Der Gesang der Nachtigall

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Schreibwettbewerb des Konsulats 2023

Ausgabe Nr. 2846

Die Nachtigall (Luscinia megarhynchos). Foto: NABU/Iris BARTHEL

Das Thema des sechsten Schreibwettbewerbs für deutschsprachige Lyzeaner, den das Deutsche Konsulat Hermannstadt und die Hermannstädter Zeitung veranstaltet haben, lautete: ,,Eines Tages fand ich im nahen Wald ein kleines…” Ersetze die Punkte mit der Bezeichnung eines Tieres und setze den Text fort. Lesen Sie den Beitrag des Zweitplazierten Daniel Cautnic (Samuel von Brukenthal-Gymnasium, Hermannstadt):

Eines Tages fand ich im nahen Wald ein kleines Vöglein. Ich konnte nicht seine Art identifizieren. Nun nahm ich das Tierchen sowieso aus Mitleid nach Hause mit. Für eine Zeit kümmerte ich mich um das hilflose Lebewesen. Es wuchs und ich stellte fest, es sei eine Nachtigall. Diese Spezies ist typisch für mein Land. Als sie groß genug war, flog die Nachtigall weg. Kurz danach begann aber der Vogel, täglich auf Besuch zu kommen. Früh am Morgen hörte ich seinen melodischen Gesang. Ich fütterte ihn und nachher kehrte er in den Wald zurück. Im Wald übernachtete meine Nachtigall wahrscheinlich.

Den Fliegeralarm konnte man fast jede Nacht hören. Daraufhin versteckten sich die Menschen in ihren Kellern. Niemand schlief während der Nacht, weil man das Dröhnen der Flugzeuge hörte. Alle zählten bis vier. Man wusste, dass diese Kampfflugzeuge je vier Bomben trugen. Eins, zwei, drei, vier. Morgens konnte man erst ins Bett gehen. Die Piloten mussten wahrscheinlich frühstücken. Sie sind auch Menschen, genauso wie wir. Vielleicht versanken sie auch in Schlummer nach dem Essen, denn sie sind auch Menschen, genauso wie wir.

Nun hatten wir nichts zu essen, weil die Vorräte gering waren. Wir aßen nur einmal pro Tag, um nicht später verhungern zu müssen, denn wir sind nicht solche Menschen wie sie.

Ich saß in meinem Keller. Das Flugzeug näherte sich. Eins, zwei, drei, vier. Noch ein Mal hatte ich überlebt. Ich dachte plötzlich an die Nachtigall. Seit langer Zeit hatte ich sie nicht mehr gesehen. Sie wäre in ihrem Wald, zu Hause, überlegte ich, sie müsste nicht bis vier zählen. Der Vogel wäre in Sicherheit und sänge in Ruhe und Harmonie mit der Natur. Bei mir hätte das Tier nicht mehr die Möglichkeit, ungestört zu zwitschern. Hier wäre sein Gesang von der Luftschutzsirene, der feindlichen Luftwaffe und ihren Bomben abgedeckt. Ein anderes Flugzeug kratzte die Stille der Nacht. Eins, zwei, drei. Seltsamerweise hörte ich die vierte Bombe nicht fallen. Eigentlich hörte ich für eine Weile nichts mehr. Vier! Diese explodierte unglaublich nah von meinem Haus. Ich könnte sogar sagen, es sei mein Glück, dass ich noch am Leben bin, als auch meinen, dass mein Pech mich gerne dem Tod vorstellen würde. Die Nacht war nun eingebrochen. Im Inneren fühlte ich eine vergessene Ruhe. Diese spiegelte sich in dem Keller und sie breitete sich hinter den Wänden aus. So hörte ich die Stille. Vielleicht gab es aber auch nichts mehr zu hören. Auf einmal schlief ich ein. Kurz danach oder nach einer Weile, ich merkte gar nicht mehr, in welchem Rhythmus die Zeit verstrich, hörte ich eine familiäre Melodie. Es war der Gesang meiner Nachtigall. Ich wusste nicht, ob ich mich in dem Wald oder noch bei mir zu Hause befand. Es konnte sein, dass mein Zuhause der Wald geworden war, aber sicher war ich nicht. Mit geschlossenen müden Augen wollte ich nur noch die Nachtigall zwitschern hören.

Veröffentlicht in Aktuelle Ausgabe, Bildung.