„Solange ich nüchtern bin, trinke ich nicht“

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Ausgabe Nr. 2447
 

Gespräch mit dem ehrenamtlichen Suchthelfer Walter Beier

 „Nehmt einander an, wie Christus euch angenommen hat zu Gottes Lob.“ Die Jahreslosung 2015 aus dem Römerbrief ist auch die Losung, unter der das Blaue Kreuz in Deutschland und seit 1999 auch das in Rumänien in der Suchthilfe aktiv ist.  Der frühere Landesvorsitzende und derzeitige Ehrenvorsitzende des Blauen Kreuzes in Nordrheinwestfalen, der Suchthelfer Walter Beier, besuchte vor kurzem die Redaktion der Hermannstädter Zeitung und erzählte von seinem Engagement für das Blaue Kreuz Rumänien. 2001 war er zum ersten Mal in  Rumänien und traf in Kleinscheuern den Leiter des Nazareth-Hauses, Dr. Holger Lux. Seither kommt er regelmäßig nach Kleinscheuern und inzwischen unterstützt er auch das Haus der Hoffnung in Schellenberg, wo suchtkranke Frauen betreut werden. Walter Beier gewährte der HZ-Chefredakteurin Beatrice U n g a r folgendes Interview.

 

Wie kam es zu Ihrem Engagement in Rumänien?

2001 war ich zum ersten Mal da und nachdem ich wieder daheim war, hat mich das alles nicht mehr losgelassen. Ab 2002 komme ich regelmäßig, halte Vorträge, sammle Spenden und kaufe vor Ort ein, was in Kleinscheuern und in Schellenberg gebraucht wird.

Wie wird man Suchthelfer?

Das wird ehrenamtlich gemacht, nach einer Ausbildung. Unser Verein und unser Landesverband bieten Seminare an und Berufshelfer bilden die Ehrenamtlichen aus. Das läuft über zwei Jahre an acht Wochenenden. Das meiste lernt man aber durch die Praxis, wenn z. B. jemand zu mir kommt und sagt: „Ich brauche Hilfe". Dann biete ich Hilfe an, durch Gespräche, durch Begleitung. Das habe ich 35 Jahre lang gemacht. Allerdings habe ich selber eine Suchtgeschichte hinter mir.

Was war für Sie das schlimmste Erlebnis? Es muss ja auch immer ein Schlüsselerlebnis geben, das sie überhaupt dazu bringt.

Es gibt ein Schlüsselerlebnis, Es war am Rosenmontag 1977, da wurde jemand bei meiner Firma verabschiedet. Ein früherer Chef von mir. Es fing um 9 Uhr morgens an, um 9 Uhr hab ich angefangen zu saufen, bis nachmittags. Das hatten die noch nicht gesehen, haben sie mir später gesagt. Wie ich nach Hause gekommen bin weiß ich nicht. Am nächsten Tag, weil ich so viel nicht mehr gewohnt war, war mir schlecht. Dann bin ich zum Arzt und bat ihn, mich erstmal sieben Wochen krank zu schreiben. Er sagte, er könne mich nur eine Woche am Stück krank schreiben. Ich sagte, ich gehe jetzt in die Klinik und wenn die mich bei der Firma rausschmeißen, sei er Schuld. Ich habe ihn erpresst. Wir Alkoholiker können das sehr gut: Erpressen, Streit vom Zaun brechen. Er lief mir hinterher und sagte schließlich zu. Und dann hat er mich für 7 Wochen krankgeschrieben und ich bin in die Suchtklink gefahren. Seither bin ich trocken, wie man sagt, und ich halte überall Vorträge und spreche offen davon. Auch hier in Rumänien in den Selbsthilfegruppen. Auch wenn es den Betroffenen oft nicht in den Kram passt, dass ich auf der eigenen Verantwortung „reite" und ihnen von den Gefahren erzähle, die da draußen lauern. Die meisten unterschätzen diese und sich selbst überschätzen sie ebenso.

Welches sind die größten Gefahren da draußen?

Draußen? Ich selbst. Immer ich selbst. Es ist niemand da, der mich festhält und mir was eintrichtert. Das bin ich selbst. Das ist die größte Gefahr. Ich habe daher auch meinen Vortrag zum 50. Bestehen der Suchtklinik „Spielwigge" in Lüdenscheid am 20. Juni 2015 getitelt: „Solange ich nüchtern bin, trinke ich nicht".

Mir ging es nämlich so: Wenn ich keine Ausrede hatte und saufen gehen wollte, dann hab ich einen Streit vom Zaun gebrochen und konnte gehen. Das war schlimm, ich habe in den letzten Jahren nur Schnaps gesoffen. Nachts bin ich durch das Haus gegeistert und habe die Flasche gesucht, die ich versteckt hatte vor meiner Frau. Ich fand die Flasche Wein, die meine Frau vor mir versteckt hat, und leerte sie in einem Zug.

Ich stell ja auch oft die Frage: „Sagt mal, warum ihr trinken musstet im Jahr davor". Dann kommt nur das und das und das. Familie und und. Dann sag ich: „Im Nachhinein habt ihr's gebraucht, weil ihr's gebraucht habt, weil der Körper abhängig ist. Der braucht das, ohne konntet ihr nicht mehr leben, ich auch nicht. Und deshalb, wenn ihr wieder anfangt und wart fünf Jahre trocken, kann ich nur einen Grund akzeptieren, warum ihr wieder getrunken habt". Dann rätseln sie alle: „Weil ich krank bin…" Da liegen sie falsch: „Weil ihr's wolltet, alles andere gilt nicht".

Sie wissen ja schon zuviel davon. Und dann kommen die Ausreden wieder: Ja, da gab es eine Frau, ja Vater oder Mutter waren krank. Deswegen habe sie getrunken, erzählte eine Frau. Ich sagte ihr: „Du hast doch nicht getrunken, weil er krank war, davon wird er doch auch nicht gesund. Du wolltest trinken, du hast die Gelegenheit genutzt."

Was ich hier als Helfer jetzt mache, ist, dass ich in die Gruppen gehe. Besseres kann ich nicht machen. Und ich erzählen den Betroffenen von mir. All diese Beispiele. Die Psychologen haben ja keine eigene Erfahrung. Ich habe eigene Erfahrung. Was eben gut geht bei den Männern und bei den Frauen. Und ich schicke viele Pakete nach Rumänien.

Gibt es im Suchtverhalten einen Unterschied zwischen Männern und Frauen?

Ein Unterschied ist, dass die Suchtkarriere bei Frauen kürzer ist. Frauen werden rascher abhängig. Allerdings steigt auch die Zahl der Frauen, die Alkoholkrank werden. Ansonsten ist da kein großer Unterschied.

Aber es gibt Partner, meistens Frauen, die sind so aufopferungsbereit, die leben von immer weniger Hoffnung und für die ist es klar: Ich muss helfen. Ist ja egal wie helfen. Helfen auf jeden Fall. Und das geht manchmal soweit, dass eine stillschweigende Vereinbarung entsteht. Sie kann ohne den alkoholkranken Partner gar nicht mehr leben. Weil dadurch ihr Selbstwertgefühl erhalten bleibt. Sie lebt davon. Ich nenne diese Situation eine Pathobiose, das Gegenteil von Symbiose.

Was können die Angehörigen tun?

Da ist ganz konsequentes Handeln gefragt. Von den Betroffenen selbst und von den Angehörigen. Die Angehörigen, die streiten sich ja. Es fallen Sätze wie: „Wenn du weitersäufst, dann verlass ich dich, dann mach ich dies und das". Das sollen die gar nicht tun. Sie sollen wirklich nur das sagen, was sie bereit sind zu tun. Wenn sie es nicht tun, zweimal nicht tun, dann meint der Suchtkranke: „Die macht es ja sowieso nicht, da muss ich ja gar nicht drauf hören".

Gibt es aussichtlose Fälle?

Nein. Solange der Mensch lebt, ist Hilfe möglich. Andererseits kann er auch immer noch reinrutschen solange er lebt. Ich sage bei uns in den Selbsthilfegruppen, mal sind wir Helfer, mal sind wir Hilfesuchende, meistens sind wir beides. Ja, jeder Mensch braucht immer mal wieder Hilfe. Und deshalb sind wir meistens beides, ob wir trocken sind oder nicht. Helfer und Hilfesuchende. Und zur Kritik sage ich, Selbstkritik gehört dazu, aber ich komme ohne Fremdkritik nicht aus. Und wenn die noch so hart ist, davon stirbt keiner. „Ihr sterbt nur, wenn ihr so weiter macht", sage ich.

Das wichtigste ist wohl der Spielraum, auch in den Kliniken. Die Selbsthilfegruppen, die in Rumänien fehlen, würden diese Leute bei der Stange halten.

Ja, ich habe heute in Kleinscheuern und auch in Schellenberg darüber gesprochen. Ich habe den Betroffenen empfohlen, den Kontakt miteinander auch nach er Entlassung zu halten, so gut es geht, vor allem, wenn sie aus der gleichen Ortschaft kommen. So könnte eine Selbsthilfegruppe entstehen und sie können dann eben mit „Eingeweihten" sprechen, wenn was ist. Das ist ein großes Manko hier in Rumänien, das Fehlen von Selbsthilfegruppen für Suchtkranke. Natürlich ist dann die Gefahr für alle, die aus der Klinik rausgehen, größer. Einzelkämpfer haben es immer schwer.

Wie kann man einem Rückfall am besten vorbeugen?

Beim Rückfall steht oft das Befürfnis nach Belohnung dahinter. Da muss etwas anders an die Stelle treten. Man sollte sich sagen: „Ich freue mich, dass ich nicht mehr trinke" oder „Es macht mir Spaß, dass ich nicht mehr trinke" oder „Ich bin stolz darauf, dass ich nicht mehr trinke".

Das ist ja fast wie ein Mantra.

Mag sein, aber ich muss ja weiter in der Gesellschaft leben können. Wenn ich anfange, da Verstecken zu spielen, dann leg ich mir schon selbst wieder die Stolpersteine in den Weg. Das ist nicht gut und das „predige" ich auch den Menschen: „Fangt nicht an euch zu verstecken. Denn daran kann man sehen, dass ihr es nicht 100-prozentig gepackt habt. Ihr müsst dafür eintreten. Für euch selbst eintreten."

Gibt es auch hier ein Schlüsselerlebnis aus Ihrem Leben?

Ich wurde 14 Tage nachdem ich von der Klinik wieder zurück war, zu einer Feier eingeladen. 30 Leute. Zu Beginn hab ich gesagt: „Leute hört mal her. Ich war in der Klinik und trinke nicht mehr". Aber da sind immer Leute dabei, die dann gereizt reagieren. An der Theke saßen ein Mann und seine Frau und er fragte mich: „Kannste dann nicht noch ein Bier trinken?“. Ich antwortete zwei Mal: „Ich trinke keinen Alkohol“. Nach dem zweiten Mal habe ich seiner Frau eine Zigarette angeboten  und sie lehnte mit „Nein danke, ich rauche nicht“, ab. Dann bot er mir zum dritten Mal ein Glas Bier an. Ich habe der Frau wieder eine Zigarette angeboten und er reagierte schroff: „Du merkst gar nicht, dass meine Frau nicht raucht“. Da sagte ich: „Du merkst gar nicht, dass ich keinen Alkohol trinke“.

Wann kommen Sie wieder nach Hermannstadt?

Im nächsten Jahr bestimmt und meine Frau kommt diesmal mit. Es wird wohl auch mein letzter Besuch sein, schließlich werde ich 75.

Danke für das Gespräch und alles Gute.

 

Walter Beier.     Foto: B. UNGAR

 

 

Veröffentlicht in Aktuelle Ausgabe, Soziales.