„Astrafilm”-Dokumentarfilmfestival feierte 30-jähriges Bestehen
Ausgabe Nr. 2839

Zum Programm des Astrafilm-Festivals gehörten auch Konzerte mit verschiedenen Bands aus aller Welt. Unser Bild: Die Roma-Blaskapelle ,,Fanfara din Cozmești“ war auch in diesem Jahr dabei und marschierte muszierend vom Thaliasaal durch die Fußgängerzone auf den Großen Ring. Foto: Beatrice UNGAR
1993 organisierte Dumitru Budrala zum ersten Mal eine Dokumentarfilmschau „auf einem Fernseher“, wie es in dem Dokustreifen über die Geschichte des Astrafilm-Festivals hieß. Im darauffolgenden Jahr waren es schon vier Fernseher und heuer wurden die Filme in vier Sälen und einem Full Dome gezeigt. 30 Jahre später fand das Astra Film Festival in Hermannstadt zwischen dem 15.-22. Oktober statt.
30 Jahre anspruchsvolles Programm, Dokumentarfilme, die zeigen, was die Welt bewegt – Kriege, Armut, Diskriminierung und Intoleranz, aber auch das menschliche – oder was uns als Menschen ausmacht, künstlerischer Geist, Freundschaft, Fürsorge; so oder so ähnlich kann man den Anspruch der Veranstalter dem Vorwort zum Programmheft entnehmen. Ja, als Zuschauer kann man den Verantwortlichen nur gratulieren und sagen: dem Anspruch gerecht geworden! Fühlt man sich doch als Zuschauer an die Hand genommen und ins Kino geführt, das man als Ort des Innehaltens, der Sicherheit, ja als magischen Ort empfinden kann, wenn man sich darauf einlässt.
Darauf einlassen konnte man sich schon ab dem ersten Tag, Sonntag, dem 15. Oktober. Zur offiziellen Eröffnung lief der noch in Arbeit befindliche Film „Meeting Zelenskyy“ und im Anschluss dazu fand ein Gespräch mit dem anwesenden Regisseur/Produzent André Singer und Rumäniens Botschafter in Wien, S. E. Emil Hurezeanu statt. Die Zuschauerinnen und Zuschauer konnten sich einen Einblick verschaffen in das Leben des ukrainischen Staatspräsidenten vor allem vor dem Krieg, als er noch als Schauspieler und Comedian bekannt war.
Die Festivalwoche begann am Montag, dem 16. Oktober und man hatte wie jedes Jahr die Qual der Wahl, mit 12 Filmen pro Tag. Eine Eintrittskarte war zu erschwinglichen 20 Lei zu kaufen und der Andrang war groß. Der einzige Dokumentarfilm, der vor Festivalbeginn ausverkauft war, war „Arsenie. Viaţa de apoi“ („Arsenie. Das Leben danach“) in der Regie von Alexandru Solomon. Dies Dank des Hermannstädter Erzbistums der Rumänisch-Orthodoxen Kirche, das versucht hat, den Film über den Mönch Arsenie Boca zu verbieten. Die Organisatoren des Festivals entschieden sich allerdings gegen die Zensur und zeigten den Film. Dabei war der Dokumentarfilm bereits bei mehreren Festivals im In- und Ausland zu sehen gewesen. Nur in Arad hat es die lokale Orthodoxe Kirche geschafft, den Film zu verbieten. Der Skandal, den die Vertreter des Hermannstädter Erzbistums der Rumänisch-Orthodoxen Kirche ausgelöst hatten, kam nicht nur dem Arsenie Boca-Film zugute, sondern auch dem Astrafilm-Festival, da er die Aufmerksamkeit der zentralen Presse auf sich zog.

Dumitru Budrala bei der Eröffnung des Festivals. Foto: Marius ȘUMLEA
Zur Überraschung des Publikums war der Film dann tatsächlich sehr ausgeglichen und eigentlich gar nicht hetzerisch – wie alle Filme des Regisseuren Alexandru Solomon, so die Kenner. Ein Beweis mehr, dass die meisten Personen, die gegen den Film protestieren, diesen eigentlich gar nicht gesehen haben. Alexandru Solomon führt in diesem Film ein soziales Experiment mit einer Gruppe von Pilgern durch, die an einer Wallfahrt zu Ehren von Arsenie Boca teilnehmen. Dafür macht er ein Casting und wählt die Teilnehmer so aus, dass sie einerseits nicht kamerascheu sind und andererseits solche Pilgerreisen gemacht haben. Im Rahmen der Fahrt werden Teile des Lebens des Mönchs vorgestellt, so wie Solomon sie in unterschiedlichen Dokumenten gefunden hat – von den Archiven der Securitate bis zu Büchern, die Boca gewidmet sind. Die Gruppe macht dann unterschiedliche Szenen nach, von Tatsachen bis Wahnvorstellungen. Szene für Szene wird für Arsenie Boca ein Bild aufgebaut, das seine Fans lieber verdrängen wollen: Er war ein Unterstützer der Legionärsbewegung, er versuchte, vor allem Frauen mit seinem eindringlichen Blick und dem intensiven Kämmen seines Bartes zu beeindrucken und er wohnte – nachdem die Kirche ihn exkommunizierte – zusammen mit der ebenfalls exkommunizierten Äbtissin in Bukarest. Das sind alles Gründe, weswegen er theoretisch nicht zum Heiligen ernannt werden sollte – ein heißes Thema seit Jahren in der Rumänisch-Orthodoxen Kirche. Besonders im Gespräch danach – bei dem auch ein orthodoxer Pfarrer dabei war und von dem Film begeistert war – wurde es klar, dass in Arsenie Bocas Fall Kirche, Religion, Marketing und viel Geld im Spiel sind. „Arsenie. Das Leben danach“ wird übrigens am Mittwoch, dem 1. November, ab 20 Uhr, im Ion Besoiu-Kulturzentrum erneut gezeigt.

Nora Iuga, Carla-Maria Teaha und Moderatorin Ruxandra Predescu (v. l. n. r.) bei dem an die Filmvorführung am 17. Oktober anschließenden Gespräch mit dem Publikum. Foto: Doina GIURGIU
Zeitgleich zu „Arsenie“ konnte man sich im „Konsumtempel“ in der Strada Lector im Kino „CineGold“ von der „Entführerin“ Nora Iuga entführen lassen. Die Dichterin, Autorin, Übersetzerin und Zeitzeugin, 92 Jahre jung und nicht leise, eine Persönlichkeit von überbordendem Charisma, steht im Mittelpunkt des Debüt-Dokumentarfilmes der Schauspielerin Carla-Maria Teaha. Der etwas sperrige Titel, „De ce mă cheamă Nora, când cerul meu e senin“ (Warum heiße ich Nora, obwohl keine Wolke meinen Himmel trübt), erklärt sich im Laufe des Filmes (fast von)selbst. Hier muss angemerkt werden, dass der wortspielerisch gewitzte Dichter Oskar Pastior der Autorin gesagt haben soll, ihr Namen, Nora, sei die weibliche Form von ,,nor“ (rum. Wolke). Der Film ist eine Zeitreise, beginnend mit tragischen persönlichen Erlebnissen in den 1950er Jahren des letzten Jahrhunderts, über die bleierne Zeit der Diktatur hin zur Corona-Pandemie und ihren Auswüchsen für die Menschen in den 20er Jahren dieses Jahrtausends. Die Regisseurin versteht es, Nora Iuga mit all deren Herzlichkeit, Menschlichkeit und Toleranz zu zeigen, so dass es den Zuschauer anrührt. Beispielhaft kann dafür ein gezeigtes Telefongespräch genommen werden: Das Telefon klingelt in der kleinen, feinen Wohnung Noras in Bukarest, sie nimmt den Hörer ab, antwortet dem Anrufer auf die Frage, wie es ihr gehe, überschwänglich freundlich mit einem Lachen im Gesicht, „gut geht es mir, wie soll es sonst gehen alleine hier, umgeben von der unleidigen Pandemie!” Entwaffnend offen verpackt Nora ihre Ironie und Frustration über die Situation aller Menschen während den Pandemiemaßnahmen in einer nicht gespielten, sondern authentischen Herzlichkeit! Auf die Frage der Regisseurin, gestellt nach dem Telefongespräch, wer denn angerufen habe, antwortete Nora mit einem entwaffnenden Lachen: „Keine Ahnung!” Diese Szene ist typisch und es reihten sich einige dieser „vorder-hintergründig“ lustigen Szenen aneinander, die dem Zuschauer das Bild vermitteln, Nora Iuga schon lange zu kennen. Die Dokumentation berührt die Seele wie wenig sonst in unserer Zeit, das Universum Nora Iugas ist zeitlos und man versteht ihre Feststellung: „In die andere Welt nehme ich die Poesie mit!“ Nach dem Ende des Filmes stellte sich ein Gefühl der Traurigkeit ein wegen dem filmischen Ende der Reise durch die Poesie, doch diese verliert sich in das Glücksgefühl, teilgenommen zu haben an einer Welt voller Optimismus, Toleranz, Liebe und Gefühlen. Die Seele kann sagen, was sie fühlt, nicht nur, wenn man ihre Hand aufs Papier lässt, sie spricht durch ein herzliches Lachen.
Lachen konnte man eher selten bei den Filmen des Astrafilm-Festivals. Vielmehr wurden dramatische Lebensverhältnisse dargestellt, wie jene im Film „Adieu Sauvage“ von Sergio Guataquira Sarmiento. Im Doku dringt er in das Leben der Cácuas ein, ein indigener Volksstamm in Kolumbien, in dem es eine rätselhafte Selbstmordwelle gibt. Unterwegs kann das Publikum sehr viel über diese Bevölkerungsgruppe erfahren. Da gibt es Einblicke in das Leben dieser indigenen Menschen, ihren Alltag. Auch der Glaube spielt eine Rolle. Die Natur ist diesen Menschen nicht nur physisch sehr nah. Sie ist auch ein fester Teil ihres Lebens und ihrer Weltanschauung. Das muss man nicht immer nachvollziehen können. Witzig ist beispielsweise die Szene, in der sich Sarmiento auf ein für unser Empfinden groteskes Ritual einlässt, um sein Schnarchen zu heilen. Etwas eigenartig empfanden einige Zuschauer die Wahl des Autors, den Film schwarz-weiß zu drehen. Der Amazonas-Regenwald hätte bestimmt in bunt noch besser ausgesehen. „Adieu Sauvage“ gewann beim Astrafilm-Festival den Preis für den besten Film in der Kategorie „Neue Generation der Filmemacher“.
Der beste Dokumentarfilm des Mittel- und Osteuropäischen Wettbewerbs kam aus Stalins Geburtsstadt Gori: „Aghdgoma” (Die Nordostwinde), in der Regie von Nikoloz Bezhanishvili (Georgien). Als die Statue von Josef Stalin vom Hauptplatz der Stadt weggetragen wird, kämpft eine Gruppe Nostalgiker dafür, diese wieder aufzustellen. Sie sammeln Unterschriften und streiten zwischendurch mit einer gleichgesinnten Partei, mit wenig Mitgliedern, die ebenfalls von der täglichen Realität überfordert sind. Die Jury begründete die Entscheidung: „,Wind des Wandels’ ist eine eindringliche, fesselnde und intime Studie über eine Gruppe älterer Menschen, die sich nach dem Kommunismus sehnen und entschlossen sind, die Erinnerung an Stalin in seiner und ihrer Geburtsstadt zu bewahren. Der Film, der die Männer und Frauen, die von der Geschichte geprägt wurden, mit viel Feingefühl porträtiert, ist kühn und doch feinfühlig und zeigt seine Figuren mit nüchternem Einfühlungsvermögen: weder als Helden oder Anti-Helden noch als Opfer. Was aus den geduldigen Beobachtungen und dem meisterhaften Schnitt entsteht, ist ein Film über Zugehörigkeit, Einsamkeit und kollektive Identität.“
In der Kategorie „Rumänien“ gewann der Film „Dulcele sărut al pământului“ von Gautier Gumpper. Die Entscheidung der Jury lautete: „Es ist ein Film, der die Schönheit des Lebens zeigt, das aus dem Kampf geboren wird, aus dem Wunsch, die Würde, die individuelle Integrität zu bewahren. In einem formal begrenzten, strengen Stil wird schrittweise und meisterhaft eine Erzählung über das Leben am Rande der Gesellschaft entwickelt. Mit Würde und poetischer Gestaltungskraft und unter virtuosem Einsatz filmischer Mittel schafft der Autor jene affektive Nähe zu seinem Protagonisten und verschafft dem Stimmlosen Gehör.”
„Amar” war ein rumänischer Film, bei dem der Andrang sehr groß war, so dass am Samstag, dem 21. Oktober, einige Zuschauer auf den Treppen im Kinosaal saßen, nur um den Film zu sehen.
Vor zwei Jahren machte die Anwältin Diana Gavra einen kurzen Halt auf dem Markt. Sie hatte viel Geld dabei, mehrere tausend Lei in einem Umschlag. Es war kurz vor Black Friday und sie wollte einen Computer im Sonderangebot kaufen. Sie hatte Appetit auf Weintrauben, und es kam ihr nicht in den Sinn, dass ihr auf dem Domenii-Markt mitten am Tag etwas zustoßen könnte. Ein paar Minuten später stellte sie fest, dass ihr ganzes Geld gestohlen worden war. Sie hatte nichts gespürt und konnte nicht feststellen, wann es passiert war. Sie ging zur Polizei, die sich Zugang zu den Überwachungskameras in der Gegend verschaffte, und innerhalb weniger Tage war der Dieb gefasst. Sein Name war Amar Răducanu, ein junger Roma aus Bukarest, der gerade wegen Diebstahls aus dem Gefängnis entlassen worden war. Da er in jenen Tagen der Freiheit mehrere Menschen beklaut hatte und erwischt worden war, drohte Amar ein neuer Prozess und höchstwahrscheinlich eine neue Verurteilung. Als Amar die Anwältin anrief, um ihr vorzuschlagen, er würde ihr das gestohlene Geld zurückgeben, um einer weiteren Haftstrafe zu entgehen, lehnte sie ab. Ihr war klar, dass der Mann erneut stehlen müsste, um zu Geld zu kommen. Stattdessen bot sie ihm einen Handel an: Sie würde ihre Klage zurückziehen, wenn er sich bereit erklärte, eine Rolle in einem von ihr gedrehten Dokumentarfilm zu spielen. Amar nahm an: „Ja, ich möchte über mein Leben sprechen.“ So entstand der Film „Amar“.
Der Dokumentarfilm von Diana Gavra zeigt das Leben von mehreren Taschendieben, die aus dem Taschendiebstahl eine Kunst, oder wie sie sagen „ein Handwerk“ gemacht haben. Dabei entdeckt der Zuschauer die Denkweise, die hinter dem Stehlen steht. Die Diebe stammen aus benachteiligten Verhältnissen, sie waren süchtig, auf der Straße aufgewachsen oder sie haben die Systeme, Gesetze und Haftbedingungen in verschiedenen Gefängnissen in ganz Europa aus erster Hand kennengelernt. Einige sind unverbesserlich, andere haben sich in die Sozialsysteme anderer Länder integriert, haben lesen und schreiben gelernt und haben ein soziales Leben. „Amar” gewann bei Astrafilm den Preis für „Neue Perspektiven”.
Im Anschluss an die Preisverleihung wurde auch der Initiator und Direktor des Astrafilm-Festivals, Dumitru Budrala, gewürdigt. Der Hermannstädter Stadtrat hatte beschlossen, Budrala die Ehrenbürgerschaft der Stadt zu verleihen, die Insignien überreichte im Auftrag von Hermannstadts Bürgermeisterin Astrid Fodor Stadtrat Tiberiu Drăgan. Am Vortag hatte Budrala das zahlreiche Publikum mit „Calea laptelui“ (Die Milchstraße), ein in Arbeit befindlicher Doku über die letzte Schafzüchterfamilie aus dem Weiler La Cruci in den Șureanu-Bergen bekannt gemacht, die noch bis letztes Jahr die Wanderweidewirtschaft pflegte. Die Dreharbeiten erfolgten von 2019 bis 2021, die Familie hat inzwischen diese Art der Schafzucht aufgegeben und damit sei auch diese uralte Tradition gestorben. So lautet der letzte Satz im Kommentar zum Film, in dem jedes Bild Wehmut atmet, bei aller harten Arbeit, bei der alle Familienmitglieder anpacken. Der tosende Applaus war durchaus verdient, im Anschluss konnte man mit Budrala und den anwesenden Mitgliedern der Protagonisten-Familie ins Gespräch kommen, die Moderation hatte die Philosophin Mihaela Miroiu inne, die in ihrer sachlichen Art zugab, dass der in Arbeit befindliche Film sie zutiefst betroffen gemacht habe.
Unter https://www.astrafilm.ro/ro/2023/program-complet/online-aff kann man noch bis zum 30. Oktober, 23.59 Uhr, von Rumänien aus eine Auswahl von 43 Dokumentarfilmen anschauen. Eine Film kostet 20 Lei, ein Abonnement für alle Filme 200 Lei.
Cynthia PINTER
Ruxandra STĂNESCU
Lothar SCHELENZ
Beatrice UNGAR