„Allein unter Urzeln“

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Ausgabe Nr. 2416
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Wie ein Bayer den diesjährigen Urzellauf in Agnetheln erlebte

 

Am 1. Februar war es mal wieder soweit: Die 2006 wiedererweckten Urzeln machten die Straßen Agnethelns (un)sicher. Als der vor zwei Wochen aus Bayern angereiste neue Praktikant der Hermannstädter Zeitung von dieser lärmenden Horde von seltsamen Zottelwesen hörte, welche angeblich einen alten Brauch ausübten, ließ er es sich nicht nehmen, diesem Spektakel persönlich beizuwohnen. Folgende Zeilen berichten von seinem Tag im Außendienst bei den Agnethler Urzeln, an dessen Ende er sich sogar selbst fast als ein solcher fühlte.

„So ein Wahnsinn! Warum schickst du mich in die Hölle?“ ertönte es zu Beginn des Urzelballes vom vergangenen Sonntag aus den Lautsprecherboxen des großen Festsaals im Herzen Agnethelns. Und einige der an meinem Tisch sitzenden Urzeln,  welche mittlerweile ihre zotteligen Kostüme abgelegt hatten, stimmten mit ein: „Hölle! Hölle! Hölle!“.

Doch die „Hölle“ musste keiner der über 200 Urzeln und der zahlreichen Schaulustigen an diesem besonderen Tage – dem Tag des Urzellaufs – in Agnetheln durchmachen. Die Urzeln nicht, solange sie nicht ein Übermaß an Wein oder Schnaps zu sich nahmen. Und die „Zivilbevölkerung“ auch nicht – obgleich so manchem Zuschauer von den wild um sich peitschenden, mit ihren riesigen Kuhglocken scheppernden Urzeln doch gehörig Respekt eingeflößt wurde. So war keiner gegen eine Attacke der Zottelwesen gefeit – welchen es oftmals gelang, den meist vor ihnen flüchtenden Kindern und Frauen mit ihrer Peitsche einzufangen. Auf den Schrecken, denen diesen so eingejagt wurde, folgte dann aber ein Akt der Wiedergutmachung in Gestalt eines wohlschmeckenden Urzelkrapfens. Denn der Urzelbrauch sollte ja nur an die Legende von der mutigen Ursula erinnern, welche sich vor mehreren Jahrhunderten als zotteliges Ungetüm verkleidete und – der Sage nach – die damals Agnetheln belagernden Türken dermaßen erschreckte, dass diese das Weite suchten.  Heutzutage wollen die Urzeln natürlich – mit der Ausnahme manch böser Geister, die es zu verscheuchen gilt – keinen aus der Kleinstadt im Harbachtal fortjagen. Im Gegenteil: Gerade aufgrund des Urzelbrauchs kamen dieser Tage viele mittlerweile im Ausland lebende Agnethler in ihre Heimat zurück. So ans Herz gewachsen ist ihnen diese vor neun Jahren von einem rumänischen Deutschlehrer wiederbelebte Tradition. 

Auch mich hielt – trotz des ohrenbetäubenden Peitschen- und Glockenlärms – nichts davon ab, auf Einladung einer Urzelgruppe, einer sogenannten „Parte“, mit 42 dieser seltsamen Wesen nach der großen Parade durch Agnetheln zu ziehen. Dabei suchten wir die Häuser – neun an der Zahl – von Mitgliedern der Parte auf, wo uns selbstgebackene Krapfen (sowie oft auch andere Köstlichkeiten) und feiner selbstgemachter Wein als auch teils Schnaps (sowie natürlich alkoholfreie Getränke) kredenzt wurden. Bevor die Urzeln die Häuser bzw. deren Hof betraten, hielten sie nochmals inne und ließen ihre Peitschen besonders laut knallen – damit gänzlich gewährleistet wurde, dass auch der letzte böse Geist, der dort vielleicht noch sein Unwesen treiben hätte können, verschwindet. Sehr unwahrscheinlich, dass ein solcher nach der Parade vom Vormittag, auf welcher 220 Urzeln neben den Traditionsfiguren der Zünfte aufmarschierten, noch in Agnetheln ausharrte. Aber den Urzeln machte es sichtlich Spaß, auf Nummer sicher zu gehen. An der Station angekommen, legten die Urzeln dann ihre Masken ab und stärkten sich für die weitere Route, welche die Truppe von der Kirchenseite vorbei an der aufgelassenen Schuhfabrik bis hinauf zu den Blockbauten am Hügel und wieder runter und hinauf und nochmals runter führte – sodass insgesamt etliche Kilometer zurückgelegt wurden und jeder Winkel des ehemaligen Weberstädtchen was vom Höllenlärm der Urzel zu hören bekam. Nach rund einer Viertelstunde Aufenthalt an der jeweiligen Station wurde dann gemeinsam das Siebenbürgen-Lied angestimmt, welches auch die Mehrheit derjenigen Rumänen, welche kein Deutsch sprechen können, auswendig konnte. Überhaupt wird der Brauch „eins zu eins wie früher“ umgesetzt, so berichtet mir ein ausgewanderter Siebenbürger Sachse. Dies wurde mir auch offenbar, als mir auf dem Weg zur vorletzten Station – dieses Mal eine Garage – ein junger Hermannstädter erzählte, wie er dazukam, in Agnetheln als Urzel mitzulaufen – und dabei sofort von einem älteren Urzel auf Rumänisch gemaßregelt wurde, dass er auf der Straße auch beim Reden die Maske niemals hochstülpen dürfe.  Noch im Jahre 2015 liegt den Urzeln also viel an der gewissenhaften Ausübung ihres Brauchs. So wurde am Ende auch, als die Urzeln, begleitet von einem leichten Schneefall, ihre Peitschen nochmals ganz ausgiebig knallen ließen, auf die Urzel-Vorschrift hingewiesen: „Ab sechs Uhr darf nicht mehr gepeitscht werden,  keine Glocke mehr scheppern, nichts“ – worauf postwendend angemerkt wurde: „Aber jetzt haben wir noch eine Minute!“. Und so erschallte zum letzten Mal in diesem Jahr der ohrenbetäubende Urzelkrach. Nachdem dann die letzte Kuhglocke verstummte, legten die Urzeln daheim ihre Zottelkostüme ab und machten sich auf den Weg zum Urzelball, auf welchem sie unermüdlich bis in die Morgenstunden zu deutschen Schlagern, rumänischer „muzică populară“ (Volksmusik) und internationalem Pop über das Tanzparkett fegten.

Benjamin ROSSMANN

 

Foto 1: Urzeln als Kinderschreck: Am vergangenen Sonntag liefen mehr als 200 Urzeln durch Agnetheln und verteilten Krapfen. Unser Bild: Dies Mädchen versteckt sich trotzdem vor der Zottelgestalt hinter der Mutter.                        

 

Foto 2: Rösschen (Schnederrisken) und Mummerl der früheren Schneiderzunft gehören seit eh und je zu den Symbolfiguren der Urzelparade, die auch ein spezielles Programm vorführen: den Rösschentanz. 

Fotos: der Verfasser

 

 

 

Veröffentlicht in Aktuelle Ausgabe, Gesellschaft.