Ausgabe Nr. 2831
Ein Rückblick auf die Gestaltungskraft von Antje Schmidt-Classen
Zu früh und zu schnell ist für uns alle, ganz besonders für uns, ihre jahrelangen Mitarbeiter, Freunde und Vertrauten, dieses Jubiläum der Ehrenbürgerin unserer Stadt gekommen. Viel mehr als diese Geburtstagsfeier sind uns jedoch die Feste ihres Wirkens, die Wunder ihrer Sprache und der Zusammenhang ihrer Gedanken gelegen, bewahrt als Wahrheiten ihrer Handlungen sowie als Einwirkungen des Einsatzes ihres im Januar 1991 gegründeten Vereins Paten des Taubstummenheims Hermannstadt / Rumänien e. V. Siegen und vollzogen in den Bedeutungsmöglichkeiten der Verträge, die Antje Schmidt-Classen geschlossen hat. Dies, bereits im Sommer 1991 mit dem Staatssekretariat für Behinderte in Bukarest und mit Unterstützung des Präfekten, mit dem Inspektorat für Behinderte in Hermannstadt, und einige Zeit darauf, am 24. Mai 1993, auch mit dem (rumänischen) Bildungsministerium.
Spürt man nun den Jahresberichten des Patenvereins nach, den Antje Schmidt-Classen seit über drei Jahrzehnten als Erste Vorsitzende leitet und dessen Motto seit seiner Gründung die Maxime „Gebt den Kindern eine Chance“ ist, und folgt man gleichermaßen den Dankesworten der Kinder des Taubstummenheims, die diese immer wieder an die Paten und Helfer des Siegener Vereins richten – eindrucksvoll und berührend, vor allem in den Jahreskalendern des Taubstummenheims –, so wird man wie in einer Chronik durch die Geschichte des Heims geführt. Denn sie sprechen vom Leben jener, die sie geschrieben haben: Die Berichte atmen die Wärme und die tätige Nächstenliebe der Siegener Paten und Helfer, und die berührenden Worte der hörgeschädigten Kinder kleiden in die Bilder der Sprache ihren Dank und ihre Zuversicht. Beide bringen in diesem Bedeutungszusammenhang Zeugnisse hervor, die der Schlüssel zum Verständnis des Wirkens nicht allein des Patenvereins sind. Sie sind gleichermaßen, ja vielmehr der Schlüssel der Wirksamkeit von Antje Schmidt-Classen in der Welt ihrer Schützlinge und aller Angehörigen dieses Taubstummenheims. Das heute als Schulzentrum für inklusive Erziehung Nr. 2 Sibiu/Hermannstadt, mit Sitz in der Andrei-Șaguna-Straße Nr. 8, bekannt ist.
Wir erfreuen uns im Weiteren an der Wahrheit, wenn wir daran erinnern, dass Antje Schmidt-Classen, die bereits in den letzten Jahren vor den historischen Ereignissen von 1989 nach Hermannstadt kam, mit den damals von ihr zusammengestellten Hilfstransporten zugleich auch die Ethik und die Moral jener komplexen Gesellschaft mit sich brachte, der sie 25 Jahre lang als Lehrerin angehörte. Bestimmend war für jene Zeit zudem auch Folgendes: Im Unterschied zu unserer damaligen sozialen und politischen Ordnung, von der sich Antje Schmidt-Classen stetig und vollständig löste, war die Gesellschaft ihres heimatlichen deutschen Umfeldes jener Typ der sozialen Verbundenheit, in der die soziale Verflechtung und die Dichte der sozialen Beziehungen zur Grundsituation im gesamtgesellschaftlichen Kommunikationsprozess gehörten. Und es auch weiterhin blieben. Diese Ethik und Moral der komplexen Gesellschaft ihrer Heimat bestimmten in der Folge all die Jahre hindurch Antje Schmidt-Classens Überzeugungen und somit auch ihr rechtes Handeln. Und gleichermaßen auch ihre stetigen und unermüdlichen Versuche, hier, in ihrem Hermannstädter Umfeld zu bewirken, dass allen Handlungen die Gesetze und Maßstäben der Moral zugrunde gelegt wurden. Es galt für sie in der Folge somit zunächst wahrzunehmen, in welchem Maße die Lebenszusammenhänge dieser als sozial einheitlich vermuteten Gemeinschaft von Kindern von den konkreten Gegebenheiten ihrer Umwelt abhängig waren, und ebenso zu erfassen, inwieweit sie von der Unterstützungsbereitschaft der rumänischen Behörden, als Gradmesser ihrer Einstellung, bestimmt wurden – und gleichermaßen von den mannigfaltigen Einflüssen der sozialen Umwelt. Diese Wahrnehmung und Prüfungen geschahen mit dem Ziel, die Wirksamkeit der Schirmherrschaft zu gewährleisten, die Antje Schmidt-Classen inzwischen vertraglich für die Schule übernommen hatte, „die künftig nur als Sonderschule für Gehörbehinderte zu nutzen bestimmt“ war – so die Vereinbarung mit den Entscheidungsträgern.
Zum besseren Verständnis der nun folgenden Gedankenzusammenhänge müssten an dieser Stelle die stetigen Bemühungen angeschlossen werden, die die Schirmherrin Antje Schmidt-Classen systematisch unter die Leitidee stellte, die Lebensbedingungen und die Schulorganisation in der nun von ihr betreuten Schule durch notwendige Kooperationsverträge mit technisch und wissenschaftlich ausgewiesenen Partnern aus dem In- und Ausland vornehmlich zu verbessern. Und ebenso auch unter die Vorstellung, den Anteil von Lernangeboten an der Entwicklung und Förderung der hörgeschädigten Kinder durch Unterricht und Erziehung, Lehren und Lernen wesentlich zu bereichern. Und durch computergestützte Verfahren den Zuwachs an Lernleistungen nachprüfbar zu sichern. Eine konkrete Erfassung der Möglichkeiten, durch Hilfeleistungen als Wertmaß für die hörgeschädigten Kinder eine langfristige und gesicherte Existenz aufzubauen, bot die HZ Nr. 2765/55. Jahrgang, vom 8. April 2022, unter dem Beitragstitel „Gebt den Kindern eine Chance“.
Der Blick auf diesen Lebensabschnitt der Schirmherrin der Schule erfüllt jedoch einen jeden von uns mit Bildern und Gedanken und lässt erkennen, dass es, als ihr Lebensplan, der Weg zur Tiefe und zum Reichtum der Wahrheit und gleichermaßen zum sozialen Erfolg war. Zur Beurteilung der Wirksamkeit dieses Lebensplans zitieren wir aus dem Buch Taoteking des Laotse die Aphorismen ,,Wer sein Land gestaltet, dessen Leben wird reich. / Wer die Welt gestaltet, dessen Leben wird weit“.
Zum Reichtum und zur Weite des nun im Sinne dieser Aphorismen gestalteten Lebens der Schirmherrin der Schule gehört, dass das rumänische Unterrichtsministerium im Sommer 1995 die Taubstummenschule zum Pilotprojekt erklärte. Damit wurde der Unterricht für neue Impulse geöffnet. Denn er unterlag nicht mehr dem zentral vergebenen, strengen Stoffverteilungsplan. Zu der darauf aufbauenden Entwicklung gehörte nun auch, dass von der beruflichen Qualifikation und dem Wissen von Antje Schmidt-Classen immer wieder wichtige Impulse ausgingen. Sie berücksichtigten vor allem die Rolle und die kumulative Wirkung der Persönlichkeits- und Umweltvariablen als Bedingungsfaktoren für das Zustandekommen von Sprech- und Lernleistungen der hörgeschädigten Kinder und waren ausschlaggebend für die Steuerung und Steigerung der kognitiven Leistungen der Kinder.
Weiterhin gehörte zu dem Erfolg des Lebens, dass die Arbeit der Schirmherrin und gleichermaßen die des Siegener Patenvereins viel Lob und Anerkennung fand durch Frau Christiane Herzog, die inzwischen verstorbene Gattin des damaligen Bundespräsidenten Roman Herzog, die das Taubstummenheim im Mai 1995 besuchte und die Beziehung zum deutschen Entwicklungshilfe-Ministerium herstellte.
Zwei Jahre später besuchte dessen damaliger Minister Spranger das Taubstummenheim Hermannstadt und sagte danach die Förderung eines audiopädagogischen Programms zu, das Pilotcharakter für die Ausbildung von hörgeschädigten Kindern in ganz Rumänien hatte. Das von Antje Schmidt-Classen für Hermannstadt initiierte und vermittelte Förderungsprojekt in Höhe von 1,5 Millionen Euro für Lehrer und Ärzte lief unter dem Arbeitstitel „Verbesserte Versorgung von hörgeschädigten Kindern im Raum Sibiu/Hermannstadt“. Die Verantwortung für die Durchführung des Projekts lag in den Händen der Gesellschaft für technische Zusammenarbeit (GTZ).
Zu dem Bild von zuversichtlicher Wirksamkeit und Nächstenliebe gehört noch eine weitere Aufgabe, die Antje Schmidt-Classen in Hermannstadt übernommen hatte: Die Betreuung von Not leidenden alten Menschen und Familien (zeitweilig 100 Familien), die auf überlebenswichtige Hilfe angewiesen waren.
Für diese Hingabe und Fürsorge, mit der sich Antje Schmidt-Classen für das Gebot der Nächstenliebe als wichtigste Lebensregel einsetzte, hat sie vom damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker am 28. Juni 1991 das Verdienstkreuz am Bande des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland erhalten, und am 15. November 1991 wurde sie zur Ehrenbürgerin der Stadt Hermannstadt ernannt.
Im Geiste ihrer Herzenswärme und ihres Dienstes als Schirmherrin der Taubstummenschule wünschen wir Antje Schmidt-Classen zum 80-jährigen Jubiläum, sie möge ihre Vorstellungen vom Leben auch weiterhin auf diesen Glauben von der Kraft der Wahrheit und der Liebe gründen und im christlichen Verständnis dieser Gebote auch fernerhin den Weg zum inneren Frieden und zur Harmonie mit der Welt finden.
Gerhard KONNERTH