„Fragen, viele, viele Fragen“

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Aus aktuellem Anlass gelesen: Georg Schergs „Der Mantel des Darius“
Ausgabe Nr. 2513
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Mit „Der Mantel des Darius“ wagte der Schriftsteller Georg Scherg, zum ersten Mal Experimente mit den Mitteln moderner Prosa. Heute ist das Buch in den meisten Läden vergriffen. Schade, denn das Experiment ist Scherg geglückt und seine Ergebnisse sind auch fast fünfzig Jahre nach dem Erscheinen des Buches noch von Bedeutung.

  1. Januar 1969: In Südafrika protestieren Studenten gegen das Apartheid-Regime, Bundeskanzler Kiesinger erklärt, dass er wieder Beziehungen zwischen Deutschland und den arabischen Ländern aufbauen möchte, und in Moskau stellen sich Kosmonauten den Fragen der internationalen Presse. Die 54. Ausgabe der Hermannstädter Zeitung erscheint. Im Kulturteil der Zeitung schreibt Emmerich Reichrath, damals Leiter der Kulturabteilung der Bukarester Tageszeitung Neuer Weg, eine Rezension mit dem Titel „Schaut her in den Spiegel“ über ein Buch, das „zum Nachdenken“ anregt: „Der Mantel des Darius“ von Georg Scherg, das im Vorjahr erschienen war.

Der Journalist ist von Schergs neuem Werk begeistert: „Georg Scherg hält uns den Spiegel vor“ ‒ und das, ohne mit den Sitten der Zeit ins Gericht zu gehen, „er stellt auch keinen Moralkodex auf, er diagnostiziert lediglich einen Zustand. Und stellt Fragen, viele, viele Fragen.“

Doch nicht nur für seine Zeit ist dieser Roman relevant, denn die vielen, vielen Fragen drehen sich um das Wesentliche: die Freundschaft, die Liebe, die Zeit, den Unterschied zwischen Wahrheit und Wirklichkeit und darum, ob die Kunst Antworten auf diese Fragen liefern kann. „Kann Laokoon in Marmor erzählen?“, wie es im Roman heißt.

Die eigentliche Handlung des Buches spielt dabei eine untergeordnete Rolle; die vielen kurzen und nur lose durch das Personal verbundenen Episoden dienen als Anekdoten, anhand derer Scherg die vielen philosophischen Ideen diskutiert. Die Figuren haben keine eigenen Namen, sondern tragen die Namen antiker Vorbilder: Diogenes, Darius und Alexander, drei Freunde, die unterschiedlicher nicht sein könnten und trotzdem ständig verwechselt werden ‒ unter anderem von ihren Frauen und Freundinnen: Theodora, Enyo und Laïs.

Trotz ihrer historischen Namen leben die Mitglieder dieses Freundeskreises (Kreise spielen in diesem Buch eine große Rolle) in der modernen Zeit. Sie diskutieren, trinken, tanzen, streiten und schlafen miteinander und zetteln dadurch versehentlich so manches Verwirrspiel an, dass auch in einer Shakespeare-Komödie nicht fehl am Platz wäre.

Im Vordergrund stehen dabei aber die großen Fragen und Ideen. Da kann kein Apfel am Baum hängen, ohne dass Newton im nächsten Satz seinen Auftritt hat oder gar eine biblische Schlange zwischen den Blättern hervorblinzelt. Manchmal droht die Last der Deutung die Geschichten zu erschlagen ‒ ein Umstand, über den Scherg sich allerdings selbst lustig macht. Beispielsweise wenn er vom Wettlauf zwischen dem Hasen und dem Igel erzählt und mit dem Fleiß eines Germanistik-Studenten im ersten Semester hermeneutische Kreise zeichnet, bis eine Theorie der Zeit in der Kindergeschichte bewiesen ist.

Auch sonst ist das Werk durchweg humorvoll und vor allem originell, sowohl was die Formulierungen, als auch die Spielereien mit verschiedenen Gattungen betrifft. Was sich auf den ersten Seiten noch wie wohlklingender Irrsinn liest, fügt sich nach und nach zu einem stimmigen Ganzen zusammen. Deswegen gilt das Urteil des Rezensenten Emmerich Reichrath von 1969 noch heute: „Es ist ein Buch, das zum Wiederlesen auffordert, und das ist eine hohe Qualität, wenn es um Fragen geht, über die man nachdenken sollte.“

Bernadette MITTERMEIER

 

Georg Scherg: Der Mantel des Darius also Mutatio Rerum oder Die Wahrheit in den Dingen. Einbandentwurf: Renate Mildner-Müller. Jugendverlag Bukarest 1968. 323 Seiten.

 

 

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