Besuch auf Schloss Kálnoky in Miklósvár/Micloșoara / Von Werner FINK
Ausgabe Nr. 2846

Tibor (links) und Boris Kálnoky auf Schloss Miklosvár. Foto: Werner FINK
„Können Sie reiten?” wurde Boris Kálnoky gefragt. Er lachte: „Als mein Vater entschied, dass ich, wie ein Husar reiten soll, da war ich acht Jahre alt. Ich sollte voltigieren, also Purzelbäume auf dem Pferderücken schlagen, da habe ich mich geweigert”. Pferde und Reiten sollen einst „der Kern der eigenen Identität” gewesen sein. „Man war, weil man ritt”, schreibt er in dem Buch „Ahnenland”. Sein Urgroßvater wurde sogar der beste Reiter der k. u. k.-Monarchie. Am Sonntag, dem 1. Oktober, fand in dem Kálnoky-Schloss in Miklósvár/Micloșoara im Széklerland die Vorstellung des Buches „Őseim földje-A Kálnoky család története” von Boris Kálnoky statt, im Vorfeld gab es ein kleines Konzert mit Steffen Schlandt. Das vorgestellte Buch ist die ungarische Version des Buches „Ahnenland oder die Suche nach der Seele meiner Familie”, das bereits 2011 im Droemer Verlag erschienen ist. Nur leider ist die deutsche Fassung ausverkauft. Es war aber eine gute Gelegenheit, Boris und Tibor Kálnoky kennenzulernen und einiges über die Geschichte der Familie zu erfahren.
„Wir zogen von Land zu Land, Deutschland, Amerika, Holland, Frankreich, wir lernten alle möglichen Sprachen, es war ein schönes Leben, und nie hatten wir den Eindruck, dazuzugehören, zu dem Land, in dem wir gerade waren”, schreibt Boris Kálnoky, langjähriger Korrespondent der deutschen Tageszeitung Die Welt, gegenwärtig Leiter der Medienschule an dem Mathias Corvinus Collegium in Budapest, in der deutschen Fassung des Buches. „Und dann dieser Tag in Kőröspatak – wildfremde Menschen, die einen wiedererkennen, obwohl man noch nie da war, die einen küssen, umarmen, einem die Wangen tätscheln und in die Augen sehen mit einem wachen Ausdruck, der prüft, bejaht und willkommen heißt, willkommen daheim, und ein jäher Schmerz, dass man solches noch nie erfahren…”.
Es war 1987, als sein Bruder Tibor und sein Vater Farkas Kálnoky Sepsikőröspatak/Valea Crișului in Siebenbürgen, eine Ortschaft nicht weit von Sankt Georgen, aufsuchten. Farkas war drei Jahre alt, als die Familie Siebenbürgen verlassen musste und trotzdem erkannte ihn sein Spielgefährte aus der Kindheit. „Sanyi bácsi”, Onkel Sanyi, blickte durch das Fenster des Wagens: „Gróf Kálnoky Hugó fia, der Sohn des Grafen Hugó Kálnoky”. Beim zweiten Besuch 1988 war auch Boris dabei und erlebte Ähnliches. „Ich wusste damals fast nichts über unsere Familiengeschichte, sonst wäre mir vielleicht ein Muster aufgefallen: Wieder irrten Kálnokys in den Wirren irgendeiner historischen Umwälzung herum, zum x-ten Mal seit dem 13. Jahrhundert in diesem kleinen Land, von dem ich noch gar nicht richtig verstand, dass es für uns Heimat ist und ‚Széklerland‘ heißt – das Land der Székler”, schreibt Boris.

Boris Kálnoky: Ahnenland oder die Sache nach der Seele meiner Familie, Droemer Knaur Verlag München 2011, 496 Seiten, ISBN 978-3426274651.
Warum damals der Besuch in Kőröspatak? Der einstige Hauptsitz der Familie war ja Kőröspatak, wo sich ein Herrenhaus in Hufeisenform befindet. Ludmilla Kálnoky hatte das siebenbürgische Erbe Hugó Kálnoky überlassen, dem Großvater von Boris und Tibor, der von dem mährischen Zweig der Familie abstammte. Die Blutlinie sollte nicht „ausgerechnet an der Quelle” versiegen. Hugó selber war der jüngste von vier Söhnen und so gab es für ihn wenig von dem mährischen Zweig zu erben. Einige Jahre lang hielt sich Hugó in Kőröspatak auf, doch durch die von Kriegen verursachten Wirren landete er samt seiner Familie in den USA.
Hugó hatte sich zwei große Aufgaben gesetzt: Er wollte eine Familie gründen, heil und geborgen wie „ein kleines Bethlehem”, doch seine Frau verließ ihn und die Familie war zerschlagen. Ein Jahr später starb er. Dann wollte er Kőröspatak, das „Paradies auf Erden”, den uralten Stammsitz der Familie, erhalten, was ihm ebenfalls nicht gelungen war. Nach dem Krieg funktionierte dort ein kommunistischer landwirtschaftlicher Betrieb.
Wieso die Menschen in Kőröspatak die Neuankömmlinge so herzlich empfingen? „Kálnoky Ludmilla ging sehr schön mit den Menschen um”, erklärte Boris Kálnoky. Man kannte einander seit Generationen und Ludmilla galt als fürsorgliche Mutterfigur. Ihr verdankte man die Schule, die sie 1891 gebaut hatte und seither mit Brennholz und anderen Dingen versorgte. Im Keller der Schule betrieb sie eine Armenküche und zu Weihnachten verteilte sie Kleider an die Armen. Noch heute soll man im Dorf wissen, dass damals etliche Familien ihre Arbeit verloren, weil Ludmillas Felder enteignet waren und nicht mehr beackert wurden. Ganz anders gewesen sein soll es in Árkos/Arcuș, wo nach der Beisetzung des Barons Szentkereszty die Dorfbewohner die Familienkrypta und die Särge darin aufbrachen und den Leichen Weizen in den Mund stopften, als Symbol ihrer Habgier.
Wer Siebenbürgen ein wenig kennt, der weiß, dass bereits der Name „Kálnoki”, oder das adlige „Kálnoky”, auf die Herkunft hindeuten. Kálnok/Calnic, ist nämlich das Nachbardorf von Kőröspatak. Doch was Adlige in dieser Gegend betrifft, ist, wie Boris schreibt „dem Anspruch nach der Bauer nicht minder edel als der Graf, so steht man auf gleichem, nur anders beschuhtem Fuß”.
In der Zeit als Boris für Die Welt aus der Türkei berichtete, wurde ihm seitens des Verlages der Vorschlag gemacht, ein Buch über die Geschichte seiner Familie zu schreiben. Er willigte ein, über das Verfassen eines Buches hatte er auch vorher schon nachgedacht. Das Buch „Ahnenland” ist eine Suche nach den Wurzeln, nach der „Seele” der Familie, ein Geschichtsbuch und Roman in einem, alles erzählt aus der Perspektive der Kálnokys. Erzählt wird die Geschichte von Hugó, wobei immer wieder auf die verschiedenen Vorfahren zurückgegriffen wird.
Die Familiengeschichte beginnt etwa 1252, als der König von Ungarn Béla IV. dem Urahn Bencenc, dem Sohn von Akadas, ein Stück Land im südlichen Karpatenbogen schenkt, womöglich hatte er dem König während des Mongolensturms einen Dienst erwiesen. Boris kam in der Türkei darauf: „Ak” heißt auf Türkisch rein, gut, und „Ad” bedeutet Name. Das könnte womöglich auf die Wurzeln der Székler als ein Turkvolk hindeuten. Die Székler waren einst Vor- und Nachhut der Ungarn: Sie waren als „erste im Gefecht, als letzte verließen sie den Kampf”. Pferde und Reiten sollen einst „der Kern der eigenen Identität” gewesen sein. Der Lebenszweck: reiten und kämpfen und die Freiheit zu wahren. Ihr Trick ist es, scheinbar zu fliehen, um dann plötzlich den nachstoßenden Gegner in einer Kehrtwende zu umzingeln. 500 Jahre später machte es Graf Antal Kálnoky, zum Ende seiner Laufbahn Husarengeneral, immer noch so, im österreichischen Erbfolgekrieg. Am 23. August 1741 gelingt es ihm mittels der selben Taktik mit 200 Székler Husaren die 300 preußischen Kavalleristen zu umzingeln. Antal Kálnoky ist „immer noch Ungar und Székler”, aber inzwischen ein „Vertreter des Habsburger Geistes” und „durch und durch ein Mann der Wiener Monarchie”.
Im Kálnoky-Schloss in Miklósvár ist ein Gemälde, die Kopie eines Originals, zu sehen, auf dem Sámuel Kálnoky (1640-1706), der Vizekanzler Siebenbürgens und Großvater von Antal zu sehen ist. Im 17. Jahrhundert, als inzwischen schwer zu erkennen war, „wo Pflicht und Anstand lagen”, wurden die beiden Zweige der Familie erstmals zu Gegner. Der katholische Samuel, dem Leopold I. zum Lohn den Grafentitel verlieh und Farkas aus dem kalvinistischen Zweig, der „entbehrungsreiche Jahre” als „Hofmeister” des Rebellenführers Imre Thököly bei den Türken verbrachte, landeten auf verschiedenen Seiten.
Welcher der vielen Kálnokys hat Boris am meisten beeindruckt? „Schwer zu sagen”, sagte er. „Ich mochte eigentlich den Kálnoky Ádám sehr, das ist der Sohn von Samuel Kálnoky”. Als die Tataren einfielen, befand sich Ádám in Csíksomlyó/Șumuleu Ciuc mit Flüchtlingen und er hatte die Idee, dass sich die Frauen wie Soldaten verhalten und dann trommelte er in Wien gelernte soldatische Signale und die Tataren zogen wieder weg.
Generation für Generation heiraten die Kálnoky-Männer, die jeweils letzten Töchter berühmter, aber aussterbender österreichischer Adelsgeschlechter. Das beginnt mit Lajos (Ludwig), dem Sohn des Husarengenerals Antal Kálnoky, der 1764 die einzige Tochter des Heinrich Kajetan Graf von Blümegen, heiratet, wodurch das Blümegensche Schloss Lettowitz in Mähren, heute Tschechien, in die Familie kommt. Dessen Sohn Henrik zieht hin und so entsteht der Anfang der mährischen Linie der Familie. Henriks Sohn Gustav heiratet Gräfin Isabella von Schrattenbach, die als letzter Spross der Familie Schloss Prödlitz zu bieten hat. Und Gustavs Sohn, ebenfalls Gustav, wird Außenminister, Vorsitzender des Ministerrates und Minister des Kaiserlichen Hauses. „Die Székler Kálnokys sind Österreicher geworden”, schreibt Boris. „Der Minister spricht nicht mehr Ungarisch und sieht sich selbst nicht als Magyaren”. Waldsteins Csicsó /Číčov, gelangt übrigens durch dessen Heirat mit Adele Kálnoky dann ebenfalls in den Besitz der Familie Kálnoky.
Der Urgroßvater von Boris und Tibor und Vater von Hugó, der im Buch Hugo Leopold genannt wird, war der Bruder des Außenministers und galt als der beste Reiter der k. u. k. Monarchie. Er brachte den besten Reitern der Kavallerie die „höheren Feinheiten der Kunst bei – den Reitlehrern der Armee also, am Wiener Reitlehrinstitut”. Er gewann zahlreiche Preise auf der Rennbahn. In dem Sonderpreisreiten nur für die Gewinner früherer Rennen soll Hugo Leopold den Sieg so oft errungen haben, dass man ihn den „Kálnoky-Preis” nannte. Die mährischen Kálnokys waren, wie die meisten katholischen Ungarn, die seit Maria-Theresia auf „Wiener Karriereleitern herumkletterten” kaisertreu.
Maria-Theresia bestieg den Thron 1740 mit nur 23 Jahren. Sie soll in die Regierungsgeschäfte nicht eingeführt gewesen sein, der Staat hatte kaum Geld, die Armee war schwach, und außerdem lag Rákoczis Freiheitskrieg gegen die Habsburger nur 30 Jahre zurück. Da sah Friedrich II. die Gelegenheit, anzugreifen. Die Kabinette Europas sollen sich bereits mit der Aufteilung der gesamten Monarchie, auch Ungarns befasst haben. „Ja, das war die Zeit, als die ungarischen Husaren den Habsburger-Thron retteten und Maria-Theresia eröffnete aus Dankbarkeit ihnen die Tore und von da an gab es Möglichkeiten für ungarische Aristokraten, in Wien eine Laufbahn, eine Karierre zu haben”, sagte Boris. „Sie hatte eine Leibgarde, die bestand aus ungarischen Edelleuten. Und man konnte eben soldatisch bei ihr Karierre machen. Kálnoky Antal, der Husarengeneral, gehörte zu jenen, die sich in verschiedenen Schlachten hervortaten”. Maria Theresia wurde im Juni 1741 in Preßburg, damals Ungarns Königsstadt, zum „König von Ungarn” gekrönt. Im September erschien sie hier in Trauerkleidung mit der Heiligen Stephanskrone der Ungarn auf dem Haupt vor den Vertretern der ungarischen Stände: „Es geht um das Überleben Unseres Ungarischen Königreiches (…) Von Allen verlassen, suchen Wir Zuflucht bei der Treue der hochwürdigen Stände…”, etwa das soll sie auf Lateinisch gesagt haben. „Mein Leben und mein Blut” und „Wir sterben für unseren König” soll ebenfalls lateinisch als Antworten erschollen sein. Daraufhin ist England an der Seite Österreichs in den Krieg eingetreten.
Antal wurde der Kommandant des neu zu bildenden „Siebenbürgischen National-Husarenregimentes”, woraus dann das Husarenregiment Nr. 2 wurde, von allen aber als das „Kálnoky”-Regiment bezeichnet. Einen beträchtlichen Anteil der Kosten zur Aufstellung des Regiments soll Antal selber übernommen haben, natürlich trugen aber auch die siebenbürgischen Stände dazu bei.
Zuvor hatte noch der bayerische König zur Übergabe Wiens aufgefordert und „nun stürmten Ungarns Husaren durch Bayern, und statt Wien fiel München”. Als Friedrich die Österreicher dann im Siebenjährigen Krieg vor Prag 1757 schlug und die Stadt belagerte, schickte Maria Theresia ihr letztes Aufgebot. Mit der Hälfte seiner Armee soll Friedrich siegesbewusst die Entsatzarmee angegriffen haben. Doch dieses Mal waren die Österreicher in allem besser. In dieser Schlacht sollen alle Husareneinheiten der Monarchie zugegen gewesen sein und die Schlacht wurde zu „ihrer Sternstunde”. Antal befehligte zwei Regimente: sein eigenes und das von Ferenc Nádasdy, der den Oberbefehl über die Kavallerie hatte. Weiterhin schlüpften kurz nach der Schlacht bei Kolin 5.000 Mann unter der Führung von General András Hadik durch die Frontlinien und besetzten kurz sogar das ziemlich weit entfernte Berlin, womit sie „das Wort ‘Husarenstreich’ ins kollektive Gedächtnis der Deutschen einbrannten“.

Boris Kálnoky: Őseim földje – A Kálnoky család története, MCC Press Kft., Budapest 2023, Übersetzung ins Ungarische: Szász Csilla, 475 Seiten, ISBN 978-963-644-012-1.
Aus einer rumänischen Quelle ging übrigens hervor, dass die Rumänen der Region im Siebenjährigen Krieg 130 Freiwillige zu Antals Regiment auf eigene Kosten beisteuerten.
Maria Theresia erkannte die Stärke Friedrichs: er war modern. Nun wollte auch sie stehende Grenzregimente schaffen, neue Steuern wurden erhoben. Allerdings „verletzte das alte Székler Werte: Entweder Steuern oder Wehrdienst!”. Wie jedes Mal in solchen Fällen im Laufe der Geschichte kam es auch dieses Mal zu einem Aufruhr. Viele Székler flohen vor dem Militärdienst in die Wälder um Madéfalva/Siculeni. Den Ort ließ Oberst Joseph Siskovic von österreichischen Truppen umstellen und es kam zu einem Massaker, an dessen Opfer auch heute noch die Székler ge denken. Dabei gewesen sein sollen auch einige der Kálnoky-Husaren, Antal selber aber scheinbar nicht. In seinem Testament bittet er darum, dass er von Székler Grenzern, den Opfern der Reform, zu Grabe getragen werde und nicht von seinen Husaren.
Im Laufe der Geschichte kam es scheinbar nicht nur einmal vor, dass Kálnoky-Männer in einander feindlich gesinnten Kriegsparteien kämpften, so auch in der 1848er Revolution, als die Söhne des mährischen Zweigs auf der Seite der Österreicher kämpften. Die reformierten Kálnokys, die nicht dem Grafen-Geschlecht angehörten, kämpften auf der Seite der Aufständischen. Zu dieser Zeit waren die Leibeigenen von Dénes Kálnoky befreit, sie mussten ihm nicht mehr gehorchen. Allerdings setzten sie sich zusammen und wählten einen Anführer: ihren Grafen Dénes Kálnoky. Dénes, der in dem Schloss in Miklósvár zuhause war, organisierte eine Hundertschaft berittener Freiwilliger. In ganz Siebenbürgen herrschten bereits die gegnerischen Truppen, außer in der Region von Háromszék (Drei Stühle) wo auch Miklósvár und Kőröspatak liegen und wo die Székler erfolgreich der Übermacht Wiederstand leisteten, worauf sie scheinbar bis heute stolz sind.
„..an Nationalismus – im Gegensatz zu Heimatliebe – haben wir uns bis heute nicht gewöhnt, egal woher er kommt”, schreibt Boris. Als Jugendlicher hatte Hugó zuweilen gedankenlos abfällige Bemerkungen über Juden gemacht, aber er wurde dann zum entschiedenen Gegner des deutschen Rassenwahns. Außerdem wird seine Frau Ingeborg von Breitenbuch 1945 von den US-Amerikanern berufen, das Zeugenhaus der Nürnberger Prozesse zu leiten.
In Siebenbürgen, hatte Hugó gelernt, dass man hier noch Liebe zum Land und Werte hat, die kein Geld kaufen kann. Wo man zuhause ist? „Mein Großvater Hugó jedenfalls wusste es am Ende seines Lebens, vom fernen Amerika wehmütig ins alte Europa spähend: Zuhause ist in Siebenbürgen”, schreibt Boris.
Zwischen Hugós Tod und der Heimkehr der Nachkommen liegen mehr als 30 Jahre. Allerdings scheint den Nachkommen das gelungen zu sein, was sich Hugó einst vornahm: Heute befindet sich Kőröspatak wieder in Familienbesitz.
Für Tibor und Boris waren die ersten Besuche im Széklerland prägend. „Für uns, die wir kosmopolitisch aufgewachsen waren, war es ein sehr neues und starkes Gefühl und führte letzlich dazu, dass mein Bruder hier lebt, und ich in Budapest”, sagte Boris. „Ich bin ja nicht dort zuhause, wo ich geboren und aufgewachsen bin, aber ich habe eine ungarische Identität, die auch eine Willensentscheidung war. Das ist wie in der Liebe: Man könnte links und rechts vielleicht was besseres finden, aber irgendwann muss man sich entscheiden und ich habe entschieden, dass ich ungarisch sein will”. Ungarisch zu lernen fing er übrigens erst mit 33 Jahren an.
Was er davon hält, wenn man einen Deutschen zu seiner Identität befragt? „Ja, dann wissen die Deutschen nicht, was sie sagen sollen. Also der jeweilige deutsche Bundespräsident hält immer eine Rede zum Deutschen Nationalfeiertag. In diesen Reden ist immer von allem möglichen die Rede, aber ganz bestimmt nie von Nation und ganz selten kommt das Wort Deutsch vor”, sagte Boris. „In der Rede von Steinmeier vor zwei, drei Jahren kam das Wort ‚Deutsche‘ nur an einer Stelle vor. Aber ansonsten spricht man lieber über Menschen, die in Deutschland leben, nicht über ‚Deutsche’”.
Woran das liegt? „Na ja, die Deutschen haben eine traumatisierende Vergangenheit hinter sich und es besteht eine Tendenz, in Deutschland den Patriotismus, als einfach glücklich zu sein in der eigenen Heimat und sich wohlzufühlen als Deutscher, mit Nationalismus gleichzusetzen, und das wiederum mit Faschismus gleichzusetzen, und das wiederum mit Nazismus und Völkermord. Insofern sind das die Folgen eines historischen Traumas”, meinte Boris. „Ich weiß nicht, ob sich das irgendwann wieder auflösen wird, es hat aber eine seltsame Nebenwirkung. Meiner Überzeugung nach ist in Deutschland eine Art Ersatznationalismus entstanden, also ein europäischer Nationalismus: Wir sind die besten Europäer. Und wenn man die EU kritisiert, dann fühlen sich viele Deutsche persönlich angegriffen in ihrer eigenen Identität.”
„Ich fühle mich immer so ein bisschen Teil der Siebenbürger Sachsen”, meinte Tibor Kálnoky, der heute mit seiner Familie in Kőröspatak lebt. „Meine Mutter stammte aus Schlesien, meine Großmutter aus Thüringen und eine Urgroßmutter aus Österreich”, sagte er. In den letzten fünf Generationen wurde immer Deutsch zuhause gesprochen. Er ist der erste, der nach fünf Generationen dann wieder eine Ungarin, eine Széklerin, geheiratet hat. Ungarisch fing er erst mit 21 an zu lernen und ist stolz darauf, dass er es geschafft hat. Ob er sich hier gut eingelebt hat? „Das ist auch weiterhin ‚work in progress‘ (Arbeit im Gange)”, sagte er. „Ich könnte aber nirgendwo anders mehr leben als hier. Die Menschen hier sind anders, schwieriger, aber umso menschlicher.”
Tibor Kálnoky betreibt hier Tourismus, Individualtourismus und ist vor allem damit beschäftigt, das alte Anwesen wieder in Ordnung zu bringen. „Als ich hierher gezogen bin, kamen plötzlich alle Leute her, die ich von früher kannte. Ich dachte mir, wenn ich hierher ziehe, werde ich nach Westeuropa reisen, um die Leute zu besuchen, die ich kenne”, meinte Tibor. „Das brauche ich aber nicht, weil die jetzt alle hierher kommen”.
Zu den Gästen gehörte bereits auch König Charles, der ebenfalls Wurzeln in Siebenbürgen hat und sich ebenfalls für authentische Dinge interessiert. Charles kaufte in Siebenbürgen verschiedene Anwesen, u. a. im sächsischen Deutsch-Weißkirch/Viscri, aber auch in Zalánpatak/Valea Zălanului. Einst soll Samuel Kálnoky, der Vizekanzler Siebenbürgens, hier eine Glashütte gebaut haben, und um sie herum entstand eine Holzfällersiedlung. Und in noch älteren Zeiten soll der Ort einem Vorfahren von Charles gehört haben: Bálint Kálnoki, ein Vorvater der Kálnokys.
Im Schloss in Miklósvár gibt es nun ein Museum, wo man erfahren kann, wie eine adlige Familie gelebt hat. 2004 wurde mit der Stadt Barót/Baraolt ein Abkommen geschlossen: das Schloss durfte für 49 Jahre gepachtet werden, wobei im Gegenzug die Pläne für ein neues Kulturhaus gestiftet wurden. 2014 wurde dann das Schloss mit Hilfe von norwegischen Grants saniert. Im Keller des Schlosses gibt es einen Speisesaal, wo bis zu 80 Leute Platz finden und im Freien ein großes Zelt für Hochzeiten und Events. Im Dorf wurden Gästehäuser authentisch eingerichtet, wo viele internationale Gäste untergebracht werden. Ein Ziel ist es nun, das alte Herrenhaus in Kőröspatak zu renovieren. Zwar wurde ein neues Dach gemacht, in der kommenden Zeit sollen auch die übrigen Teile des Gebäudes drankommen.
Und plötzlich fällt es einem ein: Zu den Széklern gehören auch Pferde, und wo sind die? In Kőröspatak, wo die Familie einen Reiterhof betreibt. „Aus der ganzen Welt kommen Reiter, Leute die gut reiten können, und wir führen sie eine Woche lang zu Pferd durch die Hügel”, erklärte Tibor. Das macht vor allem sein ältester Sohn Mátyas. Reiten kann Tibor auch, aber vor allem Anna, seine Frau soll eine leidenschaftliche Reiterin sein, die sich vorwiegend um den Reiterhof kümmert, aber sicherlich können all seine drei Söhne gut reiten. Und wer durch die Landschaft Siebenbürgens reitet, dem zeigt sich gelegentlich auch das Wappentier der Kálnoky-Familie: der Bär.
Werner FINK