Ausgabe Nr. 2868
,,Reisen ist Freiheit“
Axel Barners Erzählband ,,Abflug“ posthum in Berlin erschienen

Dr. Markus FISCHER
Axel Barner: Abflug. Reiseerzählungen, PalmArtPress Berlin 2024, 198 Seiten, ISBN 978-3-96258-181-7, 20 Euro.
Das literarische Oeuvre des im Dezember vergangenen Jahres verstorbenen Schriftstellers, Literaturwissenschaftlers, Deutschlehrers und Travellers Axel Barner kreist wesentlich um das Reisen. Mehrere seiner Werke rechnen sich qua Gattungsbezeichnungen explizit zur Reiseliteratur, so seine Reiseminiaturen „Umwege nach Moabit“ (2010), sein Reisekrimi „Der Weg nach Timbuktu“ (2014; Neuausgabe 2023), seine Reiseerzählung „Äthiopisches Album“ (2021), sein Roman „Lennings Reise“ (2022) und seine posthum in diesem Jahr erschienenen Reiseerzählungen unter dem vielsagenden Titel „Abflug“.
Dem Publikum in Rumänien ist der weltläufige Autor, der nach der Wende fünf Jahre lang am Bukarester Polytechnikum gelehrt hat, bestens bekannt: durch seine literaturwissenschaftlichen Werke wie etwa den gänzlich auf Rumänien bezogenen Sammelband „Aufsätze zur Germanistik“ (1998) oder seine „Studien zum Rumänienbild in der deutschen Gegenwartsliteratur“ (2006); ferner durch seine historischen Forschungen über „Deutsche Reisen nach Rumänien“ (ADZ-Verlag Bukarest 2001), die sich mit so unterschiedlichen Persönlichkeiten wie Martin Opitz, Helmuth von Moltke, Kurt Tucholsky und Hans Magnus Enzensberger auseinandersetzen; und nicht zuletzt durch seine literarischen „Geschichten vom Balkan“, wie der Untertitel des 1999 erschienenen Bandes „Neun Akatiste für die NATO“ (Tebbert Verlag Münster) lautet. Zu erwähnen sind in diesem Zusammenhang auch der von Axel Barner herausgegebene „Stadtführer Bukarest“ (Kriterion Verlag, 1995) sowie die beiden von ihm edierten literarischen Bukarest-Porträts (Dipa-Verlag 1997 und Wieser-Verlag 1999).
Auch in dem frisch erschienenen Erzählband „Abflug“, dessen Druckfahnen der Autor zwar noch revidieren, dessen Publikation er aber nicht mehr selbst erleben konnte, beziehen sich vier der insgesamt siebzehn Reiseerzählungen auf die rumänische Hauptstadt: die Prosastücke „Ankunft in Bukarest“ (S. 47-50), „Die Hunde von Bukarest“ (S. 51-55), „Was ich in Bukarest sah und hörte“ (S. 56-59) und „Skythischer Winter“ (S. 60). Im Gegensatz zu den fiktionalen Werken, denen diese Erzählstücke entnommen sind, finden sich hier an deren Ende – wie auch am Ende aller anderen Reiseerzählungen des Bandes „Abflug“ – jeweils eine Notiz zu deren reale Entstehungszeiten, mithin zu deren autobiographischem Hintergrund, also „Rumänien 1992“ bzw. „Rumänien 1992-1997“. Fiktionales und Reales, Erfundenes und Erlebtes werden so in eine enge Beziehung zueinander gebracht, Erdichtetes wird an Erfahrenes zurückgebunden und damit die intrinsische Verbindung von Literatur und Leben unterstrichen.
Dänemark, die Azoren, Mauretanien, Grönland, Frankreich, Deutschland, Äthiopien, Djibouti, Portugal, Spanien, Island und die Türkei sind neben Rumänien weitere Länder und Weltgegenden, die in Axel Barners Erzählband „Abflug“ zur Sprache und zur Darstellung kommen. Vierzehn der in diesem Band versammelten Erzählungen sind bereits an anderer Stelle, zum Teil an entlegenen Orten, publiziert worden (vgl. dazu den „Nachweis der Veröffentlichungen“ auf S. 191), drei Erzählungen hingegen erscheinen hier zum ersten Mal: „Mit dem Zug nach Djibouti“ (S. 101-125), „Pilgern mit John und Moises“ (S. 126-148) und „Nachricht von einem Putsch“ (S. 149-165).
In der Erzählung „Mit dem Zug nach Djibouti“ schildert Axel Barner die abenteuerliche Bahnreise von Awash in Äthiopien über Dire Dawa und Harar, entlang den somalischen Wüstendörfern El Ban, Harewa, Melo, Chedid Cali, Adigala, Ayshau, Adeyle, bis zur Grenzstation Gwelle sowie die anschließende Busreise nach Djibouti-Stadt. Wunderbare Reisebilder mischen sich mit historischen Betrachtungen, kritische Bemerkungen (etwa über Khat, die Alltagsdroge Ost-Äthiopiens und Djiboutis, oder auch über die omnipräsente Armut) wechseln mit Beschreibungen exotischer Märkte und der einheimischen Bevölkerung, wobei auch sprachliche Missverständnisse (Rambo/Rimbaud, Heiland/Highland) vom Erzähler humorvoll ausgekostet werden.
Die Erzählung „Pilgern mit John und Moises“ schildert die Reise dreier Pilger – des deutschen Ich-Erzählers, des Spaniers Moises und des Briten John – vom portugiesischen Porto über Matosinhos auf dem portugiesischen Jakobsweg der Atlantikküste entlang bis nach Redondela, wo sich der Küstenpilgerweg mit der aus Fátima kommenden zentralen Pilgerroute vereinigt, und danach weiter bis zum spanischen Pilgerziel Santiago de Compostela. Am Ende erhalten die drei Pilger jeweils eine lateinische Urkunde, die bestätigt, dass neben John und Moises auch Axel dieses heiligste Gotteshaus, der Frömmigkeit halber, ehrerbietig besucht hat: „Absalonem Barner hoc sacratissimum templum […], pietatis causa, devote visitasse.“ (S. 147)
Die Erzählung „Nachricht von einem Putsch“ schildert den türkischen Militärputsch im Juli 2016, aus dem der türkische Staatspräsident Erdoğan gestärkt hervorging, aus der Erzählperspektive der deutschen Protagonistin Anna, die unmittelbar nach dem Putsch auf Anraten ihres türkischen Freundes Serkan von Istanbul mit dem Schiff in das ruhigere und scheinbar ungefährliche Bursa reist. Dort gerät sie allerdings in eine Demonstration von Anhängern der AKP, der Partei Erdoğans, wo sie – als westliche Touristin im ärmellosen T-Shirt und in Shorts – wegen ihres Outfits der Beleidigung des Türkentums bezichtigt, verhaftet und in einer Arrestzelle zwei Tage lang festgehalten wird. Erst nach der Intervention des deutschen Konsulats in Istanbul kommt sie wieder frei und erlebt so am eigenen Leibe, welcher politische Wind in der Türkei nach dem Putsch weht.
Besonders lesenswert ist der in Axel Barners Erzählband „Abflug“ anstelle eines Nachworts abgedruckte Originalbeitrag mit dem Titel „Warum wir reisen“ (S. 183-190). Hier entfaltet der weitgereiste und polyglotte Autor in ständigem Bezug zu seiner eigenen Biographie seine spezielle Reisephilosophie, die das Reisen als Selbstbegegnung und Fremderfahrung, als intrapersonale wie auch als interkulturelle Herausforderung würdigt. „Wer reist, der meditiert, der denkt über sich selbst und über seine Stellung zu und in der Welt nach. Wer reist, ist zwar ständig anderswo, aber er ist immer bei sich selbst. Reisen ist also keine Flucht vor sich selbst, sondern deren Gegenteil, ist eine Art Zu-Haus-Bleiben im eigenen Ich. Reisende gehen fort, um bei sich anzukommen.“ (S. 184) In diesem Nachwort steht auch der markante Satz „Reisen ist Freiheit“ (S. 185), der nicht nur für die Freiheit des Reisenden eintritt, sondern auch und gerade den bereisten fremden Weltgegenden, Ländern und Kulturen ihre Freiheit belässt: „Fremd muss das Fremde uns bleiben, wenn wir es in seiner Eigenart respektieren wollen.“ (S. 187f.)
Das Buchcover von „Abflug“ schmückt eine Cyanotypie von Hélène Verger, die bereits zum „Äthiopischen Album“ sowie zur Neuausgabe von „Der Weg nach Timbuktu“ wunderschöne Cyanotypien beigesteuert hat. Besagte Cyanotypie auf dem Kunststoff-Einband von „Abflug“ trägt den Titel „Marokko, Essaouira“ und stammt aus dem Jahre 2023. Sie zeigt das Bollwerk der Scala du Port der marokkanischen Hafenstadt Essaouira, vor dem unzählige Möwen umherschwirren: sich erhebend, anlandend oder einfach nur rein im Fluge.
Eine biobibliographische Notiz auf der letzten Seite des Bandes (S. 198) schließt das Buch ab, das als Sammlung interessanter, spannender und exotischer Reiseerzählungen gelesen werden kann, aber auch als berührendes Vermächtnis des homo viator Axel Barner.
Dr. Markus FISCHER