Koordinaten einer Lebensleistung

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Eine Annäherung an die Volkskundlerin und Museologin Raymonde Wiener

Ausgabe Nr. 2836

Raymonde Wiener (1930-2023).                     Foto: Archiv der Familie Dörr

Am 18. September 2023 verstarb in Hermannstadt in ihrem 93. Lebensjahr die langjährige Leiterin der Volkskundeabteilung am Brukenthalmuseum, Raymonde Wiener. Drei Jahrzehnte lang war sie maßgeblich an dem Ausbau der Sammlungen beteiligt, hat deren Profil inhaltlich geschärft und sich gleichzeitig für die Professionalisierung der musealen Ausstellungstätigkeit landesweit eingesetzt. Als herausragende Persönlichkeit in der Museologie war sie für Generationen junger Museologen und Wissenschaftler auf dem Gebiet der Materialforschung im Bereich Textilien und Trachten ein Vorbild, ihr Wirken auf dem Gebiet musealer Präsentation für viele von uns prägend. Auch hat sie, die in der Volkskultur und den Sprachen aller siebenbürgischen Ethnien beheimatet war, ihren Schützlingen am Museum den Blick auf die interdisziplinäre wie Ethnien übergreifende Ausrichtung der Forschung gelenkt. Das alles geschah in einer Zeit ideologisch-kommunistischer Zwänge und Kontrollwahns, der Marginalisierung ethnischer Minderheiten. Sie wusste all diese Anfeindungen meist erfolgreich zu umgehen, um den jungen Kollegen ihrer Abteilung den Anschluss an die europäische Forschung und deren Standards zu gewährleisten.

 

Auch wenn ich heute meine eigene, über vierzigjährige Museumskarriere vom Ende her überdenke, so geht der Brückenschlag in der Erinnerung unausweichlich zum ersten Arbeitstag, dem 2. September 1982, und zur Person der damaligen Abteilungsdirektorin zurück. Der Tag sollte richtungsweisend für meinen späteren museologischen Werdegang sein. Ich wurde als neue wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Volkskunstabteilung des Brukenthalmuseums von Frau Raymonde Wiener gleich mit einer Frage begrüßt: Ob ich wisse, welches das wichtigste Handwerkszeug einer Museologin wäre? Ich mag von einer derart erwartungsgenauen Frage als Neuling mit dem falschen, zögerlichen Verweis auf das Schreibgerät wohl überfordert gewesen sein, jedoch kam die Antwort ihrerseits prompt und gleich damit verbunden die erste Herausforderung an mein handwerkliches Können und das ästhetische Gespür: „Sie kommen Morgen ausgerüstet mit einer Schere und Nylonfaden her, ich nehme Sie zum Aufbau der neuen Ausstellung ins Palais mit“. Anderntags lagen vor einer großen Vitrine im Ausstellungssaal sechs – größere wie kleinere historische Webteppiche – für die ich den ganzen langen Tag Zeit hatte, um sie ästhetisch, die kunsthistorischen und konservatorischen Zusammenhänge berücksichtigend, einzuordnen. Wenn sich hierin mein kultur- und kunsthistorisches Wissen und – ganz wichtig – das ästhetische Gespür zufriedenstellend widerspiegeln sollte, so wäre ich am Museum gut aufgehoben. Wenn nicht…? Die Frage blieb den ganzen Tag lang im Raum schweben. Diese große Vitrine zu bestücken, die Hilfskonstruktionen hierfür zu entwerfen, den Schreiner anzuleiten – das wurde dann zu meinem Gesellenstück im Fach. Ab diesem Tag hatte ich in Raymonde Wiener eine strenge und engagierte Lehrerin, eine Instanz in Sachen Ausstellungsgestaltung an meiner Seite, wie ich sie später nie mehr angetroffen habe.

Von ihr lernte man mehr als nur die Regeln der fachgerechten musealen Präsentation, sondern die Anordnung disparater Artefakte zu einer emotionalen Raumlandschaft. Frau Wieners Arbeit zielte darauf, mit den Ausstellungen den Besuchern des Brukenthalmuseums – diese kamen damals schon aus allen Ländern der Welt – ein unverwechselbares, sinnliches, zugleich ästhetisches Erlebnis zu bieten. Begriffe wie Blickachse, Farbklangbereich, bildliche Spannungsklammer, Rhythmisierung, Impulsmotiv, Farb- und Musterbrechung – all diese wichtigen Aspekte des Ausstellungsmachens wurden in der musealen Praxis von einer Frau, die als Ausstellungskuratorin über das Brukenthalmuseum hinaus in der gesamten Fachwelt Rumäniens einen legendären Ruf genoss, den Lernenden anschaulich vermittelt. Man erzählte sich, sie könne jedes noch so langweilige und aride Ausstellungsthema während des Aufbaues in ein sinnlich-ästhetisches Erlebnis verwandeln. Solches geschah zugleich mit aller gebotenen Ehrfurcht vor dem auszustellenden Gegenstand und der wissenschaftlichen Akkuratesse sowie der selbstverordneten Distanz zu den Gegenständen, den Zeugnissen längst vergangener Lebenswelten.

Raymonde Wiener wurde 1930 in Kronstadt geboren. Als Tochter eines Banater Schwaben und einer Ungarin wuchs das Kind zweisprachig auf. Nach der Auflösung der Klosterschule der Ursulinen in Hermannstadt 1948, wechselte die junge Frau ans rumänische Mädchengymnasium Domniţa Ileana. Diese Umstände und die Resonanzbereitschaft Raymonde Wieners für die so unterschiedlichen, vielfältigen Kulturen Siebenbürgens prägten das Weltverständnis der Heranwachsenden. Sie schufen die Voraussetzung für ihre spätere wissenschaftliche Entwicklung, die das Ethnisch-Selbstreferenzielle nie anstrebte und die stets den Blick über den Tellerrand zu dem Andersnationalen wagte.

Nach dem Abitur begann die musisch begabte Raymonde Wiener ein sechsjähriges Kunststudium an der Ion-Andreescu-Kunstakademie der Universität Klausenburg/Cluj. Den Schwerpunkt ihres Studiums bildeten die textilen Künste, Textilwissenschaften und das Trachtenwesen. Ihre Teilnahme an den breit ins Gelände führenden Feldforschungen des Ethnographischen Museums Klausenburg boten der Studentin die Gelegenheit, mit bekannten Größen der rumänischen und ungarischen Volkskunde zusammenzuarbeiten – wie dem Kostüm- und Volkskunstexperten des Bihauer Landes Nicolae Dunăre, dem Architekten, Habitat- und Möbelforscher im ungarischen und szeklerischen ländlichen Raum Kós Károly, dem Volkskundler Cornel Irimie, der später Direktor des Brukenthalmuseums werden sollte.

Als Raymonde Wiener nach einer kurzzeitigen Beschäftigung in Kronstadt im Jahr 1956 auf Vermittlung ihres ehemaligen Professors Daniel Popescu ans Brukenthalmuseum berufen wurde, fand sie hier ein Museum im inhaltlichen Aufbruch und gestalterischen Umbruch vor. Die volkskundlichen Sammlungen des Siebenbürgischen Karpatenvereins und jene des ASTRA-Museums waren dem einstigen sächsischen Brukenthalmuseum mit seiner ursprünglichen Ausrichtung als universales Kunstmuseum nach dessen Nationalisierung 1948 einverleibt worden. Es galt, unter der Leitung des Volkskundlers Cornel Irimie eine entsprechende Museumsabteilung aufzubauen und sie in einer Dauerausstellung zu präsentieren. Vorbild war der jungen Wissenschaftlerin unter anderen auch Julius Bielz, doch konnte sie nur mehr ein gutes Jahr an seiner Seite arbeiten.

Raymonde Wiener fand in der neu gegründeten Volkskunstabteilung (Secţia de artă populară şi etnografie) des nunmehr staatlichen Nationalmuseums ein Betätigungsfeld vor, in dem sich ihre Schöpferkraft frei entfalten konnte. Recherchen zu den wichtigsten Themen der Volkskunst und den Lebensbereichen, in denen die ästhetisch ausstaffierten Artefakte – Ziertextilien, Trachten, Keramiken, Möbel und Ostereier – eine wichtige Rolle spielten, waren Ziel und Zugang zu ihrem wichtigsten musealen Interessengebiet, der Präsentation. Die von Raymonde Wiener koordinierte Einrichtung der großangelegten Volkskunstschau auf der gesamten Beletage des Brukenthalpalais‘ bildete einen ersten Höhepunkt dieser Tätigkeit. Diese prägte als Volkskunst-Dauerausstellung dann über mehr als ein Viertel Jahrhundert das Bild und das Wissen vieler Besucher und Ethnographen des traditionellen ländlichen Lebens in Siebenbürgen.

Auch die Einrichtung des Museums der bäuerlichen Technik im Jungen Wald bei Hermannstadt fiel in die Zeit der Tätigkeit von Raymonde Wiener. Sie konnte die Gnade der Stunde nutzen, bei einem Jahrhundertprojekt dieses Ausmaßes dabei zu sein, um sich dann auch maßgeblich einzubringen. Bei der Bewältigung dieser Mammutaufgabe, ein Freilichtmuseum auf mehr als hundert Hektar mit zu planen und mitzugestalten, kamen Raymonde Wiener ihre fachliche Vielseitigkeit, die Bereitschaft neue Wege zu gehen, ihre Fähigkeit im Team zu arbeiten, sowie ihre strukturierte Arbeitsweise zugute. Zusammen mit Cornel Irimie, Paul Niedermaier, Hedwig Ruşdea, Herbert Hoffmann und später Corneliu Bucur hat sie hier Bleibendes geleistet. Wieners Betätigungsfelder umfassten neben der wissenschaftlichen Archiv-Recherche und der musealen Themenausarbeitung, eine intensive Feldforschung zur Akquise der Gehöfte in situ, zu deren Transfer und Wiederaufbau im Museum, schließlich die Neueinrichtung der Wohnräume in den Gehöften am neuen Standort Museum und die museal-pädagogische Aufbereitung. Ihre Handschrift tragen bis heute im ASTRA-Museum die Themenabschnitte der häuslichen Textilindustrie und des -gewerbes, vom Hanf- und Flachsanbau über die Verarbeitung der Schafswolle und des Ziegenhaars, bis hin zur Seidenraupenzucht und der Verarbeitung der Rohseide, zu den Walkmühlen, den Kürschner-, Riemer-, Webblattmacher- und Seilerwerkstätten. Die ins Museum transferierten Handwerkergehöfte, zu denen Wiener recherchierte, belegen ein großes geographisches Areal – von Croici-Mătăsari (Rohseide) im Kreis Gorj, zu Nistoreşti (Walk- und Rauftrommel) im Kreis Vrancea, über Moeciu-Bran (Walktrommel) bei Kronstadt bis nach Poiana Sibiului (Wollverarbeitung) und Săsăuşi (Seilerei) im Kreis Hermannstadt.

Es würde den Rahmen sprengen, alle wichtigen Sonderausstellungen zu nennen, die Raymonde Wiener im In- und Ausland in dieser Zeit kuratiert hat. Ausstellungen waren das Ausdrucksmittel, das ihren Gestaltungswillen herausforderte und so gab es kaum ein Jahr ohne eine Volkskundeausstellung im Brukenthalpalais, die sie nicht federführend koordinierte. Zu erwähnen wären hier exemplarisch die Ausstellungen zur „Rumänischen Volkskunst aus Südsiebenbürgen“ (1960); andere – „Aus der ethnographischen Sammlung zur Volkskunst außereuropäischer Völker“ (1964); „Ikonen auf Glas und bemalte Ostereier“ (1967), „Keramik von Draas bis Hurezu“ und schließlich die Präsentation „Rumänische Volkskultur“ im Ethnographischen Museum der Schweiz in Basel (1973) – folgten. Ihre letzte große Ausstellung war der rumänischen Hirtenkultur gewidmet und wurde im ,,Schatzkästlein,“ in Hermannstadt am Kleinen Ring (1985) gezeigt.

Raymonde Wieners Ausstellungstätigkeit war begleitet von wissenschaftlichen Publikationen in rumänischer, französischer und deutscher Sprache, die unzertrennlich mit den Schwerpunktthemen ihrer Forschung verbunden waren. Historisch gespeichertes Wissen aus Archivrecherchen verband sich hier mit den Vororterfahrungen ihrer zahlreichen Feldforschungen und dem unschätzbaren Wissen aus musealen Erkenntnissen im direkten Umgang mit den historischen Artefakten siebenbürgischer Volkskultur. Die Abhandlungen betreffen etwa „Objets d’Art populaire en bois“ (1963), „Einige Probleme der Ausstellungsarbeit im Museum“ (1964), „Beiträge zum Studium der volkstümlichen Technik der Knochenbearbeitung“ (1968), „…Erwerb und Rekonstruktion von Einheiten [hier Gehöfte] im Freilichtmuseum“ (1964) „Die geschnitzten Möbel der rudari [Roma-Handwerker]“ (1973), „Die Faltenstickerei in den siebenbürgischen Volkstrachten“ (1973), die „Technik der verzierten Ostereier“ (1975), „Die Trachtensammlung des Brukenthalmuseums“ (1975), „Typologische Einordnung der in der häuslichen Textilindustrie verwendeten Geräte in der Hermannstädter Umgebung [Mărginimea Sibiului].“ Ihr Wissen fand seinen Niederschlag in wichtigen Fachpublikationen, etwa in der Reihe der Studien und Mitteilungen aus dem Brukenthalmuseum, der Cibinium-Reihe des Museums der bäuerlichen Technik, den von der Akademie der Wissenschaften herausgegebenen Forschungen zur Volks-und Landeskunde, der Neuen Literatur. Aber auch zahlreiche populärwissenschaftliche Artikel in den wichtigsten Zeitungen und Zeitschriften Rumäniens, sowie Konzepte für Diafilme (Animafilm Bukarest) stammen aus ihrer Feder und stehen bis heute für beispielhafte Kulturvermittlung.

Als Abteilungsdirektorin für Volkskunst hat Wiener vielen Nachwuchswissenschaftlern die Welt der siebenbürgischen ländlichen Kultur nahegebracht, ihnen den Umgang mit Trachten, Stickereien, Tonkrügeln und bemalten Möbeln als sinnlich-emotionale Begegnung vermittelt. Sie war eine strenge aber trotzdem jedem von uns menschlich nahe Führungspersönlichkeit. Die Volkskundler, die sie in den 70er und 80er Jahren ausgebildet und inspiriert hat, fanden zu einem unschlagbaren Forscher- und Museumsteam zusammen, das zur Etablierung ihres Fachgebietes in Rumänien Wesentliches beigetragen hat – die Namen Lia Gangolea, Anca Fleşeriu, Dan Munteanu, Valer Deleanu, Marcela Necula u. a. stehen hierfür. Forschungswille und Ausdauer, moralische Integrität und Sinn für das Schöne – dieses Vermächtnis einer Wissenschaftlerin und Museologin, die im Kommunismus ihre Standhaftigkeit trotz Anfeindungen bewahrte, gilt es, auch an nächste Generationen weiterzugeben. Es bleibt die Erinnerung an eine wunderbare Frau, die sich in ihrem Leben nie in den Vordergrund gedrängt hat.

In der Gewissheit ihres Heimgangs ins ewige Leben, möge unser Herrgott ihr die Seele erfreuen und sie allem Schönen und Reinen, nach dem sie zeitlebens auf der Suche war, zuführen.

Irmgard SEDLER

Veröffentlicht in Aktuelle Ausgabe, Persönlichkeiten.