trinken. Dieser Hoffnungsschimmer wird offenbar im Gedicht ,,Überzeugung“, das auch an einen Ausweg aus den Tränen der Trostlosigkeit mahnt: Es ist der Lichtstrahl der Seele … aus einsamer Nacht, einbezogen „in das Ringen des göttlichen Kosmos“ (Fritz Martini) und emporsteigend in der Erlösung: „Gott ist selber vieltausendmal / an alle Straßen gestellt“ (Rainer Maria Rilke).

Veröffentlicht in Literatur, Aktuelle Ausgabe.