Zum 100. Todestag Kafkas (3. Juli 1883 in Prag – 3. Juni 1924 in Kierling, Niederösterreich)
Ausgabe Nr. 2867
Ist Franz Kafkas „Brief an den Vater“ ein autobiographisches Zeugnis oder literarische Fiktion? Er ist mit Sicherheit ein zentrales Zeugnis der lebenslangen Auseinandersetzung mit seinem Vater Hermann Kafka, die sich auch in zahlreichen anderen Texten des Autors wiederfindet. Verfasst wurde er an drei Tagen im November 1919 nördlich von Prag in dem kleinen Erholungsort Schelesen/Zelizy, wohin sich der an Tuberkulose erkrankte Kafka zeitweise zurückgezogen hatte. Erstmals wurde der Brief 1937 in ausgewählten Passagen von Kafkas Nachlassverwalter Max Brod veröffentlicht. Vollständig erschien er erst nach dem Zweiten Weltkrieg (1952), als Kafkas Werke in der ganzen Welt rezipiert wurden – ausgenommen in den kommunistischen Ländern des damaligen Ostblocks, wo sie erst Ende der 1960er Jahre erscheinen durften.
„Liebster Vater, Du hast mich letzthin einmal gefragt, warum ich behaupte, ich hätte Furcht vor Dir. Ich wusste Dir, wie gewöhnlich, nichts zu antworten, zum Teil eben aus der Furcht, die ich vor Dir habe, zum Teil deshalb, weil zur Begründung dieser Furcht zu viele Einzelheiten gehören, als dass ich sie im Reden halbwegs zusammenhalten könnte.“ – So lautet der Anfang des Briefes, in dem sich der damals 36jährige Sohn mit der übermächtigen Figur seines Vaters auseinandersetzt. – Diesem Hermann Kafka (1852-1931), tschechischer proletarischer Böhme („kavka“ = Dohle / Krähe, später das Geschäftsemblem), dessen Vater jüdischer Fleischhauer war, gelang es, aus ärmlichen Verhältnissen zunächst ein „Gassengeschäft“ (Einzelhandel) am Rande des noch existierenden Prager Ghettos und später einen Großhandel von Galanteriewaren im Palais Kinski zu gründen, in dem modische Accessoires angeboten wurden. Der fleißige, geschäftlich erfolgreiche Hermann war ein imponierendes „Mannsbild“. Von seinem Sohn Franz, dem eher zarten Erstgeborenen, erwartete er als künftiger „Stammhalter“, eines Tages das Geschäft zu übernehmen. Doch dieser erkennt: „…als Vater warst Du zu stark für mich (…) Ich war ja schon niedergedrückt durch Deine bloße Körperlichkeit.“ – Das übertriebene Selbstbewusstsein des Vaters äußert sich in vielen tyrannischen Verhaltensweisen, die der Sohn im Rückblick kritisiert, entlarvt und als lächerlich karikiert. Der Vater lässt nur seine dezidiert und selbstherrlich vorgetragenen Meinungen gelten, die – vor allem beim Mittagsmahl – wie Gebote verkündet werden, an die er sich aber selbst nicht hält („Man musste achtgeben, dass keine Speisereste auf den Boden fielen, unter Dir lag schließlich am meisten.“). Die „Erziehungsmittel“ des Vaters fruchten nicht, weil er diesbezüglich kein Vorbild ist und dies hat „noch eine weitere eigentlich sehr natürliche Folge: ich verlernte das Reden. (…) Du sagtest: ‚Kein Wort der Widerrede!‘ und wolltest damit die Dir unangenehmen Gegenkräfte zum Schweigen bringen, diese Einwirkung war aber für mich zu stark, ich war zu folgsam, ich verstummte gänzlich, verkroch mich vor Dir und wagte mich erst zu regen, wenn ich so weit von Dir entfernt war, dass Deine Macht, wenigstens direkt, nicht mehr hinreichte.“ – Wahr ist allerdings auch, dass Hermann Kafka seine Kinder nicht geschlagen hat, was in jener Zeit oft durchaus üblich war.
Welche Rolle spielte die Mutter in der Familie? Julie Kafka, geb. Löwy, entstammte dem wohlhabenden, gebildeten deutsch-jüdischen Bürgertum, wohnhaft am Altstädter Ring im Zentrum Prags. Ein Jahr nach der Heirat (1882) kam Franz zur Welt und darauf folgten in kurzen Abständen seine drei Schwestern. Die Mutter musste im Geschäft helfen, ordnete sich ihrem Mann unter, die Kinder wurden von Hausangestellten, später von französischen Gouvernanten erzogen. Franz anerkennt, „wie quälend und bis zum letzten aufreibend die Stellung der Mutter in der Familie war (…), aber die Krönung alles dessen war das, was sie in ihrer Zwischenstellung zwischen uns und Dir gelitten hat. Du bist immer liebend und rücksichtsvoll zu ihr gewesen, aber (…) rücksichtslos haben wir auf sie eingehämmert, Du von Deiner Seite, wir von unserer (…) weil sie uns verzog…“ Kafka betont, dass sie „grenzenlos gut zu mir war, aber alles das stand für mich in Beziehung zu Dir, also in keiner guten Beziehung. Die Mutter hatte unbewusst die Rolle eines Treibers in der Jagd.“ Gleichzeitig ist sie in der Sicht des Sohnes – als Vermittlerin – ein „Urbild der Vernunft“.
Was der Sohn am Verhalten des Vaters im Geschäft bemängelt, sind „Dinge, die mir dort zuerst selbstverständlich gewesen waren, quälten, beschämten mich, besonders Deine Behandlung des Personals. (…) Dich aber hörte und sah ich im Geschäft schreien, schimpfen und wüten, wie es meiner damaligen Meinung nach in der ganzen Welt nicht wieder vorkam. Und nicht nur schimpfen, auch sonstige Tyrannei. (…) Du nanntest die Angestellten ‚bezahlte Feinde‘, das waren sie auch, aber noch ehe sie es geworden waren, schienst Du mir ihr ‚zahlender Feind‘ zu sein.“ Er prangert die „Herrschsucht“ des Vaters an und dessen Ungerechtigkeit: „Deshalb gehörte ich notwendig zur Partei des Personals, übrigens auch deshalb, weil ich schon aus Ängstlichkeit nicht begriff, wie man einen Fremden so beschimpfen konnte…“ –
Dieser subjektiven Sichtweise Franz Kafkas steht der Bericht des Lehrlings Frantisek Basik gegenüber, der seine Erinnerungen an die Lehrzeit im Geschäft des Hermann Kafka (1892-1895) im Jahre 1940 niederschrieb und nichts von der inzwischen einsetzenden Berühmtheit des Sohnes wusste. Basik beschreibt seinen Lehrherren als „kräftigen, ruhigen etwa 35jährigen Mann, von großer Gestalt und irgendwie sympathisch“. – Diese Einschätzung kann der heutige Betrachter der erhaltenen Fotos Hermann K’s nachvollziehen, die einen soignierten Herrn vor Augen haben, der freundlich, milde, ja fast gütig in die Kamera blickt. Dennoch muss beachtet werden, dass die Erfahrungen des eigenen Sohnes differenzierter waren, was einige Kritiker der deutschen Ausgabe dieser Erinnerungen hervorheben (vgl. Franz Kafka: Brief an den Vater. Mit einem unbekannten Bericht über Kafkas Vater als Lehrherr und anderen Materialien. Berlin 2004 / Wagenbach-Verlag).
Für den Sohn ist es inzwischen undenkbar, das Geschäft seines Vaters eines Tages zu übernehmen. Schließlich sieht Hermann Kafka dies ein und bemäntelt es mit der Behauptung, dem Sohn „fehle der Geschäftssinn, ich (Franz) habe höhere Ideen im Kopf und dergleichen.“ – Der Sohn widerspricht dem Vater, der ihn für fleißig hält, indem er sich selbst als faulen Schüler bezeichnet, der „vor Dir das Selbstvertrauen verloren, dafür ein grenzenloses Schuldbewusstsein eingetauscht (hat)“. Franz geht ausführlich auf seine schwache Gesundheit ein, erwähnt aber auch seine Hypochondrie. – Der Vater lässt ihm „völlige Freiheit“ bei der Berufswahl, worauf sich der Sohn für ein Jurastudium entscheidet (Anklage und Verteidigung machen sich im juristischen Inhalt und Stil des Briefs bemerkbar). Nach der Promotion ist er zunächst bei der „Assicurazioni Generali“, danach jahrelang (bis zur krankheitsbedingten Pensionierung 1922) bei der „Arbeiter-Unfall-Versicherung“ als geschätzter Jurist tätig.
Als gescheitert sieht Franz seine Versuche an, eine Lebenspartnerin zu finden und darin dem Vater ebenbürtig zu sein: „Heiraten, eine Familie gründen, alle Kinder, welche kommen, hinnehmen, in dieser unsicheren Welt erhalten und gar noch ein wenig führen, ist meiner Überzeugumg nach das Äußerste, das einem Menschen überhaupt gelingen kann.“ – Insgesamt verlobt und entlobt er sich dreimal mit unterschiedlichen Frauen, die der Vater nicht alle akzeptiert. Aber der Sohn hat auch Angst vor einer Ehe, der er sich aufgrund seiner zahlreichen Schwächen nicht gewachsen fühlt, die ihn binden und in seiner Freiheit einschränken könnte. – Hauptgrund ist dabei die Angst vor der Gefahr, nicht mehr schreiben zu können. Während sein Vater auf die ersten Bücher des Sohns mit der verächtlichen Bemerkung „Legs auf den Nachttisch!“ reagiert, hat Franz nun Angst vor einer möglichen Einschränkung seiner Freiheit zum Schreiben: „Ich habe schon angedeutet, dass ich im Schreiben und in dem, was damit zusammenhängt, kleine Selbständigkeitsversuche, Fluchtversuche mit allerkleinstem Erfolg gemacht, sie werden kaum weiterführen … Die Ehe ist die Möglichkeit einer solchen Gefahr…“ – Der Schluss des Briefs versucht in Bezug auf den Schuldanteil der beiden Kontrahenten auch die Position des Vaters zu Wort kommen zu lassen. Hier wird deutlich, dass eine Art juristischer „Prozess“ stattfgefunden hat, der aber nicht zu einem endgültigen „Urteil“ führt, weil Franz mit den Worten schließt: „… ist meiner Meinung nach der Wahrheit so sehr Angenähertes erreicht, dass es uns beide ein wenig beruhigen und Leben und Sterben leichter machen kann.“
Die Pointe dieses Briefs liegt darin, dass er nie an den Vater abgeschickt wurde und auch nach dem Tod von Franz Kafka sein Vater nichts davon erfahren hat.
Konrad WELLMANN