Verbriefte Freiheit und Eigenverantwortung

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800 Jahre ,,Privilegium Andreanum“ / Von Thomas ȘINDILARIU

Ausgabe Nr. 2848

Die älteste erhaltene Fassung des Andreanums von 1224 ist die Bestätigung der Urkunde durch König Karl Robert aus dem Jahr 1317. Sie wird im Hermannstädter Staatsarchiv aufbewahrt.

Das Privilegium Andreanum von 1224 als grundlegende Verfassungsurkunde der Siebenbürger Sachsen und ihrer Kirche im Spiegel von „Verantwortlich handeln, nachhaltig verwalten“, dem Jahresmotto der Evangelischen Kirche A. B. in Rumänien für das Jahr 2024, betrachtete Unterstaatssekretär Thomas Șindilariu in seinem Vortrag „Verbriefte Freiheit und Eigenverantwortung seit 800 Jahren”, den er im Rahmen der 92. Landeskirchenversammlung der Evangelischen Kirche A. B. in Rumänien gehalten hat und den er der HZ dankenswerterweise zur Veröffentlichung zur Verfügung gestellt hat.

Warum gibt es uns überhaupt hier in Siebenbürgen und nicht an Rhein und Mosel?

Schuld ist der Klimawandel, nicht der gegenwärtige, sondern jener, der um das Jahr 1200 zu verzeichnen war, ehe die sogenannte kleine Eiszeit rund 200 Jahre danach einsetzte. Man weiß heute nicht genau, durch was es damals wärmer wurde, also durch Menschenhand oder aufgrund anderer Faktoren, aber es war damals so warm, wie schon lange nicht davor. Dies bedeutete zunächst mehr landwirtschaftliche Flächen – so hoch über dem Meeresspiegel wie noch nie, wurde z. B. Weizen angebaut. Es gab allgemein mehr Ernte, es überlebten mehr Menschen, bald zu viele Menschen. Hungersnöte und eine gewisse Radikalisierung der Gesellschaft waren die Folgen, ein Ventil musste her und wurde u. a. im Kreuzzugsgedanken und in der deutschen Ostsiedlung gefunden.

Den Kreuzfahrern standen zwei Routen zur Verfügung, eine für, sagen wir mal Reichere, die über Jesolo und Venedig per Schiff ins Heilige Land führte. Für ärmere Kreuzfahrer ging es per pedes durch Ungarn, die Balkanhalbinsel über Kleinasien Richtung Jerusalem. So zogen denn die Teilnehmer des Zweiten Kreuzzuges 1147 durch Ungarn, unter ihnen Bischof Otto von Freising, der Chronist von Kaiser Friedrich Barbarossa. Zu Ungarn hielt er fest, dass es ein „Paradies Gottes“ sei und verrät dadurch, was die Kreuzfahrer mehr suchten als die Befreiung des Grabes Jesu Christi von den Heiden, nämlich besiedelbares Land, wie in Ungarn verfügbar. Es sei noch erwähnt, dass es damals beim Durchziehen eines befreundeten Heeres üblich war, Geiseln zu stellen. Diese wurden nicht in Gefangenschaft gehalten, sondern, so lange das durchziehende Heer sich friedlich verhielt, als Gäste behandelt, mit denen man gemeinsam auf die Jagd ging und sämtliche Formen des höfischen Lebens teilte. Ungarn und auch Siebenbürgen rückten auf diese Weise ins Blickfeld der Westeuropäer. Das besondere Kennzeichen der deutschen Ostsiedlung, zu der auch die Ansiedlung der Vorfahren der Siebenbürger Sachsen gehört, ist, dass sie die einzige Völkerwanderung war, die von West nach Ost verlief.

Bucheinband von Georg Schergs Roman „Da keiner Herr und keiner Knecht“, zweite durchgesehene Auflage 1966, Literaturverlag Bukarest

Welche globalen Bevölkerungsbewegungen der gegenwärtige Klimawandel auslösen wird, ist noch nicht abzusehen. Vielleicht ist ja auch eine neue kleine deutsche Ostsiedlung mit dabei, immerhin gibt es ja vielerorts schon Glasfaserkabel in den entlegensten Ortschaften, was als attraktiver Pluspunkt nicht zu unterschätzen ist. Die Sonne scheint mehr als an Mosel und Rhein etc.

Die Deutsche Ostsiedlung war keine Armutsmigration, sondern eine von spezialisierten Fachkräften in militärischer, landwirtschaftlicher und städtebaulicher Hinsicht – dasselbe gilt auch für Handwerk und Handel. Will man eine derartige Bevölkerung ansiedeln, so muss man ihr auch etwas anbieten, damit sie ihre Heimat verlässt, am besten das, was an Rhein und Mosel durch die Intensivierung der landesfürstlichen Herrschaft und des bischöflichen Regiments verlorenzugehen drohte. Das war im Wesentlichen die freie und eigenverantwortliche Verwaltung der weltlichen und kirchlichen Gemeinde.

Die Einleitung des Andreanums von 1224 bestätigt diese Sichtweise, wenn es da heißt, dass die deutschen Siedler König Andreas II. baten, ihre alten Freiheiten, mit denen der Großvater von König Andreas sie angeworben hatte, zu schützen und zu bestätigen. Das Wort „Großvater“ aus dem Andreanum führte übrigens dazu, dass die Ansiedlung der Siebenbürger Sachsen mit dem Herrschaftsantritt jenes Großvaters datiert wurde – das war 1141 mit der Krönung von Géza II. der Fall. Mehr an Quellen haben wir dazu nicht. Die neuesten Forschungen deuten übrigens darauf hin, sogar einen noch früheren Siedlungsbeginn anzunehmen, gewissermaßen im Windschatten des Ersten Kreuzzuges um das Jahr 1100. Im Nicken von Altlandeskirchenkurator Prof. Dr. Paul Niedermaier, dem Fachmann für die siebenbürgische Siedlungsgeschichte, erkennen Sie bitte die hier nicht mögliche wissenschaftliche Absicherung durch Fußnoten.

Eine goldene Bulle im diplomatischen Sinne war das Andreanum übrigens nicht. Die Bezeichnung „Goldener Freibrief kann nur auf die Großzügigkeit des Inhalts bezogen werden. Das Andreanum ist nämlich das umfassendste und großzügigste Siedlerrecht gewesen, das im Rahmen der deutschen Ostsiedlung, also zwischen dem Baltikum und Siebenbürgen verliehen wurde.

Was bot diese Verfassungsurkunde, das Andreanum eigentlich?

Zunächst heißt es darin „unus sit populus“, eine Einheit sollten die deutschen Siedler weiterhin bilden können und unter einem einzigen Richter stehen, dem späteren Comes der Sächsischen Nation. Das heißt nichts anderes, als Rechtsgleichheit und damit schlicht Gleichheit unter den Siedlern und damit Ausschluss jeglicher Adelsvorrechte.

Zweitens freie Wahl der Richter und Beamten aus den eigenen Reihen, eigenverantwortlich sollte das geschehen und ohne jede Einmischung von außen.

Drittens sollte als einzige Steuer 500 Silbermark jährlich entrichtet werden. Für das in Überarbeitung begriffene Schulbuch „Geschichte und Traditionen der deutschen Minderheit in Rumänien“ haben wir diese Angabe umgerechnet: die Siebenbürger Sachsen mussten jährlich 117 kg Silber abführen – das war ganz und gar nicht wenig! König Bela III. zum Beispiel gab 1186 mit seinen Steuereinkünften seitens der Siebenbürger Sachsen an, als er sich als Brautwerber in Frankreich bemühte. Seine Angaben waren mit 15.000 Silbermark „leicht“ übertrieben. Brautwerbung eben…

Viertens sollten die Siedler dem König 500 Bewaffnete stellen, wenn es um Konflikte im Inneren des Königreiches ging, wenn also Bürgerkrieg herrschte. Das ist eine essentielle Bestimmung, da der König im Inneren gerade machtlos geworden war durch die Goldene Bulle für den Adel aus dem Jahre 1222, die es dem König untersagte, im Inneren des Reiches Gefolgschaft von den Adligen einzufordern. Zog der König gegen eine ausländische Macht, sollten die Sachsen im Gegenzug lediglich 100 Bewaffnete stellen.

Dr. Harald Roth hat jüngst herausgearbeitet, dass das Andreanum im November-Dezember 1224 und einem ganz konkreten Zweck diente: der Vertreibung des Deutschen Ordens aus dem Burzenland, die aller Wahrscheinlichkeit infolge eines Winterfeldzuges zu Beginn des Jahres 1225 geschah.

Fünftens heißt es: „Sie sollen ihre Pfarrer frei wählen und die Gewählten dem Bischof vorstellen [aber nicht bestätigen, sondern nur vorstellen]. Sie sollen dem Pfarrer den Zehnten geben und in allem kirchlichen Recht sollen sie [die Siebenbürger Sachsen] ihren Pfarrern nach altem Herkommen Rede und Antwort stehen“. Hier werden Konturen der Kirchlichkeit der Siebenbürger Sachsen sichtbar, die auch die Reformation lang überdauert haben.

Sechstens sollen die Siebenbürger Sachsen nur nach ihrem Gewohnheitsrecht gerichtet werden und eben nach keinem anderen Recht.

An dieser Stelle überspringe ich einige Punkte, die weniger essentiell sind. Die freie Nutzung der Wälder und Gewässer tritt der König den Siebenbürger Sachsen und zwar „für Reiche und Arme“ gleichermaßen ab – erneut dringt hier der Gleichheitsgrundsatz als Basis des siebenbürgisch-sächsischen Gemeinwesens durch.

Es wird ferner ein Widerstandsrecht eingeräumt im Falle von Ansprüchen des Adels auf eine der Siedlungen der Siebenbürger Sachsen. Hier deuten sich die späteren Auseinandersetzungen um das ausschließliche Siedungsrecht der Siebenbürger Sachsen auf dem Königsboden an. Schließlich wird freier und abgabenfreier Handel im gesamten Königreich gewährt – soweit die wichtigsten Bestimmungen des Andreanums.

Teile des Andreanums galten auch für die Siebenbürger Sachsen, die auf Adelsboden lebten – immerhin ein Drittel der Gesamtzahl. So galt z. B. für die sogenannten drei Dörfer, Meschendorf, Deutsch-Kreuz und Klosdorf, die der Kerzer Abtei unterstanden, dass sie zu den 500 Silbermark Jahressteuer der freien Sachsen mit beizutragen hatten, die Pfarrer und Ortsvorsteher wurden allerdings vom Abt ernannt, letztere zumindest aus den Reihen der Ortsbewohner. Man kann also sagen, dass das Andreanum in abgeschwächter Form auch für die unfreien Sachsen Siebenbürgens galt. Die genaue Entwicklung dieses Aspekts insbesondere in kirchlicher Hinsicht, soll hier aber nicht weiter vertieft werden.

Die weitere Geschichte ist ein zähes Festhalten an der errungenen Verfassungsgrundlage. Die lange Dauer dieses Festhaltens erlangte mentalitätsprägende Kraft, die lang über den Zeitpunkt der Aufhebung der verwaltungsrechtlichen Wirksamkeit des Andreanums im Jahre 1876 nachwirkte und heute noch wirkt.

Wenn wir unsere Gemeinschaft irgendwo in der Welt vorstellen sollen, dann reden wir über Geschichte, Statuten und Ordnungen, Zusammenhalt, Gleichheit, Freiheit etc. Wir erzählen also nichts anderes als das Nachwirken des Andreanums als eine Geschichte des verantwortlichen Handelns und nachhaltigen Verwaltens.

Als Schlussbemerkung möchte ich anführen, dass man bei uns in Siebenbürgen Romane wie „Der Untertan“ von Heinrich Mann (1871-1950) nicht hätte schreiben können. Stattdessen aber literarische Stoffe wie in „Da keiner Herr und keiner Knecht“ von Georg Scherg (1917-2002) immer wieder in unserer Regionalliteratur anzutreffen sind. All das ist auch Gegenwärtigkeit des Andreanums.

Veröffentlicht in Aktuelle Ausgabe, Geschichte.