,,Es gibt nichts Gutes. Außer man tut es“

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Ausgabe Nr. 2854

Zum 125. Geburtstag von Erich Kästner / Von Konrad WELLMANN

Tobias Lehmkuhl: Der doppelte Erich. Kästner im Dritten Reich, Rowohlt Verlag Berlin 2023, 304 Seiten, ISBN 978-3-7371-0150-9, gebundene Ausgabe 24 Euro, E-Book 19,99 Euro.

Viele Leser kennen zumindest ein paar Titel seiner Kinderbuch-Klassiker wie „Emil und die Detektive“, „Das doppelte Lottchen“ oder „Das fliegende Klassenzimmer“, doch weitaus weniger sind seine kritischen, satirischen und politischen Texte für Erwachsene bekannt. Zur Würdigung seines 125. Geburtstags und gleichzeitig zum 50jährigen Todesjahr (1974) lohnt es sich, einen Blick auf sein feuilletonistisches, schriftstellerisches und politisches Engagement zu werfen.

„Als ich ein kleiner Junge war“ (1957) ist ein Kinder-Jugend-Erwachsenen-Buch, in dem der am 23. Februar 1899 in Dresden geborene Kästner seine kleinbürgerliche Herkunft schildert, den Vater Emil (Sattlermeister) und seine über alles geliebte Mutter Ida (Friseuse), die alles für ihn tut und deretwegen er 1933 nicht ins Exil geht, weil er sie nicht allein lassen will. Diese frühen Erinnerungen schließen mit dem Jahr 1914: „Der Weltkrieg hatte begonnen, und meine Kindheit war zu Ende.“ Von 1917/1918 an leistet er Militärdienst, der ihn zum lebenslangen Pazifisten macht.

Nach dem Krieg besteht er sein Abitur mit Auszeichnung und erhält ein Stipendium der Stadt Dresden zum Studium der Germanistik, Geschichte, Philosophie und Theaterwissenschaft. Nach dem Besuch der Universitäten von Leipzig, Rostock und Berlin wird er 1925 zum Dr. phil. promoviert. Zwei Jahre später übersiedelt Kästner nach Berlin, wo er bis 1945 leben wird. Von nun an – bis zur Machtergreifung Hitlers 1933 – schreibt er für zahlreiche Hauptstadtzeitungen, z. B. die renommierte Weltbühne (Journalisten: Ossietzky, Tucholsky u. v. a.) und die Vossische Zeitung (frühere Mitarbeiter: Lessing, Fontane u. a.), aber auch für weniger bekannte Provinzzeitungen. Bis 1933 veröffentlicht Kästner Tausende von Theaterkritiken und Buchrezensionen sowie tagespolitische Artikel.

Sein erster Gedichtband „Herz auf Taille“ (1928) im Stil der Neuen Sachlichkeit und das Kinderbuch „Emil und die Detektive“ (1929) machen ihn über Nacht weithin bekannt.

An dem Projekt eines Romans für Erwachsene arbeitet Kästner länger als üblich. Es soll sein „Hauptwerk“ werden und den Titel „Der Gang vor die Hunde“ tragen: „Der Autor zog alle ihm möglichen Register, um die Gesellschaft in all ihren geistigen und ungeistigen Erscheinungen in seinen Zeit- und Sittenroman zu holen; er ließ seinen Helden (Fabian) Descartes und Schopenhauer lesen, und er bediente die neusachlichen Topoi Werbung, Technik, Sport, die neuen Massenmedien Zeitung und Film. Allerdings werden die neuen Errungenschaften der Zeit auch kritisiert: Zigarettenwerbung, Propaganda (…) und auch die eigene Berufsgruppe der Journalisten wird kritisch vorgeführt…“ (Hrsg. der Urfassung Sven Hanuschek, S. 280f.).

Der Verlag (DVA), bei dem das Buch schließlich 1931 erscheint, streicht erotisch „anstößige“ Stellen sowie politisch riskante Aussagen und ändert den Titel in „Fabian. Die Geschichte eines Moralisten“. Es ist ein Berliner Gesellschaftsroman des moralischen Niedergangs der Weimarer Republik und des aufkommenden Nationalsozialismus. Hauptheld ist Jakob Fabian, promovierter Germanist, der sich als „Propagandist“ (Werbetexter) durchschlägt und eine pessimistische Weltsicht vertritt. Sein bester Freund ist Stephan Labude, der mit seiner Habilitationsschrift wegen einer Intrige scheitert und deswegen Selbstmord begeht. Fabian verliert auch seine Geliebte Cornelia, die sich – um ihrer Karriere willen – mit einem Filmboss einlässt. Das tragische Ende des Romans soll hier nicht verraten werden. Es existieren zwei hervorragende Verfilmungen des „Fabian“: Die erste von 1980 von Wolf Gremm (117 Min./mit Hans Peter Hallwachs), die zweite von 2021 von Dominik Graf (178 Min./mit Tom Schilling in der Hauptrolle) waren beide sehr erfolgreich.

Der Roman wird der Neuen Sachlichkeit zugerechnet, einer Strömung von Werken der zweiten Hälfte der 1920-er bis Anfang der 1930-er Jahre, die den Expressionismus ablöste und nicht nur die Literatur prägte, sondern sich auch in der Kunst, der Architektur, in Fotografie und Film manifestierte. Bekannte Autorinnen und Autoren dieser Phase sind auch Hans Fallada, Vicki Baum, Gabriele Tergit, Lion Feuchtwanger, Irmgard Keun, Kurt Tucholsky, Alfred Döblin, Erich M. Remarque (Prosa), Mascha Kaléko, Joachim Ringelnatz, Kästner mit „Sachliche Romanze“ (Lyrik) und Ödön von Horváth (Drama).

Kaum überschaubar ist die Zahl von politischen Artikeln, Aufrufen und Reden Kästners.

Bis 1933 und ab 1945 sind es mehrere tausend Texte. Eine Auswahl ist unter dem Titel „Resignation ist kein Gesichtspunkt“ kürzlich erschienen (Zürich 2023).

Am 10. Mai 1933 ist er als einziger betroffener und in Deutschland verbliebener Autor dabei, als auf dem Platz vor der Berliner Oper bei der Bücherverbrennung auch seine Werke auf den Scheiterhaufen geworfen werden mit dem Ruf: „Gegen Dekadenz und moralischen Verfall! Für Zucht und Sitte in Familie und Staat! Ich übergebe der Flamme die Schriften von Heinrich Mann, Ernst Glaeser und Erich Kästner!“ Als Beobachter dieser von nationalsozialistischen Professoren und Studenten durchgeführten Aktion wird er erkannt, kann sich aber unbehelligt entfernen. Von nun an hat er weitgehend Publikationsverbot und kann nur noch unter Decknamen veröffentlichen. Seine Arbeit am Drehbuch zum UFA-Farbfilm „Münchhausen“ (1943) ist mit dem Pseudonym Berthold Bürger möglich. Die Ausnahmegenehmigung von Propagandaminister Goebbels entbehrt nicht der Ironie, da die Buchvorlage von 1786 von Gottfried A. Bürger stammt.

Dabei ist Kästner in der „glücklichen“ Lage, dass seine Bücher im Schweizer Atrium-Verlag (Zürich) erscheinen und er daher in den Jahren der sogenannten „Inneren Emigration“ von diesen Tantiemen leben kann. Allerdings hat er sich – im Unterschied zu anderen im Dritten Reich verbliebenen Autoren – nie als „innerer Emigrant“ bezeichnet, sondern immer als Beobachter und Chronist dieser Zeit gesehen. Schon Mitte der 1930-er Jahre wird er wiederholt von der Gestapo verhört, führt dennoch 1941, 1943 und 1945 ein geheimes Kriegstagebuch (vielleicht vergleichbar mit dem jüdischen Tagebuchschreiber Victor Klemperer, der durch die Ehe mit einer „arischen“ Frau vor der Vernichtung im KZ einigermaßen geschützt war). Ein weiterer Grund, in Deutschland zu bleiben, war Kästners enge Bindung zu seiner Mutter, die er nicht verlassen möchte. Mehr zu seiner Zeit ist in dem jüngsten Buch von Tobias Lehmkuhl, „Der doppelte Erich. Kästner im dritten Reich nachzulesen.

Kurz vor Kriegsende gelingt es ihm, mit einem größeren Filmteam zwecks angeblicher Außenaufnahmen nach Tirol zu entkommen, wo die anrückenden amerikanischen Truppen die Filmcrew retten.

Bereits 1945 lässt er sich in München nieder, ist an der Gründung des Kabaretts „Die Schaubude“ beteiligt und bezieht unermüdlich Stellung zu politischen und gesellschaftlichen Themen, z. B. gegen Wiederbewaffnung und die atomare Bedrohung, für Pazifismus, für die Pressefreiheit im Zuge der SPIEGEL-Affäre 1962, gegen den Vietnamkrieg und hält Reden zu wichtigen Anlässen (zum 20. Jahrestag der Bücherverbrennung am 10. Mai 1953 und am 20. Juli 1954 zur Ehrung der Attentäter von 1944, die er als Vorbilder für die Jugend pries). Von 1951 bis 1962 ist er Leiter der deutschen Schriftstellervereinigung des PEN, danach zieht er sich zunehmend aus der Öffentlichkeit zurück.

Gesundheitlich geht es bergab, nicht zuletzt wegen seiner Alkoholsucht und dem extremen Tabakkonsum. Er stirbt 1974 an Speiseröhrenkrebs in München im Alter von 75 Jahren. 2024 kann er demnach sowohl zum 125. Geburtstag als auch 50 Jahre nach seinem Tod am 29. Juli von interessierten Lesern und Leserinnen neu entdeckt werden.

 

 

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