,,Jede Orgel ist eine Herausforderung“

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Der Konzertorganistin, Chorleiterin und Musikpädagogin Ilse Maria Reich zum 80.

Ausgabe Nr. 2851

Ilse Maria Reichs Erinnerungen „Von Orgel zu Orgel“ sind pünktlich zu ihrem 80. Geburtstag erschienen.                                         Foto: Christoph REICH

Bei siebenbürgischem Publikum und Musikliebhabern erfreut sich Ilse Maria Reich eines großen Bekanntheitsgrades. Ihre Orgelkonzerte – sowohl in Rumänien als auch in ganz Europa – haben ihren Namen auch auf internationaler Bühne bekannt gemacht. Pünktlich zu ihrem 80. Geburtstag am 13. Februar d. J. ist der Rückblick auf ihr bewegtes Leben „Von Orgel zu Orgel“ auch in Buchform erschienen. „Ich erzähle hier die Geschichte meiner tiefen Zuneigung zur Musik, insbesondere zur Orgel, einem wunderbaren Instrument, das mein Leben maßgeblich bestimmt hat. […] Von Orgel zu Orgel bin ich gereist – viele Jahre. Zahlreiche Orte und wunderbare Menschen durfte ich kennenlernen, auch Künstler mit denen ich jahrelang musiziert habe,“ teilt Reich im Vorwort mit.

Als Siebenjährige erhielt die gebürtige Hermannstädterin ersten Klavierunterricht von ihrem Vater, Pfarrer Ernst Helmuth Chrestel. Ihr Interesse und ihre Liebe zur Orgel verdankt sie eher einem Zufall: Als im Frühjahr 1954 die Organistin aus Baaßen wegzog, übernahm sie ab dem Muttertag im Alter von zehn Jahren die vakante Organistenstelle. Ihren Weg von Orgel zu Orgel begann sie bereits als Dreizehnjährige, als sie ihr erstes öffentliches Konzert gab. 1973 startete sie ihre internationale Karriere als Konzertorganistin. Es folgten Schallplatten- und CD-Aufnahmen, Auftritte im rumänischen Rundfunk und Fernsehen. Auch heute noch spielt sie in der Erlöserkirche in Landshut jeden Sonntag im Gottesdienst die Orgel.

Namhafte Musikkritiker äußerten sich meist sehr positiv zu Reichs Konzerten. So lobten sie z. B. ihr Talent, ihre vorzügliche und immer präsente Technik, mit der sie den virtuosen Orgelwerken in jeder Beziehung gerecht wurde, ihre große Kommunikationskraft und ihre außerordentliche Spielfreude. Solche Konzertbesprechungen bekräftigten die Künstlerin und ermutigten sie, ihr Konzertrepertoire immer mehr zu erweitern. So ist es nicht verwunderlich, dass sie im Laufe von sieben Jahrzehnten Werke aus dem Barock (Buxtehude, Sweelinck, Bach, Händel, Bruhns, Telemann, Walther, Quantz), der Klassik (Mozart, Beethoven, Haydn, Kuchar, Seger, Cernohorski), über die Romantik (Reger, Franck, Brahms, Liszt, Mendelssohn, Bruckner) bis hin zur Moderne (David, Hindemith, Alain, Kodály, Bartók, Pepping, Reda) aufführte.

Ilse Maria Reich spielte in ihren Konzerten regelmäßig auch Orgelkompositionen siebenbürgischer, Banater und Bukarester Komponisten: Daniel Croner, Rudolf Lassel, Andreas Porfetye, Ede Terényi, Tudor Ciortea, Anatal Vieru, Miriam Marbé, Liana Alexandra, Şerban Nichifor, Wilhelm Georg Berger, Franz Xaver Dressler, Waldemar von Baußnern. Etliche Orgelwerke, die ihr gewidmet wurden, hat sie uraufgeführt: Terényi (3), Vieru (1), Marbé (2), Alexandra (5), Nichifor (3), W. G. Berger (2).

In ihrer Autobiografie „Von Orgel zu Orgel – Mein Weg als Organistin“ hat Ilse Maria Reich ihre Erinnerungen in sieben große Kapitel gegliedert: „Meine Kindheit und Jugend“, „Lehrjahre“, „Mein Weg von Orgel zu Orgel“, „Musikschule in Rottenburg an der Laaber“, „Siebenbürgische Kantorei“, „Studio für Alte Musik“, „Ausklang“. Viele Einzelheiten aus dem Alltag der Autorin stellen ein wichtiges Zeitdokument der Jahre des Umbruchs nach 1944, des Kommunismus und schließlich des Exodus der Siebenbürger Sachsen dar.

Die Rückschau der Künstlerin zeigt das Leben einer starken Frau, beginnend mit dem Winter des Kriegsjahrs 1944 in Siebenbürgen. Ihre Kindheit verbrachte sie mit vier Geschwistern auf dem Pfarrhof in Baaßen. Ab ihrem zehnten Lebensjahr übte sie regelmäßig an der Orgel, obwohl ihre Füße nur bedingt an die Pedalklaviatur reichten. 1956 gründete die Evangelische Kirche A.B. in Rumänien die Kantorenschule in Baaßen, die Pfarrer Chrestel, Ilse Marias Vater, leitete. Nachdem 1948 die deutschen Schulen verstaatlicht wurden und die Evangelische Kirche nicht mehr der Schulträger war – die Lehrer waren gewöhnlich auch Kantoren – gab es in den siebenbürgisch-sächsischen Gemeinden einen großen Organistenmangel.

Ilse Maria Reich: Von Orgel zu Orgel. Mein Weg als Organistin, Edition Musik Südost, München 2024, 272 Seiten, reich bebildert, ISBN 978-3939-04142-9. Das Buch kann direkt bei der Autorin (Telefon: 08 71 9 66 66 73/01 60 94 55 21 08, E-Mail: ilsemariareich@t-online.de), zum Preis von 20 Euro, zuzüglich Versand, erworben werden. In Hermannstadt im Erasmus-Büchercafé und in der Schillerbuchhandlung für 65 Lei erhältlich.

1962 heiratete Ilse Maria den Pfarrer Christian Reich, der Gemeindepfarrer in Trappold und danach in Burgberg war, wo Ilse Maria Reich auch als Organistin wirkte. Zwei ebenfalls sehr musikalische Söhne wurden dem Paar geschenkt. Victor Bickerichs Prophezeiung „Nun wird ihre Kunst in den Windeln verschwinden“ bewahrheitete sich dank Ilse Marias Zielstrebigkeit, ihrem Fleiß und der Unterstützung, die sie durch Ehemann und Familie erfuhr, nicht. Die junge Mutter übte weiterhin täglich mehrere Stunden an der Orgel oder am Klavier. Beim staatlichen Solistenexamen 1969 in der Bukarester Philharmonie, sagte einer der Juroren: „Sie sind ja zu klein für die Orgel!“ Sie bestand die Prüfung und setzte ihren Weg von Orgel zu Orgel mit noch mehr Elan und Selbstvertrauen fort.

Nach ihrem Umzug nach Bukarest 1976 folgten viele Konzerte mit berühmten Interpreten. Parallel zu ihren Konzertreisen besuchte die Künstlerin auch Meisterkurse bei namhaften Professoren. 1980/81 studierte sie als Stipendiatin an der Hochschule für Musik und Theater Hannover. An der evangelischen Kirche in Bukarest war sie hauptamtlich als Organistin und Chorleiterin tätig. Als ihr das Landeskonsistorium das Studium nicht anerkannt hatte, weil sie kein Abitur habe, besuchte sie mit 37 Jahren noch zusätzlich zu Familie, Beruf und Konzertreisen auch das Abendgymnasium in Bukarest und holte die Reifeprüfung nach.

1985 folgten Schallplattenaufnahmen an der barocken Hahn-Orgel (1755) der Mediascher Margarethenkirche: die erste mit Werken für Orgel von Bruhns, Sweelinck, Buxtehude und Bach und eine zweite mit Händels Konzerten für Orgel und Orchester. In Bukarest folgten Aufnahmen mit Musik von Bach und Händel mit Martha Kessler (Alt), Virgil Frâncu (Querflöte), Robert Dumitrescu (Viola da Gamba). Ilse Maria übernahm hier den Cembalopart. 1986 wurden weitere Händelkonzerte für Orgel und Orchester in Mediasch aufgenommen.

Besonders erwähnenswert sind die in der evangelischen Kirche Bukarest zwischen 1984 und 1987 aufgeführten Oratorien (Der Messias von Händel, Johannespassion und Weihnachtsoratorium von Bach und Die Schöpfung von Haydn) und die Kantaten, die das Ehepaar Reich sehr professionell mit Musikerfreunden – trotz erschwerter Bedingungen – zur Aufführung brachten. Obwohl im Kommunismus für Kirchenkonzerte keinerlei Werbung gemacht werden durfte, außer zwei von Hand gestalteten Plakaten an den Kirchentüren, platzte bei diesen Vorstellungen der Kirchenraum aus allen Nähten. 1987 erhielt die Künstlerin Auftrittsverbot; ein Großteil ihrer Verwandten lebte inzwischen in Westdeutschland. 1988 reiste die Familie ebenfalls aus.

Unermüdlich und vielseitig tätig war Ilse Maria Reich auch nach ihrer Ausreise: In Rottenburg an der Laaber gründete sie eine städtische Musikschule und leitete sie bis zur Rente 2006. Mit Bukarester Musikfreunden (Robert Dumitrescu, Anca Iarosevici und Georgeta Stoleriu) gründete sie das „Studio für Alte Musik“ und bestritt viele Konzerte im Athenäum in Bukarest und in Deutschland. Von 1996 bis 2014 leitete sie die Siebenbürgische Kantorei, ein Projektchor, der mehrheitlich aus in Deutschland zugewanderten Siebenbürgern besteht und zwei Mal im Jahr zusammenkommt. Einstudiert und aufgeführt werden anspruchsvolle Stücke verschiedener Epochen vorwiegend von Komponisten, die aus Siebenbürgen stammen oder dazu Bezug haben. In dieser Zeit entstanden drei CD-Aufnahmen. Unaufhaltsam setzte Reich auch ihren Weg von Orgel zu Orgel fort. Seit 1989 spielt sie jeden Sonntag im Gottesdienst in „ihrer“ Erlöserkirche in Landshut und möchte das gerne noch etliche Jahre fortsetzen. Ihren Sohn Christoph Reich (Bariton) begleitet sie auch weiterhin bei verschiedenen kulturellen Anlässen an Klavier und Orgel.

Bei so zahlreichen und vielfältigen Aktivitäten dieser Künstlerin stellt man sich berechtigt die Frage, wie wohl diese regsame Musikerin als Mensch ist. Ein ihr nahe stehender Verwandter beschreibt sie wie folgt: „Ilse Maria Reich ist eine Künstlerin und zugleich ein fürsorglicher Familienmensch. Trotz ihrer vielseitigen Arbeit findet sie immer Zeit, sich liebevoll um ihre Familie zu kümmern. Sie ist großzügig und hilfsbereit, aber auch zielstrebig, eifrig und voller Tatendrang. Ihre Ausdauer ist bemerkenswert, und sie verfügt über eine ausgeprägte Selbstdisziplin. Sie kann sich gut motivieren und organisieren. Außerdem besitzt sie die Fähigkeit, Menschen für ihre Ziele und Ideen zu begeistern und einzubinden. Sie ist freundlich und hilfsbereit, aber auch mutig genug, schwierige und unbequeme Themen anzusprechen. Sie hat immer noch viel Energie und ist stets in Bewegung. Eine ihrer weiteren Leidenschaften ist das Lesen, aber sie kocht und backt auch sehr gerne für andere und lädt mit Freude ihre Großfamilie und Freunde ein.“

In der Zeit, als Reich noch aus Rumänien auf Tournee fuhr, vermittelt durch die damals einzige Konzertagentur ARIA in Bukarest, wunderten sich die Musikkritiker im Ausland, dass Rumänien eine lebendige Orgelkultur pflege, und wie gut die „Rumänin“ das Spiel beherrsche. Im siebenbürgischen Musikleben erfreut sich die Orgel jedoch einer jahrhundertealten Tradition.

In die Reihe der berühmten Organisten und Chordirigenten Siebenbürgens und des Banats, z. B. Philipp Caudella (1771-1826), Johann Leopold Bella (1843-1936), Rudolf Lassel (1861-1918), Victor Bickerich (1895-1964), Franz Xaver Dressler (1898-1981), Kurt Mild (1914-2008), Helmut Plattner (1927-2012), Horst Gehann (1928-2007), und Franz Metz (*1955), ist auch der Name Ilse Maria Reich einzuordnen.

Nach dem Sturz des kommunistischen Diktators Ceauşescu im Dezember 1989 wurde an der „Gheorghe Dima“-Musikhochschule in Klausenburg das Studienfach Orgel wieder eingeführt, wo Ursula Philippi, ehemalige Privatschülerin von Hans Eckart Schlandt, als Professorin wirkte und Kantoren aller in Siebenbürgen vertretenen Konfessionen ausbildete.

Durch engagierte Organisten wie Hans Eckart Schlandt, Steffen Schlandt und Paul Cristian in Kronstadt, Amalia Erdös und Erich Türk in Klausenburg, Edith Toth in Mediasch, Theodor Hallmen in Schäßburg, Brita Falch-Leutert und Jürg Leutert in Hermannstadt, Robert Bajkai-Fabian und Denis Moldovan in Temeswar lebt die Orgeltradition in Siebenbürgen und dem Banat auch nach der Massenauswanderung in den 90er Jahren weiter.

Ilse Maria Reichs rege Tätigkeit als Organistin, Chorleiterin und Musikpädagogin wurde 2006 mit der Bürgermedaille in Silber der Stadt Rottenburg an der Laaber und 2014 mit der Pro-Meritis-Medaille des Verbands der Siebenbürger Sachsen in Deutschland gewürdigt.

Auf meine Frage, was die größte Herausforderung auf ihren vielen Tourneen gewesen sei, antwortete Reich: „Jede Orgel ist im Grunde eine Herausforderung für einen Organisten. Es gibt keine zwei gleichen Orgeln. Ob klein oder groß, ob zwei Manuale oder fünf. Man muss die verschiedenen Register ausprobieren, den Stücken, die man spielen will, anpassen und dann achtgeben, dass der Registrant an den besagten Stellen das richtige Register zieht. Wenn die Traktur mechanisch ist, muss man sich schon sehr abrackern, z. B. in Riga oder Kronstadt an der Buchholz-Orgel. Man muss aber aufpassen, dass das Technische nicht im Vordergrund bleibt, man will ja Musik machen.“ Mein Fazit: Das Spielen auf der Orgel erfordert höchste Konzentration, ausgefeilte Technik und außerordentliches Können, um mehrere Manuale für nur zwei Hände, dazu das Pedal, die vielen Register und unterschiedlich gute Registranten gleichzeitig im Blickfeld zu haben – das ist Multitasking hoch zehn! Chapeau!

Wer die Autobiografie „Von Orgel zu Orgel – Mein Weg als Organistin“ gelesen hat, wird in Zukunft Orgelkonzerten mit anderen Ohren lauschen.

Herzlichen Glückwunsch zu diesem reichen Lebenswerk und noch viele gesunde und schaffensfrohe Jahre!

Angelika MELTZER

Veröffentlicht in Aktuelle Ausgabe, Musik, Persönlichkeiten.