Schreibwettbewerb des Konsulats 2023
Ausgabe Nr. 2845
Das Thema des sechsten Schreibwettbewerbs für deutschsprachige Lyzeaner, den das Deutsche Konsulat Hermannstadt und die Hermannstädter Zeitung veranstaltet haben, lautete: ,,Eines Tages fand ich im nahen Wald ein kleines…” Ersetze die Punkte mit der Bezeichnung eines Tieres und setze den Text fort. Lesen Sie den Beitrag der Erstplazierten Sigrid Arvay (Johannes Honterus-Gymnasium, Kronstadt):
Eines Tages fand ich im nahen Wald ein kleines Schneckchen. Ich sage „Schneckchen“, weil dieses Tier tatsächlich klein war. Ich hätte es auch gar nicht bemerkt, wenn ich nicht gelaufen, über eine Baumwurzel gestolpert und längs auf den Waldboden hingeknallt wäre. Einfach so – knall bumm und ich lag im Dreck. Und vor meiner Nase starrte mich das Schneckchen an. Als ob es sagen wollte, „das habe ich genauso geplant. Denn diese Baumwurzel war einmal ein kleines, unschuldiges Sprösschen und ich hatte riesengroße Lust, es aufzufressen, aber dann habe ich gedacht, halt! In über hundert Jahren, da wird das Sprösschen ein großer, mächtiger Baum mit riesigen Wurzeln sein. Und da wird einmal so ein obercooler Teenager durch den Wald joggen, den Baum gar nicht beachten (der nur durch meinen Willen noch steht) und natürlich hinfallen. Dann werde ich hier warten und mich über diesen Teenager kaputtlachen.“ Sowas war natürlich ganz und gar nicht möglich, denn Schnecken leben nicht so lange, aber der verächtliche Ausdruck, mit dem mich das Schneckchen anstarrte, schien genau das ausdrücken zu wollen. So eine Beleidigung ließ ich mir natürlich nicht gefallen! Um meine gekränkte Ehre zu retten, musste ich das Schneckchen wohl oder übel gefangen nehmen. „Das hast du nun davon, dass du so schadenfroh bist!“, murmelte ich verächtlich, packte das Tier mit zwei Fingern und hob es hoch. Es verkroch sich natürlich sofort beleidigt in sein Häuschen.
Es hatte begonnen zu nieseln und alles an mir triefte vor Schlamm und Nässe. Als ich endlich wieder zu Hause im Warmen war, war ich richtig froh. Nur Mama nicht. Sobald sie nämlich gehört hatte, dass jemand in die Wohnung gekommen war, stand sie Sekunden später mit blitzenden Augen und einem riesigen Wischlappen vor mir. „Du ziehst dir jetzt sofort die Schuhe aus und gehst augenblicklich ins Bad!“, sagte sie langsam und mit einem drohenden Unterton. Schuldbewusst zog ich die Schultern ein und gehorchte. Widerstand zwecklos.
Nachdem ich mich wieder „zivilisiert“ angezogen hatte und sämtliche Dreckspuren aufgewischt hatte, zog es mich nur noch in mein Zimmer ins Bett. Aber als ich schon daran war mich genüsslich auf die Matratze zu knallen, ertönte ein Schrei aus dem Bad. Oh, oh, irgendwie schien Mama heute sehr rasend zu sein. „Alles ok?“, fragte ich und steckte den Kopf aus der Tür. Gleichzeitig erinnerte ich mich daran, dass ich das Schneckchen auf dem Waschbecken stehengelassen hatte, als ich den ganzen Matsch aufwischen sollte. Schnell rannte ich ins Badezimmer und konnte gerade noch verhindern, dass mein armer Gefangener wieder mit einem großen Schwung ins Freie befördert wurde. „Halt, das gehört mir!“, rief ich und schnappte mir das Tierchen, ehe Mama in der Lage war, ihm den Todesstoß zu geben. „Du darfst dem Schneckchen nichts zu Leide tun, es ist mein persönlicher Gefangener, sein Leben liegt vollkommen in meiner Hand und zwar nur in meiner!“, erklärte ich schnell und verbarg die Schnecke schnell in der Hosentasche. „Bist du eigentlich übergeschnappt?“ Mama schaute mich schräg an. Aber zumindest sagte sie nichts weiter und deutete nur wortlos auf das Waschbecken, das kreuz und quer mit silbernen Schneckenspuren verziert war. Kein Problem, das war im Nu abgewischt.
Ich muss sagen, so viel Hausarbeit auf einmal hatte ich in meinem gesamten Leben noch nicht gemacht. Am Abend holte ich mir ein großes Tierlexikon raus und durchstöberte es. „Schnecken gehören zu den Weichtieren und sind mit Muscheln und Kraken verwandt“, las ich. „Sie sind sowohl im Wasser, als auch am Land auf fast allen Kontinenten vorzufinden. Nur in der Wüste und in der Arktis sind sie nicht anzutreffen.“ Langsam kriegte ich Respekt vor meinem kleinen Schneckchen. Seine Familie hatte so ziemlich alle Lebensräume erobert. Vor ihr konnte man nirgends sicher sein. Skeptisch beäugte ich das Schneckchen. Ich hatte ein altes Aquarium aus dem Keller gekramt und es hineingetan. Dort sollte das Schneckchen für seine Unverschämtheit mich auszulachen, büßen.
Am nächsten Morgen, es war ein Sonntag, saßen wir als Familie gemütlich beim Essen zusammen. „Wusstet ihr eigentlich, dass es etwa 10 000 verschiedene Schneckenarten gibt?“, fragte ich und schmierte mir ein Marmeladenbrot. „Das sind allerdings nur Schätzungen, denn im Pazifik kriechen eine Menge noch nicht entdeckter Schnecken herum, die sich immer köstlich amüsieren, wenn sie daran denken, dass sie noch niemand in ein verstaubtes Biologiebuch gesteckt hat.“ Mit großem Appetit biss ich in mein Brot und genoss es, mit meinem Wissen so angeben zu können. „Seit wann interessierst du dich für Schnecken?“, wollte Tata wissen. „Das passt so gar nicht zu dir.“ „Ach lass, du wirst mir ja nicht glauben, was für einen Schreck ich gestern hatte.“, sprang Mama ein. „Da wollte ich mir die Hände waschen und zur Seife greifen, als mir wortwörtlich eine Schnecke an der Hand kleben blieb.“ Ich kicherte und verschluckte mich fast dabei. Tata schaute mich vorwurfsvoll an und meinte: „Anscheinend haben wir es versäumt, dir ein altersgerechtes Haustier zu beschaffen. Ich dachte an einen Goldfisch. Aber meinetwegen, solange diese Schnecke bei dir schön in deinem Zimmer bleibt, kannst du es von mir aus auch behalten.“ Mama nickte, vor allem bei dem Teil „in deinem Zimmer“ und ich sah das Thema als erledigt an. War es leider nicht.
Schon am Nachmittag war das Schneckchen nämlich ausgebüchst. Das Aquarium war leer! Panisch durchsuchte ich mein ganzes Zimmer und bedauerte es zum ersten Mal, dass ich nicht so peinlich Ordnung hielt wie meine Eltern. Sorgsam legte ich alle Kleider zusammen, schaute auch in den entlegensten Zimmerecken nach, aber mein neuer Mitbewohner war unauffindbar. Das arme Ding! Wie sollte es ohne mich in der großen, bösen Welt zurechtfinden? Mit Bedauern erkannte ich, dass mir das Schneckchen richtig ans Herz gewachsen war. Ganz niedergeschlagen, schlich ich mich in die Küche, um mir als Trost eine Schoko-
praline zu stibitzen (immer eine kleine auf einmal, so merkte es Mama nicht einmal). Leider hatte ich Pech, denn Mama wirtschaftete gerade in der Küche herum. Sie war dabei, ein paar Gurken aufzuschneiden und ich wollte sie schon fragen, wieso wir nicht öfters Spagetti statt Gurkensalat essen könnten, als ich es über ihrem Kopf entdeckte. Das Schneckchen. Ganz gelassen bleiben, keine Aufregung verraten. Oben auf der Decke, kopfüber kroch dies Mistvieh seelenruhig über uns hinweg. Wie zum Kuckuck war es bis her gekommen? „Na, Mama, wie geht’s dir heute so?“, fragte ich freundlich und versuchte sie abzulenken. Bitte, sie sollte bloß nicht den Kopf heben. „Gut, alles in Ordnung bei dir?“, antwortete sie ein wenig verwirrt. „Klar doch!“, lachte ich und nahm ihr ein paar Gurken ab. „Weißt du, ich habe gedacht, ich könnte dir ein wenig behilflich sein, damit du dich auch ausruhen kannst.“ Jetzt wurde Mama aber misstrauisch. „Es geht wieder um diese elende Schnecke, habe ich Recht?“ Sie schaute mich mit einer strengen Miene an. Ich weiß nicht, wieso Eltern dies Gespür für den Grund der Dinge haben, aber ehe ich es verhindern konnte, hob Mama den Kopf und quiekste laut auf. „Die Schnecke!“, schrie sie und griff zum ersten besten Suppenlöffel, der ihr in die Quere kam, um den unerwünschten Bewohner zu zerschlagen. Im letzten Moment schmiss ich mit der Gurke auf Mamas Hand und die ließ vor Schreck den Löffel fallen. Ohne noch auf Weiteres zu warten, kletterte ich auf einen Stuhl, zog das Schneckchen von der Decke (es hatte sich hartnäckig festgesaugt) und verschwand im Zimmer. Die nächsten Stunden verbrachte ich damit, dem Schneckchen eine saftige Moralpredigt zu halten. Ich wollte ihm ja nur das Beste bieten, hatte gut für es gesorgt, hatte ihm ein herrliches Zimmer mit Panoramablick verschafft und das war der Dank? Mama würde mir ewiglich sauer sein. Tata klopfte an der Tür und schaute belustigt rein. „Du hast gut für die Schnecke gesorgt? Hat sie auch genügend gefressen?“ Mein Kopf wurde heiß und rot. Fressen? Das hatte ich in meinem Wahn ganz ausgeblendet. Reuevoll schlich ich mich in die Küche zurück und bat Mama herzlich um Verzeihung für das unbedachte Geschehen. Die arme Schnecke, es tat mir ja selber leid, hatte einfach schrecklichen Hunger und hatte sich gezwungen gefühlt, selbst auf Nahrungssuche zu gehen, da ihr Wirt so nachlässig gewesen war. Mama atmete ein paar Mal tief ein und aus und schaute mich scharf an. „Ich gebe ihm noch eine Chance, dann landet es direkt im Suppentopf! Etwas weiß ich auch über Schnecken und zwar, dass sie eine richtige Delikatesse sein sollen.“ Wahrscheinlich wollte mich Mama nur erschrecken, denn eigentlich war sie nicht der Typ der Schnecken und solches Zeug als Delikatesse ansah, aber sie hatte ihr Ziel erreicht. Am Abend nahm ich mir eine doppelte Portion Gurkensalat und schaffte es, heimlich die Hälfte davon für mein Schneckchen beiseite zu legen. Ich weiß nicht, ob das Tier sich tatsächlich über den Gurkensalat gefreut hat, denn es hatte sich in sein spiralenes Häuschen verzogen und schmollte. Typisch. Schlimmer als ein Kleinkind. Ein paar Minuten setzte ich mich auch mit dem Rücken zum Aquarium um zu betonen, dass mich dies doofe Schneckchen ja ganz kalt ließ, als mich irgendwann doch das Mitgefühl packte. Sanft begann ich über das Schneckenhaus zu streichen. „Armes, kleines Schneckchen. Du musst dich ja einsam bei mir fühlen, nicht?“, flüsterte ich während mir (beinahe) eine Träne von der Wange kullerte.
In der Nacht träumte ich, dass die Schnecke eigentlich eine verzauberte Prinzessin war, die nur darauf wartete, von jemanden wirklich und wahr geliebt zu werden. Aber der Zauber, der die Prinzessin als Schnecke gefangen hielt, war so stark, dass jeder, der sie küsste, selbst zu einer Schnecke wurde. Nur ich war dazu bestimmt, den Fluch zu brechen. Um Punkt zwölf Uhr sollte ich die Schnecke ins Mondlicht halten, mich dreimal um die eigene Achse drehen und den verheißungsvollen Kuss geben. Aber – oh, weh – da hatte sich mein Schneckchen tatsächlich in eine Prinzessin verwandelt. Doch in was für eine! Eine dicke, fette alte Tante mit Glupschaugen, die abgesehen von der Größe tatsächlich Ähnlichkeiten mit einem Weichtier hatte. Schweißgebadet wachte ich auf. So ein absurder Traum! Auf einmal wurde mir das Schneckchen fast unheimlich. Womöglich war das kein Traum, sondern eine Warnung. Ich schlich mich zum Aquarium und schaute hinein. Das Schneckchen war drinnen. Gespenstisch schaute es mich an, als wolle es mir drohen. Ich fröstelte. Leise, damit es keinen Verdacht schöpfen konnte, öffnete ich das Fenster. Dann nahm ich es vorsichtig aus dem Aquarium heraus und ließ es in den Garten fallen. Plums und unten war es. Erleichtert atmete ich auf. Für das Schneckchen machte ich mir keine Sorgen, es muss weich gefallen sein. Aber überhaupt spielte das keine Rolle mehr. Hauptsache ich war das Tier los. Von Schnecken wollte ich erst einmal nichts mehr hören. Das Problem war gelöst und ich kroch beruhigt ins Bett.
„Guten Morgen, Schatz!“, weckte mich am darauffolgenden Tag Mama. Verschlafen öffnete ich die Augen. „Alles Gute zum Geburtstag!“ Schlagartig wurde ich wach. Mein Geburtstag? Den hatte ich ja komplett vergessen! Auch Tata erschien und gratulierte mir: „Auf zu einem erfolgreichen neuen Lebensjahr!“ So eine Überraschung! Ich strahlte wie eine satte Schnecke. Apropos Schnecke – da wollte ich meinen Eltern die gute Nachricht noch sagen. „Mama, Tata, von nun an werdet ihr Ruhe haben! Ich habe mein Schneckchen in die Freiheit entlassen. Ich werde mir gleich heute noch ein neues Hobby suchen!“, verkündigte ich stolz. Meine Eltern erstarrten. „Das Schneckchen ist weg?“, flüsterte Mama unsicher. Tata schaute betreten drein. „Du meinst“, fragte er, „das Schneckchen… ich meine, das Schneckchen ist doch sicher noch im Aquarium, nicht?“ Was war denn jetzt los? Was hatten meine Eltern? „Nein,“, bestätigte ich, „es gibt keine Schnecken mehr in unserem Haus. Aus. Vorbei. Schluss!“
„Du liebe Schnecke – also, du liebe Güte!“, murmelte Mama und schaute irgendwie nicht richtig fröhlich drein. Dann wurde sie wieder hoffnungsvoll: „Jetzt kannst du dich vielleicht für Meeresschnecken spezialisieren, was denkst du?“ Ungeduldig schüttelte ich den Kopf. Kapierte sie nicht, dass ich keine Schnecken mehr sehen wollte? Ich ging zum Wohnzimmer. „Stell dir vor, die kleinste Landschnecke der Welt hat ein Schalenvolumen von nur 0,045 Kubikmillimeter“, rief mir Tata noch nach, „die größte Schnecke, die Rüsselschnecke, hat ein Gehäuse von über 90 Zentimeter Länge…“ „Was zum Donnerwetter habt ihr?“, schrie ich, „Das Thema Schnecke ist beendet. Da könnt ihr mich noch so zur Schnecke machen!“ Ich öffnete die Wohnzimmertür. Mama und Tata kamen mir hinterhergerannt und wollten mich weg in die Küche zerren, aber es war zu spät. Ich trat ins Zimmer und wurde regelrecht vom Schlag getroffen. Vor mir waren zich Terrarien und Aquarien. Mit Wasser gefüllt und mit Sand gefüllt. Mit Blätter oder Erde. Und alle, aber auch wirklich alle, vollgefüllt mit Schnecken. Große Schnecken. Kleine Schnecken. Mit dünnem, spiralförmigen Haus oder runden kugelförmigen Gehäuse. Braune, violette, gelbe und blaue. Weinbergschnecken und Nacktschnecken und Wasserschnecken. Und in der Mitte des Zimmers eine überdimensionale Torte… in Schneckenform.