Grundlagenwerk zur rumänischen Kultur- und Geistesgeschichte (II) / Von Dr. Doris SAVA
Ausgabe Nr. 2861
Das im Spätsommer 2023 unter dem Titel „Limbă şi cultură germană în România (1918-1933). Realități postimperiale, discurs public și câmpuri culturale” [Deutsche Sprache und Kultur in Rumänien (1918-1933). Postimperiale Gegebenheiten, öffentlicher Diskurs und Kulturlandschaften] erschienene dreiteilige Handbuch im Großformat, das in einer eleganten, kartonierten Ausgabe in zwei Bänden und in einem ebenso beeindruckenden Umfang von 1.400 Seiten vorliegt, geht dem Verhältnis von Sprache, Kultur und Identität aus unterschiedlichen Perspektiven nach. Lesen Sie im Folgenden den zweiten und letzten Teil der Rezension der Hermannstädter Germanistin Dr. Doris Sava.
Die Mitglieder deutschsprachiger Sprachgemeinschaften sind daher traditionell zwei- oder mehrsprachig. Da Sprachinselminderheiten in Koexistenz mit verschiedenen Sprachen und Kulturen leben, lassen sich regional bedingte kontaktinduzierte sprachliche Interferenzen mit diversen Kontaktsprachen (Rumänisch, Ungarisch, Jiddisch, Russisch, Polnisch, Ukrainisch, Serbisch) und Mundarten ausmachen, die sich in Intensität und Ausmaß unterscheiden. Das Kapitel geht somit ausführlich auf deutsch-ungarische Sprachkontaktformen in Siebenbürgen und auf die weitverbreitete Zweisprachigkeit ein. Da die deutschsprachigen Gemeinschaften seit ihrer Ansiedlung einer multiethnischen Dauerkontaktsituation ausgesetzt waren, die über Jahrhunderte zu zahlreichen Sprachkontaktformen zwischen verschiedenen Umgebungs- und üblichen Regionalsprachen geführt haben, sind Transferenzerscheinungen auch im rumänischen Grundwortschatz bzw. im Substandard auszumachen. Daher wird auch der Einfluss der deutschen Sprache auf das Rumänische erfasst, der je nach politischen, sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Gegebenheiten und der Intensität des wissenschaftlich-diplomatischen Austausches unterschiedlich stark ausfiel. Die Zugehörigkeit deutschsprachiger Siedlungsgebiete zur Habsburgermonarchie, Zuwanderungen von Fachkräften (z. B. Berg- und Kaufleute, Handwerker, Verwaltungspersonal), Handelsbeziehungen, andauernde sprachliche und kulturelle Kontakte sowie Übersetzungen haben den Einfluss des Deutschen auf das Rumänische verstärkt. Einige Germanismen sind durch andere Sprachen – im Banat durch das Serbische, in Siebenbürgen durch das Ungarische, in der Moldau durch das Polnische bzw. Ukrainische – in rumänische Dialekte eingedrungen. Das Kapitel hebt folglich den heterogenen Charakter der Sprachgemeinschaften und der Dialekte hervor, aber auch die Dynamik sprachlicher Beziehungen in dem untersuchten Zeitraum.
Fragen der Identität werden am Beispiel der Eugenik und der identitätswahrenden Institutionen in Kap. 13 (S. 222-396) problematisiert. Der Schwerpunkt liegt deshalb auf dem Kirchen- und Bildungswesen, auf wissenschaftliche und kulturelle Einrichtungen, Veröffentlichungen, Vereinigungen, auf der Volkskultur und der Sportbewegung.
Das Profil literarischer Produktionen, die unter besonderen geschichtlichen, politischen und geistig-kulturellen Umständen hervorgegangen und deren Ausrichtung und Stofflichkeit folglich in ihrem Sonderstatus begründet sind, erfasst Kapitel 14 (S. 397-495). Für diese Literatur, die ein spezifisches kollektives Bewusstsein widerspiegelt und eigene Identitätskonstruktionen verdeutlicht, haben sich Begrifflichkeiten wie „vierte oder fünfte deutsche Literatur“, „Randliteratur“, „Minderheitenliteratur“ oder „Regionalliteratur(en)“ etabliert. Das Kapitel stellt daher die wichtigsten Vertreter dieser Literatur vor, die sich als „Chronisten ihrer Zeit” verstehen (Adolf Meschendörfer, Adam Müller-Guttenbrunn, Erwin Wittstock, Oscar Walter Cisek, Heinrich Zillich) sowie Autoren, die sich neueren literarischen Formen (Otto Alscher, Egon Hajek, Alfred Margul-Sperber, Rose Ausländer) zugewandt haben. Darüber hinaus werden Themen, Motive, Gattungen, repräsentative Zeitschriften, literarische Vorbilder und Autoren erfasst, die in deutschen und österreichischen Verlagen erschienen sind. Ausführlich behandelt werden auch die Zentren der deutschen Kultur nach 1918 (Temeswar, Kronstadt, Hermannstadt, Bukarest, Mediasch, Radautz, Reschitza und das Banater Bergland).
Ein weiteres Kapitel (Kap. 15; S. 496-657) ist dem Loyalitätswechsel deutscher und deutschsprachiger Gemeinschaften nach 1918 gewidmet. Dabei wird dem Publikum auch ein Einblick in den Bestand an Büchern und Publikationen geboten, die in den Bibliotheken der Minderheiteninstitutionen in Hermannstadt und Kronstadt sowie im Institut für Auslandsbeziehungen vorliegen. Deutschsprachige Kulturzeugnisse wurden vielfältig rezipiert (Publikationen, kulturelle Veranstaltungen oder Rezensionen), wie dies am Wirken einiger Persönlichkeiten (z.B. Oscar Walter Cisek, Karl Kurt Klein, Adolf Meschendörfer, Adam Müller-Guttenbrunn oder Heinrich Zillich) als Kulturvermittler aufgezeigt wird. Die Schule als „Pflanzstätte des Gemeinwesens“ und Bewahrerin der Identiät hatte ein hohes Niveau, was den Schulabgängern ermöglichte, an Universitäten im deutschsprachigen Raum zu studieren. Das Kapitel erfasst deshalb das Profil der Studierenden, die in Leipzig, Wien, Berlin oder Innsbruck ihr Studium aufgenommen haben. Ein Anhang mit Abschriften der Immatrikulationsblätter an der Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin und der Leopold-Franz-Universität in Innsbruck und Hinweise auf berühmte Absolventen deutscher Universitäten ergänzen die Ausführungen. Weitere Fallstudien stellen den Werdegang wichtiger Vertreter der Minderheit (z.B. Konrad Richter, Franz Xaver Kappus, Hermann Oberth, Fritz Klein) dar. Das Kapitel geht ferner auf deutsche Minderheiten in Mitteleuropa und auf das „Auslandsdeutschtum” ein und stellt auch die Kulturpolitik der Weimarer Republik gegenüber der Bessarabiendeutschen vor. Im Schlussteil des Kapitels werden die ideologischen und kulturellen Einflüsse nationalsozialistischer Gruppen in Deutschland und Österreich erfasst.
Da das Jahr 1933 als Schwelle und Wendepunkt in der Geschichte der deutschen Minderheiten (S. 688) gewertet werden kann, umreißt das abschließende Kap. 16 (S. 658-707) zunächst den historisch-politischen Kontext in Europa und in Großrumänien nach dem Ersten Weltkrieg und die weitreichenden Auswirkungen der Machtübernahme von Hitler auf die Innen- bzw. Außenpolitik des neu gegründeten Staates. Das Handbuch zeigt in seinem Schlussteil und mit Blick auf die Zeitspanne 1933-1940 die durch Machtwechsel, Angleichung, Nivellierung und Zentralisierung bedingten Entwicklungen in Bildung, Kirche und Presse auf und stellt dabei auch die Situation der Deutschen und der deutschsprachigen Juden in der Bukowina dar.
Da der Band thematisch sehr breit angelegt ist, wird das Publikum schrittweise an die zentralen Themen und Hintergründe herangeführt. Eine Liste der verwendeten Abkürzungen und Siglen (Bd. 1, S. 15-17; Bd. 2, S. 11-13), zahlreiche Tabellen, Abbildungen, Karten und ein Personenregister (Bd. 1, S. 675-693; Bd. 2, S. 709-723), das beide Bände abrundet, erleichtern die Handhabung.
Lobend hervorzuheben ist die Entscheidung der Herausgeber, die Betreuung einzelner Themenblöcke Fachexperten anzuvertrauen, die durch Publikationen hervorgetreten sind oder bereits Dissertationen zur gleichen oder ähnlichen Thematik vorgelegt haben. Die jeweiligen Kapitel fassen einleitend politische, rechtliche, gesellschaftliche, wirtschaftliche, demografische, kulturgeschichtliche Hintergründe und Entwicklungen zusammen, die für die Intensität der Kontakte zum binnendeutschen Kulturraum bestimmend waren, um Wechselwirkungen im deutsch-rumänischen Kulturfeld und Formen des Kulturaustausches aufzuzeigen, die das Ansehen deutschsprachiger Minderheiten gestärkt haben, und um die wichtigsten Aspekte kulturell-geistesgeschichtlicher Verflechtungen inner- und außerhalb des Karpatenbogens hervorzuheben, auf welche die späteren Einzeldarstellungen eingehen. Die einführenden Erläuterungen sind optisch in Abschnitte gegliedert, denen ein Schlüsselwort bzw. Schlüsselaussagen vorangestellt werden. Zusammen mit den eingebrachten knappen Zusammenfassungen im Schlussteil der einzenen (Groß-)Kapitel erleichtern sie die Lektüre der informationsdichten Darstellungen und Fallstudien. Erfreulicherweise verunschönern keine Internetquellen den Fußnotenbereich; diese erscheinen – gemessen an dem Umfang – äußerst spärlich in beiden Bänden. Zu würdigen ist auch das Bemühen um die terminologische Vereinheitlichung, was Schlüsselbegriffe, Namen von Organisationen und Institutionen angeht, sowie die Behebung abweichender Übersetzungen, die vielerorts in der Fachliteratur begegnen, wie die Herausgeber in ihrem Vorwort (S. 12) betonen.
Vorliegender Zweibänder ist nicht nur das Zeugnis einer beeindruckend intensiven, vielfältig entfalteten geistigen, kulturellen sowie wissenschaftlichen Rezeption, sondern führt auch das Bestreben der deutschsprachigen Minderheitengemeinschaften Großrumäniens vor Augen, sich als „Brückenbauer“ für ihre Sprach- und Kulturvermittlung einzusetzen. Dabei kam es Andrei Corbea-Hoișie und Rudolf Gräf als Herausgeber darauf an, durch den Zugriff auf Archivquellen und Fallanalysen die ineinandergreifenden historischen, gesellschaftspolitischen und wirtschaftlichen Entstehungsbedingungen zu erhellen, die auf kulturelle Netzwerke und deren Reichweite gewirkt haben. Als Referenzwerk zu den prägenden Elementen kultureller Identität wird das Handbuch die künftige Forschung fördern und womöglich niveauvolle zusammenfassende Folgebände anregen.
Deutsch im Kontext von Mehrsprachigkeit und ethnisch-kultureller Vielfalt legt demnach ein Forschungspotenzial offen, aus dem das Werk voll schöpft. Für diese verdienstvolle Arbeit sei beiden Herausgebern und allen Mitwirkenden Lob und Anerkennung ausgesprochen und dem Verlag Polirom gedankt.
Mit Limbă şi cultură germană în România (1918-1933) liegt nun ein Werk vor, das viele Leser erfreuen und angenehm überraschen wird. Den Germanisten, Geschichtsforschern und Geisteswissenschaftlern unterschiedlicher Fachbereiche sei es deshalb wärmstens empfohlen.
So bleibt es dem Handbuch zu wünschen übrig, dass es – gleich der im Titel dieser Vorstellung angekündigten Essenz der Publikation – ebenfalls eine beachtliche Ausstrahlung erfahren wird.