Grundlagenwerk zur rumänischen Kultur- und Geistesgeschichte (I) / Von Dr. Doris SAVA
Ausgabe Nr. 2860
Das Erscheinen einer umfangreichen Darstellung zu entwicklungsgeschichtlichen Bedingtheiten der kulturellen Vergangenheit Rumäniens muss als editorisches Ereignis gewürdigt werden. Das Überblickswerk von qualitativ hoher inhaltlicher und typografischer Gestaltung beeindruckt durch thematische Breite und interdisziplinäre Zusammenführungen, die den prägenden Einfluss der deutschen Sprache und Kultur auf die rumänische Kultur- und Geistesgeschichte in einer von Umwälzungen markierten Zeit dokumentieren.
Das im Spätsommer 2023 erschienene dreiteilige Handbuch im Großformat, das in einer eleganten, kartonierten Ausgabe in zwei Bänden und in einem ebenso beeindruckenden Umfang von 1.400 Seiten vorliegt, geht dem Verhältnis von Sprache, Kultur und Identität aus unterschiedlichen Perspektiven nach. „Limbă şi cultură germană în România (1918-1933). Realități postimperiale, discurs public și câmpuri culturale” belegt durch seine Aufmachung und Ausrichtung, dass hier nicht nur dem Leserkreis Schätzung entgegengebracht wird, sondern auch dem Sachthema – nicht nur Bilder entfalten ihre Wirkung erst ab einer bestimmten Größe…
Wie Sprache zur Gestaltung (multi-)kultureller Identitäten beiträgt, wird im ersten Band (Teil I und II; 696 S.) an den vielfältigen (bildungs-)politischen, geistesgeschichtlichen, kulturhistorischen, wissenschaftlichen Verbindungen zum deutschsprachigen Kulturaum dargelegt und im zweiten Band (Teil III; 728 S.) an der Geschichte, Wirtschaft, Sozialstruktur und kulturellen Eigenheit deutschsprachiger Gemeinschaften, einschließlich der jüdischen Minderheit.
Gestützt auf eine Fülle einschlägiger Veröffentlichungen und Archivbestände, zeichnen die beiden Bände in 16 Kapiteln durch Innen- und Außenansichten ein Panorama der rumänischen (Fach-)Kultur im doppelten Sinne beispielhaft und faktenreich nach. Dabei werden die Möglichkeiten wechselseitiger Wahrnehmungen und Annäherungen in den Regionen Großrumäniens parallel zu denen in den Hochburgen der Minderheit erfasst und das Wirken vielfältiger Akteure (Wissenschaftler, Hochschullehrer, Politiker, Vertreter der Minderheit, Übersetzer, Autoren und Kulturvermittler) im öffentlichen medialen und literarischen Diskurs ausgeleuchtet.
Ein derart ehrgeiziges Vorhaben erfordert einen erheblichen Ressourcenaufwand. So haben die Herausgeber eine beeindruckende Anzahl an Mitwirkenden diverser Fachbereiche herangezogen, die an den Universitäten in Jassy und Klausenburg, am Forschungsinstitut für Geisteswissenschaften der Rumänischen Akademie Hermannstadt und an anderen Einrichtungen [Institut für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas (IKGS) München, Institut für donauschwäbische Geschichte und Landeskunde (IdGL) in Tübingen] zu dieser Thematik forschen. Dem Forschungsvorhaben kam nicht nur die fachliche Expertise der 13 Autoren und 39 Mitarbeiter zugute; auch einige Traditionslinien der rumänischen Germanistik, die ihren guten Ruf begründeten, ermöglichten dessen Verwirklichung.
Die nüchterne, auf den ersten Blick durch die Farbgebung düster anmutende Einbandgestaltung des Bukarester Verlags Polirom trügt. Die beiden Abbildungen auf dem Buchdeckel – eine Innenansicht der alten Universitätsbibliothek in Jassy (Bd. 1) und die Kirchenburg in Birthälm (Bd. 2) – bewirken, dass das Buch von außen nach innen wahrgenommen wird. Der wirkungsvollen Umschlaggestaltung entspricht auch die inhaltliche Aufmachung und thematische Schwerpunktsetzung der beiden Bände.
Der Gesamteindruck der Publikation, die durch Breite und Multiperspektivität besticht, ist ein solider. Das hochkomplexe Werk überschreitet – durch Kontextualisierungen und den Detailgrad der Darstellung – allerdings die Grenzen reiner Überblicksdarstellungen. Es legt Entwicklungen, Verschränkungen und Auswirkungen sowie Konzepte des Denkkollektivs offen, wodurch eine Diagnose des gesellschaftlich-kulturellen Zeitgeistes überhaupt möglich ist. Daher werden im Folgenden Anlage und Stärken dieser (ge-)wichtigen Publikation knapp umrissen, die eine interessante und teilweise auch herausfordernde Lektüre verspricht.
Das Vorwort (S. 11 f.) der beiden Altmeister, profunde Kenner des Fachbereiches, erläutert die Entstehungsgeschichte dieses Handbuchs, das die Ergebnisse eines gleichnamigen Forschungsprojekts unter der Leitung der beiden Herausgeber zusammenfasst und dessen Förderung von der rumänischen Agentur zur Finanzierung der Forschung UEFISCDI übernommen wurde. Ausgehend von der starken Minderheitenpräsenz im neu gegründeten rumänischen Staat nach 1918 und den sich daraus ergebenden vielfältigen Wechselwirkungen mit dem rumänischen Umfeld, war es zwingend notwendig, auf ein Kulturverständnis zurückzugreifen, um das Repertoire an kommunikativen, sozialen und institutionellen Praktiken erfassen und kulturbedingte Ausformungen von Interaktions- und Diskursarten umreißen zu können, die das Profil der rumänischen kulturellen Identität näher zu bestimmen vermögen. Wie dieses Vorhaben konkret umgesetzt wird, soll anhand einiger Schwerpunkte aufgezeigt werden.
Teil I des Handbuchs (Kap. 1 und 2; S. 21-99) ist konzeptionell-fachlichen und methodischen Positionierungen gewidmet. Aus der Sicht kulturwissenschaftlicher Theoriebildung werden Forschungsparadigmen aufgezeigt und Schlüsselbegriffe festgelegt, wodurch kulturelle Differenzen als Wechselwirkung zwischen den Kulturen begriffen werden und daher ein Potenzial für die Erforschung sozialgesellschaftlicher Prozesse und kultureller Verbindungen bergen. Die fachkundig ausgeführte theoretische Einleitung (Kap. 1; S. 21-29) mit Literaturanhang (S. 29-35) wird von einem zweiten Kapitel (S. 36-99) abgerundet, das einen politischen, militärischen und diplomatischen Lagebericht für das Jahr 1918 bietet. In chronologischer Reihenfolge skizziert Kapitel 2 Aspekte gesellschaftspolitischer Entwicklungen sowie Haltungen der rumänischen Elite und der Öffentlichkeit gegenüber deutschsprachiger Minderheiten.
In historisch-thematisch gebündelten Überblickdarstellungen und gut dossierten Detailuntersuchungen, in der die Auslotung der rumänischen Kulturlandschaft im ausgewählten Zeitabschnitt (1918-1933) eingebettet ist, wird in den folgenden Teilen II und III der mit gesellschaftspolitischen Umstellungen verbundene Paradigmenwechsel und das Zusammenwirken sozialer, kultureller, wirtschaftlicher, bildungspolitischer Faktoren aufgezeigt, die gemeinsame Entwicklungen begünstigt und kulturell-institutionelle Traditionen begründet haben.
Einem mehrdimensionalen Ansatz verpflichtet, wird im zweiten Teil (Kap. 3-9, S. 103-674) des Handbuchs die Rolle der deutschen Sprache und Kultur in der rumänischen Gesellschaft aus verschiedenen Perspektiven herausgestellt. Zunächst werden mit Blick auf die „neuen Realitäten“ (S. 103) nach der Gründung Großrumäniens (1918) die verfassungsrechtlichen sowie gesetzlichen Regelungen und Vereinbarungen zum Sprachenregime erfasst und die politischen, gesellschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen beleuchtet, um das Verständnis der Lage der deutschsprachigen Minderheiten im neuen Staat zu erleichtern. Dass der Themenbereich „Sprache und Kultur“ Brisanz aufweist, verdeutlichen die Ausführungen zu politisch-ideologischen Debatten und Kontroversen in intellektuellen Kreisen im Schlussteil des Kapitels 3 (S. 174-181), die vor allem der Präsenz der deutschen Sprache in rumänischen Bildungseinrichtungen galten und dem Bestreben, die kulturellen Interessen der Weimarer Republik neu zu beleben.
In den Folgekapiteln geht es dann um die Auswirkungen des deutschsprachigen Geisteslebens und Kulturfeldes, die für den kulturellen und wissenschaftlichen Austausch förderlich waren. So beschäftigt sich Kapitel 4 (S. 182-261) mit der Vermittlung der deutschen Sprache und Kultur an rumänischen Schulen und Universitäten, wobei auch Fallstudien zur akademischen Mobilität eingebunden werden. Wie beeindruckend die Fülle an Druckerzeugnissen in deutscher Sprache ausfällt, die in Bibliotheken und Buchhandlungen vorzufinden sind, legt Kapitel 5 (S. 262-312) dar, das auch Archivbestände des Propagandaministeriums berücksichtigt. In welchem Ausmaß deutsches Gedankengut in den Bereichen Philosophie, Psychologie, Pädagogik, Philologie, Geschichtsschreibung, Rechts-, Wirtschafts- und Naturwissenschaften oder Medizin einen Widerhall fand und für den wissenschaftlichen Austausch prägend war, verdeutlicht Kapitel 6 (S. 313-476). Im Schlussteil des Kapitels wird zudem der Einfluss technischer Errungenschaften auf Industrie und Handel sowie ideologischer Anschauungen auf die Politik aufgezeigt.
Kapitel 7 (S. 477-517) räumt der Übersetzungstätigkeit einen breiten Raum ein und belegt die Vielfalt an Übersetzungen in Buchform, in Kulturzeitschriften und Presse [(Konsum-)Literatur, Märchen, Volkskunde, deutschsprachige Literatur Rumäniens; Übersetzungen aus den Fachbereichen Recht, Philosophie, Geschichte, Wirtschaft und Theologie] in verschiedenen Sprachen (Deutsch, Ungarisch, Hebräisch und Jiddisch), während der Einfluss der deutschen Kultur auf die schönen Künste (Aufführungen, Filme, Musik) in Kapitel 8 (S. 518-557) aufgezeigt wird, das auch auf Ausstellungen von Künstlern aus dem Ausland und auf die Beteiligung ausländischer Sportler an Wettkämpfen hinweist.
Den ersten Band (S. 21-674) des Handbuchs rundet Kapitel 9 (S. 558-674) ab, das kollektive mentale Bilder erörtert, die als Orientierungsmuster soziale und kulturelle Praktiken steuern. Aus imagologischer Sicht geht das Kapitel der Darstellung der Deutschen und Deutschlands in der rumänischen Zentralpresse, in intellektuellen und wissenschaftlichen Kreisen und in Geschichtelehrbüchern nach. Kollektive Fremdbilder in literarischen Werken (Cezar Petrescu, Camil Petrescu, Alexandru Kirițescu), politischen Schriften und in der Presse ergänzen die exemplarischen Analysen zum Bild des Anderen in unterschiedlichen Medien, wobei auch Stereotypen (Rumänen, Ungarn und Juden) in der Propaganda der Selbsthilfe und Erneuerungsbewegung (S. 662-674) erfasst werden.
Das Handbuch belegt in seinem dritten und umfangreichsten Teil (Kap. 10-16, S. 17-723) entwicklungsgeschichtliche Zusammenhänge und Besonderheiten kultureller Entwicklungen bei den deutschsprachigen Minderheiten. Mit unterschiedlicher Akzentuierung wird die Rolle identitätsstiftender Institutionen (Kirche, Schule, Presse- und Verlagswesen, Literatur und Theater) und gemeinschaftsstärkenden Organisationsformen des kulturellen und gesellschaftlichen Lebens herausgestellt, womit – rein quantitativ – eine beeindruckende Bilanz vorgelegt wird.
In einer Einführung (Kap. 10, S. 17-59) werden die institutionell-gesetzlichen Voraussetzungen der Eingliederung der deutschen Minderheiten in den rumänischen Staat umrissen. Nach der Gründung Großrumäniens (1918) erhielt die deutschsprachige Bevölkerung den Status einer Minderheit, deren Rechte durch den Minderheitenschutzvertrag (1919) und durch die Verfassung (1923) garantiert wurden. Welche Haltungen hinsichtlich der Anschlusserklärung (1918) und dem Anspruch auf Selbstbestimmung und Erwartungserfüllung auszumachen sind, wird am Material deutsch- und rumänischsprachiger Leitmedien aus Siebenbürgen (Siebenbürgisch-Deutsches Tageblatt; Kronstädter Zeitung) und der Bukowina (Ostjüdische Zeitung) aufgezeigt.
In den Folgekapiteln stehen die tragenden Säulen der Minderheiten – Sprache, Kultur und Identität – im Mittelpunkt. Ausführlich beleuchtet Kap. 11 (S. 60-155), das sich auf ein reiches Quellen- und Datenmaterial stützt und auch die Ergebnisse der Volkszählungen (1910, 1920 und 1930) einbezieht, die Geschichte der jeweiligen Siedlungsgebiete, Besonderheiten des gemeinschaftlichen, geistigen und kulturellen Lebens sowie die Lage der deutschsprachigen Juden in der Bukowina. Damit stellt der dritte Teil des Bandes die Rolle der deutschen Minderheit nach 1918 aus wirtschaftlicher, gesellschaftlicher und kultureller Sicht dar. Skizziert wird auch die Geltung von Deutsch als Kommunikationssprache sowie die Problematik der Zwei- und Mehrsprachigkeit in Großrumänien und bei deutschsprachigen Gemeinschaften.
Da bei den Minderheiten Sprache ein wichtiges Element ihrer Identität und kulturellen Verbundenheit ist, liegt in Kap. 12 (S. 156-221) der Fokus auf die Ausformung von Deutsch in Sprachinsellage und auf die in Rumänien gebräuchliche Schriftsprache, die als „Heritage language“ Besonderheiten bewahrt. Das Kapitel erfasst daher die komplexen Sprachverhältnisse, wobei die Ausführungen auf den Status von Deutsch als Muttersprache und auf die Dialektlandschaft eingehen und auch statistische Angaben zur Verteilung von Standard und Dialekt heranziehen. Die traditionellen Siedlungsgebiete der deutschen Minderheit in Rumänien sind durch Sprachverhältnisse ausgewiesen, in denen über Jahrhunderte hindurch vielfältige Berührungen zwischen Varietäten (Basisdialekt – regionale Umgangssprache – Schriftsprache) und Sprachen (Rumänisch als Amtssprache und weitere Minderheitensprachen wie z. B. Ungarisch) auszumachen sind.