50 Lieder für 50 Jahre

Teile diesen Artikel

Mit dem Evangelischen Gesangbuch durchs Jahr 2024 / Von Christel Ungar

Ausgabe Nr. 2866

Es war kalt in der überfüllten riesigen Hallenkirche, in der es niemandem auffiel, dass ein Kind an einer der Säulen lehnte und dem Moment entgegenfieberte, in dem es dunkel wird und nur die Kerzen Schatten an die Wände werfen. Keiner hatte sich darum gekümmert, dem Kind zu erklären, dass die jeweiligen Ziffern auf den beiden Tafeln nicht irgendein Code, sondern die Nummern der Lieder im Gesangbuch sind, sonst hätte es gewusst, dass die 444, eben jenen Augenblick ankündigte.

Es hätte ja auch fragen können, doch seine Großmutter hatte ihm schon so oft eingebläut, nur dann Fragen zu stellen, wenn man sich in äußerster Not befände…. Man sollte nicht dumm fragen und die anderen mit seiner Neugierde oder aber Unwissenheit belästigen – einem anderen zur Last zu fallen, sei die größte Sünde – was auch immer das heißen mochte. So stand es mit roten Wangen da und rieb sich die klammen Hände bis es plötzlich so weit war.

Die ersten Akkorde der ihm von zu Hause so bekannten Melodie erklangen am riesigen Instrument, das einen in seinen Bann riss. Seine am Klavier eingeübten Finger konnten nicht mehr stillhalten, gut, dass das Licht ausging. „Stille Nacht, heilige Nacht” erschallte aus aller Munde wie auf Befehl. Das Kind sang auch mit zitternder Stimme. Bei „holder Knabe im lockigen Haar spürte es die kalte Wand im Rücken nicht mehr und fühlte sich hineingezogen in eine warme Umarmung aus Worten und Tönen, die es nicht so recht verstand. „Lieb aus deinem göttlichen Mund, Da uns schlägt die rettende Stund, Christ, in deiner Geburt…” Plötzlich nahm ihn jemand an der Hand und hob ihn über all die Menschen mit ihren Ordnungen und Regeln hinweg, bis hin zum Mann an dem Instrument, dessen Klang man im Bauch fühlt. Er hatte gleich mehrere Tastaturen zum Bespielen und durfte sogar mit den Beinen trampeln und niemand sagte ihm, dass er am Klaviersessel nicht hin und her zappeln sollte. Doch auch er sah das Kind nicht und spielte unbeirrt weiter: „Durch der Engel Halleluja. Tönt es laut von fern und nah”. Noch während sich das Kind überlegte auch mal an so einem Instrument zu sitzen, fühlte es bereits die kalte Säule im Rücken. Ohne sich umzusehen lief es los, um seinem Großvater, der ihn mit seinen wunden Füßen nicht hatte begleiten können, das Erlebte zu erzählen. Sein Großvater hörte dem Redesprudel des Kindes bedächtig zu, tätschelte es kurz und sagte: Ja, ja , ich weiß. Ist schon gut. Geh jetzt ins Bett, morgen erzählst Du mir mehr…

Christel UNGAR

 

 

 

Veröffentlicht in Aktuelle Ausgabe, Kirche.