Gedanken zur Neuauflage des Debütbandes von Johann Lippet
Ausgabe Nr. 2850
Sollte die Behauptung zutreffen, die ähnlich vor allem auf Politiker oder Regierungen gemünzt wird, dass Schriftsteller und Schriftstellerinnen die Leserschaft haben, die sie verdienen, dann können wir für den doch relativ kleinen Banater deutschen Literaturbetrieb behaupten, dass sich Johann Lippet verdienter Weise einen breiten und treuen Leserkreis erschrieben hat. Das von Anfang an. Sein erstes Buch, beim Bukarester Kriterion Verlag in dessen Hefte-Reihe Ende 1980 unter dem Titel „biographie.ein muster.gedicht“ erschienen, hatte eine für ein (Lang)Gedicht von 73 Seiten beachtliche Auflage (Druckbogen: 4,75, 875 Exemplare für den Buchhandel), die rasch ausverkauft war.
Dass dieses Poem dann gleich mit dem Debütpreis des Rumänischen Schriftstellerverbandes 1980 und dem Förderpreis des Adam-Müller-Guttenbrunn-Literaturkreises Temeswar 1983 für Lyrik gewürdigt und 1983 ins Rumänische übertragen wurde, belegt die Bedeutung, die dieser ersten Buchveröffentlichung Lippets zukam, sowohl vom eigenwilligen Stil, der Schreib- und Machart, seiner unverkennbaren Sprache, als auch von den Themen her. Er zählte immer zu den führenden Stimmen in der Autorengruppe, wie auch anschließend im Müller-Guttenbrunn-Literaturkreis bis zu seiner Ausreise 1987 und er trug mitentscheidend bei zum literarischen Aufbruch in der Banater deutschen Literatur ab den 1970er Jahren.
Der damals 30jährige Lippet, der von Anfang an zum Kern der jungen Banater Autorengruppe in Temeswar gehörte, zeigt mit dem Langgedicht die Abwendung von tradierten, altbekannten Formen, schafft originelle Sprachgebilde von hoher poetischer Kraft. Es ist eine literarische Innovation ohne unverständlich zu werden, wie auch ein poetisches Experiment mit deutlichen Provokationen in diesem damaligen Banater deutschen Literaturbetrieb. Für die Leserschaft überraschend gleich der thematische Einstieg ins Lyrische: die „Russland-Deportation“. Folgen werden weiter literarisch deutlich gemacht, anfangs aus der Kinderperspektive. Ein frühes, meist lyrisches autobiographisches Bekenntnis-Buch. Im Unterschied zu anderen jungen Autoren und Autorinnen jener Zeit, kommt der Lyriker und Romanautor Lippet in seinen literarischen Veröffentlichungen ohne aneckende Boshaftigkeiten und Groteske aus, er kann alles, auch das Bitterste, mit ausgewählten Worten knapp und treffend schreiben. Johann Lippet war und ist der stillere aus jenem Kreis, der mit dem Tod von Richard Wagner im März 2023 seinen politischen und literarischen Motivator verloren hat, was nicht heißt, dass Lippet weniger streitbar und rebellisch war (aber ohne maoistisch-anarchistische Züge) und sich in seinem Werk weniger kritisch an Geschichte, Zeit und eigene Gemeinschaft wagte. Denn nur so erklärt sich seine Einordnung von seitens rumänischer Schriftsteller. Dinu Flămând schrieb nach dem Erscheinen der rumänischen Übersetzung des Biographie-Poems („biografie.un model.poem”, Cartea Românească 1983, Übersetzer Gabriel Gafita) u. a.: „Das Gedicht ist einzigartig in unserer Literatur. Es strahlt die ruhige Ungestümheit tiefer Wasser aus.“ Flămând meinte die gesamte damalige Literatur in Rumänien, vor allem die Generation der 80er Jahre.
Für den Banater Leserkreis zeigte sich mit dem Langgedicht, das teilweise im Vorfeld schon im Temeswarer Literaturkreis vorgestellt und besprochen worden war, dass Lippet „unser großer Erzähler“ wird und zum „literarischen Chronist seiner Gemeinschaft“ (siehe dazu die Würdigung zum 70. in der Hermannstädter Zeitung vom 8. Januar 2021). Zudem war und ist der Wiseschdiaer Lippet aus dem engen Kreis der damaligen Banater Autorengruppe der Gemeinschaft, der er entstammt, stets am nächsten und verbunden geblieben. Er hat sich wie kein anderer Banatdeutscher Autor dieser Generation tief in die Intimitäten der schwäbischen Welt und ihrer Geschichte eingearbeitet und sie künstlerisch ausgewertet, authentisch, auch im Fiktionalen wahrheitsgetreu und immer glaubwürdig, er hat seine eigene Art der Gesellschaftskritik gefunden. Lippet zählt zu den Geradlinigen seiner Autorengeneration, dem keine Kompromisse vorgeworfen werden können und der daher verschont blieb von den üblichen Anschuldigungen und Vorwürfen der Zeit nach der politischen Wende, die bis heute anhalten und für die sich hierzulande gern auch ein Anwalt findet.
Das waren alles Argumente dafür, dass der Pop-Verlag Ludwigsburg im Herbst des Vorjahres die Muster-Biographie in einer vom Autor durchgesehenen, kritischen Neuauflage herausgebracht hat, angereichert mit zwei Dutzend erläuternden Stellenkommentaren zum Poem, biobibliographischen Daten und einem grundlegenden Kontext-Essay von Walter Fromm. Dazu muss dem Verleger Traian Pop wieder Dank gesagt werden für seinen Einsatz um die Literatur der Deutschen aus Rumänien, zumal die Banater in Deutschland schon lange keinen eigenen Verlag haben. Allein aus dem reichen Schaffen von Lippet hat Pop seit 2008 zehn Titel herausgegeben. Lippet schreibt nun seit einem halben Jahrhundert in seiner unverkennbaren Art über sich, über uns, das Banat, Rumänien und über uns alle hier. So steht sein Gesamtwerk als literarisches, akribisches und ehrliches Zeugnis unserer Geschichte der Leserschaft offen. Daher ist es erstaunlich, dass dieses Lebenswerk trotz mehrfacher Vorschläge von unterschiedlichen Stellen und Personen schon vor Jahren, von der unabhängigen (Fach)Jury in Baden-Württemberg nicht mit dem Donauschwäbischen Kulturpreis gewürdigt wurde. Der wichtigste Preis für den Autor war und ist jedoch sicher die Wertschätzung seiner Leser und die frühe, einmalige Anerkennung seitens der rumänischen Literaturkritik.
Der Neuauflage des Poems – so die Änderung des Autors im Untertitel – ist eine tiefgründige, fast textsezierende wissenschaftliche Abhandlung von Walter Fromm ergänzend beigegeben. Fromm, ein gebürtiger Heltauer (Jahrgang 1950) ist ein guter Kenner der rumäniendeutschen Literatur der Nachkriegszeit und Autor einer Lyrik-Anthologie der Jahre 1975-1980, die in Rumänien nicht erscheinen durfte. In seinem Essay geht Fromm von der breiteren literarischen Thematik Autobiographien aus, als Texte „gegen die Lügen der Macht“, die auf Geschichtsfälschung beruht. Argumentiert untermauert der Kritiker die einzigartige literarische Bedeutung des autobiographischen Erzählens von Lippet, eine späte, aber beste Neuwertung und Interpretation des Erstlingswerks des Banater Autors.
Der Literaturkritiker bestätigt dem damals jungen Lyriker den Drang nach Bekenntnissen, Aufrichtigkeit, Authentizität und Wahrhaftigkeit und bezeichnet diese Biographie als „Positionsbestimmung und Selbstvergewisserung“. Im literaturhistorischen Kontext stellt Fromm den Autor als den „Tolstoi-Typ“ vor und für die deutsche Literatur in Rumänien damals einen literarischen „Sonderfall“. Die veröffentlichte Biographie schätzt er als „eines der wichtigsten Bücher der kleinen deutschen Literatur Rumäniens in ihrer Endphase“ ein, das Buch sei „pralles Leben“. In mehreren Abschnitten geht der Kritiker ausführlich auf die Tabu-Brüche ein, die sich im Langgedicht findet.
Abschließend unterzieht Fromm die seinerzeit in Rumänien erschienenen Rezensionen einer scharfen Kritik, da sie Lippets Erstlingswerk durchwegs verkannt oder nicht verstanden hatten. Diesen Urteilen stellt er die einzigartige und einmalige Einschätzung und Anerkennung bis hin zu Bewunderung seitens rumänischer Literaturkritiker und Autoren der jüngeren Generation gegenüber. Man kann sich der Schlussüberlegung des Literaturkritikers – „Wenn das Gedicht denn nur wahrgenommen werden würde.“ – nur anschließen, das sowohl in den banatschwäbischen Kreisen, vor allem aber darüber hinaus.
Auf der letzten Seite des Buches wird den Interessenten über einen QR-Code die Möglichkeit geboten, Hörbeispiele von Lippet-Texten herunter zu laden.
Luzian GEIER