Ein trauriges Lied für zwei Stimmen

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Zum zweisprachigen Gedichtband von Dagmar Dusil und Ioana Ieronim

Ausgabe Nr. 2746

Dagmar Dusil/Ioana Ieronim. Beleuchtete Busse in denen keiner saß/Şi trec autobuze goale. Gedichte. Reihe Lyrik Bd. 164, Pop-Verlag Ludwigsburg, 2021, 124  Seiten,  ISBN 978-3-86356-339-4.

Das Jahr 2021 ist eine Verlängerung des Jahres 2020. Zuweilen ersetzt 2021 das Jahr 2020. Das Jahr 2021 atmet scheu für das Jahr 2020. Diese Anomalien hinterlassen Spuren. Sie haben uns alle gezwungen, in den Spiegel der Einsamkeit, der Zerbrechlichkeit unseres Wesen zu blicken. Sie haben uns gezeigt, dass die Welt, wie sie gedacht und erfasst wurde, sich verändern kann. Uns ohne Vorwarnung verändern kann. Die fragilisierendsten Gefühle wie Einsamkeit, Angst, Unsicherheit, Perspektivlosigkeit, können auf dem gesamten Globus aktiviert werden. Gleichzeitig und mit der gleichen Intensität, ohne Rücksicht auf soziale Kategorien. Die Seele des Menschen leidet. Sein Seufzen ertönt in unterschiedlichen Tonarten, verschiedenen Lautstärken und Umgebungen, während der gesamten Dauer der Pandemie. Ein Echo dieses langhingezogenen Seufzers ist auch der zweisprachige Gedichtband der Autorinnen Dagmar Dusil und Ioana Ieronim, „Beleuchtete Busse in denen keiner saß/Şi trec autobuzele goale”, der mit Scherenschnitten von Gerhild Wächter illustriert und mit einem Nachwort von Emil Hurezeanu versehen in diesem Jahr im Pop-Verlag  Ludwigburg erschienen ist.

Das Buch wurde erstmals im Rahmen der 31. Deutschen Literaturtage in Reschitza im Beisein der einen Autorin, Dagmar Dusil, und des Verlegers Traian Pop Traian vorgestellt. Die von Dagmar Dusil in deutscher und von Ioana Ieronim in rumänischer Sprache verfassten bzw. von den beiden Autorinnen in ihre jeweilige Muttersprache übersetzen Gedichte scheinen aus ein und derselben Feder zu stammen. Ein Beweis dafür, dass die in der Pandemie entstandenen und gelebten Gefühle allgemein menschliche sind.

Die Dichterinnen atmen eine entleerte Stimmung, es fahren ,,leere Busse vorbei”, in einer ,,aus den Fugen“ geratenen Welt. Das Gedicht ,,Resümee 2020”( S. 8-11) von Dagmar Dusil erfasst verknappt die von den Zeitgenossen nicht erkannten Zeichen der Zeit: ,,Wir (…) waren blind“, ,,doch waren wir taub“, ,,Wir glaubten Glückskinder zu sein“ usw. Die Menschheit hatte andere Hoffnungen in das Jahr mit ,,der harmonischen Zahlenfolge 2020″ gesetzt. Doch dieses ,,entblößte“ die Menschen ,,bis auf die Haut,/die Seele vernarbt unter den Blicken von Facebook & Co..“

Die in die USA ausgewanderte gebürtige Burzenländerin Ioana Ieronim teilt dieselben Sorgen und fragt sich: ,,Was haben wir beschlossen, was haben wir uns versprochen zu Jahresbeginn?“ (S. 14). Sie antwortet auch: ,,Als wir stehen blieben – taten wir es nicht freiwillig./In der klaren Luft waren wir gezwungen uns ins Gesicht zu sehen/ein endloser Tag, die längste Nacht“, ,,Zufällig nimmt der Tod uns Maß.“

Dann scheint sich ein Fenster zu öffnen, durch das die beiden Autorinnen die unglaubliche Stimmung in der Stadt betrachten, fühlen, aufzeichnen: ,,Ich wanderte allein durch/die Welten/atmete ein und atmete aus./Der Engel, er trug eine Krone.“ (Dagmar Dusil, S. 19) ,,Die Stadt in der Schwebe. Angehaltene Zeit./(…) So viel Stille… mir scheint als höre ich/wie tektonische Platten im Warten zögern“ (Ioana Ieronim, S. 22). Es folgt Aufbegehren – ,,Menschenmassen skandieren: ‚Gerechtigkeit! Gerechtigkeit!“ – und zum Schluss heißt es: ,,Der Bildschirm wird schwarz./Schalt‘ aus./Start‘ neu.“ (Ieronim, S. 30) Alles begann an jenem ,,Märzmorgen 2020″: ,,Die Sichel des Mondes/mähte Wolken am Himmel/der von Kondensstreifen frei./Die Straßen gepflastert/mit Stillsein./(…) Ungesichert fiel die/Nacht zurück in den Zufall.“ (Dusil, S. 35)

Ioana Ieronim versucht sich an einem ,,Zauberspruch des Jahres:   ,,2020 2020/aus dem Becher gewürfeltes Jahr/(…)Spieglein, Spieglein an der Wand/beschlagen von Krankheit, von Tod/vom bitteren Frühlingstod,/die Gefahr die vereinte/(doch nicht wie von uns erträumt)/(…) Jahr der Gnade 2020 2020/du hältst uns den Spiegel vor/und was zeigst du uns?“ (S. 38)

Aus der Ferne antwortet die gebürtige Hermannstädterin Dagmar Dusil: ,,Quarantäne. Bamberg“, ,,Auf den Straßen hauste Ruhe./Ein Hund verlor seinen Weg/beleuchtete Busse (…) /in denen keiner saß“ (S. 43) Ioana Ieronim bestätigt: ,,Quarantäne. Washington“, ,,Auch in dieser Stadt fahren leere Busse/ (…) im Rhythmus einer Einladung zum künftigen Leben.“ (S. 46)

In „Frühlingskalt” betrachtet sich Dagmar Dusil im Spiegel und ,,Auf stummen Worten flieht der Sinn/vor der Gefahr, die unsichtbar/in allem lauert. “ (S. 51)

Ioana Ieronim ermutigt sich: ,,Hab‘ keine Angst“: ,,Du kannst das Haus verlassen/die Straße ist von Gefahren frei/die Straße ist leer//frei von Todesgefahr/von Leben entleert.“ (S. 54)

Dagmar Dusil meditiert ,,Im Mondlicht“: ,,Berührt vom Unsichtbaren der Wirklichkeit/findet die Sehnsucht Zuflucht/in der Kathedrale des Herzens“./Maskiert fährt die Angst Karussell“, ,,Der kalte Hauch des Todes/erwärmt sich am Atem der Hoffnung“ (S. 59).

Ioana Ieronim stellt fest, wie ,,Fern doch nicht fern genug“ der ,,Wildtiermarkt“ ist, ,,wenn die Meridiane sich verflechten, sich verheddern/und auch der liebe Gott sie nicht mehr trennt“ (S. 62). In ,,September 2020″ meint Dagmar Dusil, dass keine Veränderung der Lage in Sicht ist. Die Krankheitsmale zeichnen sich  auch in der Natur und in den Menschen ab: vertrocknete Blätter, Menschen mit Masken, Umarmungen in Blicken, unsichere Schritte. Müde und scheinbar ,,kleiner“ atme sie ,,als ob es kein Morgen gäbe“ (S. 67).

In ,,Die Geschwindigkeit des Augenblicks“ spricht Ioana Ieronim das Urteil aus: ,,Unsere Zeit mit beschleunigter Geschwindigkeit/lässt uns Tag für Tag zu Fremden werden.“ (S. 70)

Was ist zu tun? Dagmar Dusil bekennt: ,,Ich habe das Zimmer zur Heimat gemacht (…) Ich habe die Heimat auf der Zunge gespürt (…) Ich habe die Lieder der Heimat gehört (…) Ich habe das Zimmer zur Heimat gemacht/und die Einsamkeit zu meinem Gefährten.“ (S. 75)

Ioana Ieronim blickt in den tiefen Spiegel der Zeit und stellt fest: ,,Und wenn das Jahrhundert nicht für alle gleichzeitig endet/(…)wir führten ein süßes Leben von heute auf morgen“, weil wir mit dem Leben bezahlen müssen (S. 79). Dagmar Dusil ergänzt sie: ,,Wir leben im Abschied/in der Vorläufigkeit des Seins/wir leben im leisen Tod/des Augenblicks“ (S. 83).

In dem Gedicht ,,Birnen im Januar“ bewundert Ioana Ieronim den Widerstand, den die reife Frucht dem Wind geleistet hat, ,,der durch die Äste peitschte“ und äußert die Hoffnung: ,,Möge die Zeit der Erneuerung uns die Augen öffnen“ (S. 88).

,,Im Jahr II nach Corona“ ist die Lage unverändert. Dagmar Dusil stellt fest: ,,Der Tod donnert lautlos durch den Tag“, ,,Der Atem gefiltert durch Masken/ich berühre deine Hand im Schlaf.“ (S. 93)

Und doch, schreibt Ioana Ieronim, obwohl man gewusst habe, dass ,,dieser Zustand von langer Dauer sein wird“: ,,Heute haben wir Impfstoff. Heute am 30. Januar 2021 habe ich erfahren, dass das Virus/und der Impfstoff einen Hindernislauf austragen/ohne Ziellinie“ (S. 96). Dagmar Dusil tröstet sich und uns: ,,Lass es geschehen/das Werden, Vergehen/lass es geschehen“, wie in der alten  Formel ,,Panta rhei“ (S. 100).

Das Schlussgedicht von Ioana Ieronim ,,Sei gegrüßt zur Zoom-Stunde“, fasst dieses traurige Lied für zwei Stimmen zusammen: ,,Wir haben in den Abgrund geblickt und/seinen Atem gespürt. Wir umklammerten/eine Handvoll Worte – ein Gedicht/einen Zauberspruch/einen Zauberspruch um das Schließen des Tores/zu verhindern“ (…) wir leben in schwebender Zeit, gestohlener Zeit“ (S. 104-105).

In seinem Nachwort erklärt Emil Hurezeanu, ein Freund der beiden Autorinnen, deren tiefempfundene Gefühle: ,,Desgleichen haben sie beide und jede für sich, wie wir alle, das unmittelbare vorpandemische, vorformende Universum verloren, in dem sie noch ohne ein tödliches Risiko träumten, dachten und schrieben.“

Wir alle erleben, bewusst oder unbewusst, derzeit eine ,,schwebende Zeit“. Die beiden Dichterinnen jedoch erleben diese besondere Zeit durch ihre Poesie akuter.

Ana KREMM

Deutsche Fassung: Beatrice UNGAR

Veröffentlicht in Literatur, Aktuelle Ausgabe.