Erinnern für die Zukunft

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Ein Meisterwerk: Der Roman ,,Brunnentore“ von Eginald Schlattner

Eginald Schlattner: Brunnentore. Roman. Pop Verlag Ludwigsburg 2023, Reihe Epik Bd. 138. 320 Seiten, ISBN 978-3-86356-399-8, 25 Euro/124 Lei. In Hermannstadt liegt das Buch in der Schiller-Buchhandlung und im Erasmus-Büchercafé auf.

„Brunnentore“ hat Eginald Schlattner sein jüngstes, bei Traian Pop Traian erschienenes Buch genannt. Es öffnet Welten des Erinnerns. Zu Räumen, die bis zum Rand voll sind von Ereignissen, findet der Autor immerzu einen neuen Schlüssel, um sie der Drohung, vergessen zu werden, zu entreißen und sie für die Jetztzeit ins Leben zu rufen. In den ersten programmatischen Sätzen lässt der Dichter den Grundton erklingen, der sich bis in die letzten Zeilen dieses erzählenden Meisterwerks mit an- und abschwellenden Klangfarben zieht.

Als handelnde Personen treten auf: Kinder, als „Erscheinungen ferner Welten“. Sie begegneten einander „nicht ohne Neugier und mit der gebührenden Artigkeit“, schließlich hatte die Großmutter des Erzählers geboten: „benehmt euch wie gesittete Buben.“ Woher auch immer diese Kinder kamen, ob aus Deutsch sprechenden Familien oder aus Ungarisch sprechenden oder ob aus Rumänisch sprechenden oder Romanes sprechenden, „aufregend war, dass sie da waren, wie vom Himmel gefallen.“ (S. 13) Das Kaleidoskop der Erinnerungssplitter, „die herbeigaukeln“, sind „geschuldet … dem vergrübelten Spürsinn eines Buben. Mir.“ – so beginnt der Autor seine Reise durch die Zeit. Kurtfelix, sein jüngerer, und Engelbert, sein älterer Bruder, begleiten ihn auf dieser Reise. Der ältere Engelbert bleibt fern, ein „Findelkind“. Er endet in einem tödlichen Unfall, er „verschwand vor unseren Augen.“ (S. 319) Zuvor jedoch hatte er, „gewissermaßen vom Himmel gefallen“, die Hymne der Siebenbürger Sachsen gesungen. Der jüngere Bruder, ein „Zappelphilipp“, suchte mit überschießender Fantasie „eigene Wege“ (S. 30), nicht ohne Abenteuerlust. Beide Brüder balgten sich, wobei der kleinere unterlag. Dem Rat des Großvaters folgten sie spärlich: „Übermut tut selten gut.“ (S. 33)

Das erzählende Ich folgt seiner inneren Stimme. Sie sagt ihm, was ihm widerfahren war: „Es mochte so gewesen sein. Es muss nicht so gewesen sein. Nicht die Wahrheit besteche. Es bekehre die Wahrhaftigkeit.“ In der schwebenden Ambivalenz offenbart sich, was das Herz zu erkennen vermag, bis „hin, dass Gedanken und Worte, den Personen in den Mund gelegt, gewiss so gewesen sind. Und wenn nicht, so hätten sie sein können.“ (S. 13) Und so entbarg der Fünfjährige Kurtfelix die Wahrheit hinter dem Geheimnis des Teichs, des Weihers, des Wasserlochs, der den verschwenderisch gewachsenen Garten mit Blumen besät, „die nur zum Schönstehen waren“, die Grenze des Anwesens – das Brunnentor. Hier sei die Frau Holle zu Hause.

In der Begegnung mit den ungarisch sprechenden Mädchen Irénke und Ildiko weckte sich frühe Lust. Irénke, die ältere der beiden – seine „Herzensbraut“ (S. 48) –, vermochte es, ihn zu verführen und er erfreute sich daran. Beim ungarischen Ostertanz mischte sich in die Zuneigung auch frühes Leid, „zu spüren, dass ich nicht dazu gehörte: ,draußen vor der Tür‘!“ (S. 39) Das Leitmotiv des Begrenzt-Seins wurde zum steinernen Gast, seltener als Bedrohung, mehr als Impuls für den, der sich selbst nach seiner Herkunft befragt. Die Szene, mit der das Buch schließt, nimmt das Leitmotiv auf und fügt es in ein offenes Ende ein. Die liebende Mutter, der Fels in der Brandung der familialen Binnenbeziehungen, auch wenn sie, befremdet durch die emotionale Ferne des Vaters, den beiden jüngeren Brüdern ihre Herzenswärme zuwendet. Der von Nazi-Deutschen entfachte Furor entflammte im Lauf der kriegerischen Gewalt zu Beginn der 1940er nationalistische Gefühle in den zuvor meist friedlich miteinander verwobenen kulturellen Lebenswegen. Die Judenheit sollte exterminiert werden, das hatte Adolf Hitler sich ausgedacht und seine Helfershelfer hatten begonnen, diese Ungeheuerlichkeit zu exekutieren. Sinti und Roma sollten ins gleiche Verderben gejagt werden. Timothy Snyder sollte mit seinen historischen Forschungen – sechs Jahrzehnte nach den die Menschheit erschütternden Ereignissen – Landschaften zwischen Ukraine, Belarus, Moldawien, Rumänien, die osteuropäischen bloodlands beschreiben. Als ein Stein „durch das offene Fenster eines Nachbarn flog“ und der „Nachttopf aus Glas … mit einem Knall zerbarst“, war dies „wie ein Signal zum allgemeinen Aufbruch“. (S. 310) Die immerfort sich verändernde Grenze wurde als trennende Sicherheitslinie missverstanden. An einem Ort, der Zuflucht versprach, klopfte die Mutter an. Und sie wurde mit ihren beiden Kindern aufgenommen im Pfarrhaus, wie viele andere, im Schatten der Grenze.

Wie grotesk die neuen Grenzen gezogen wurden, beschreibt der Autor so: „husch, husch! – sei das Plumpsklo in Rumänien geblieben. Mit Sondergenehmigung müssten nunmehr die Pfarrersleute die Notdurft im Ausland verrichten.“ (S. 313/314) Der Pfarrer pries den Lokus, seit Jahrhunderten stehe er dort, „auf einer Erhebung throne das stille Örtchen, von wo aus man durch die drei Fensterchen erspähen könne, was in den Dorfstraßen passierte, in meditativer Geruhsamkeit und getarnt, im Sinne von: ,Man sieht und wird nicht gesehen.‘ … Und dann, nicht zu verachten: Jeder Gang zum Ort der Notdurft sei tatsächlich eine Lustreise ins Ausland. Wer könne sich heutzutage solches leisten?“ (S. 315) Das Selbstgefällige nationalistischer Machthaber kann durch Ironie begrenzt werden: Die List der Literatur entlarvt die plumpe Demonstration der Mächtigen.

Hier, in diesen alt-neuen Grenzstreifen, begegnen sich Mutter und Vater und ihre drei Söhne ein letztes Mal. Wo die ungarische Ackerfurche auf die Grenze zulief, blickte die Mutter mitsamt ihren beiden jüngeren Söhnen in den Lauf der rumänischen Ackerfurche auf den Vater ihrer Kinder. Da tauchte, wie aus den Wirren der Zeit, Engelbert auf, der „verlorene Sohn“, „beschwingt, indem er eine Fahne schwang“, und die Hymne der Siebenbürger Sachsen sang: „Blau und Rot bis in den Tod“, „wie die Lerche am Ostermorgen trällerte er die Verse in die Morgenbläue, die sich über das Sprachengewirr an der Grenze spannte.“ (S. 317/ 318). Wie Engelbert gekommen war, so verschwand er wieder: „Die Erde verschluckte ihn.“ (S. 319) Kurtfelix, sein jüngster Bruder, schlug der alt-neuen Grenze am Ende sein Schnippchen, indem er sie mit einem „Purzelbaum über den letzten Erdwall“ der kindlichen Lächerlichkeit übergab. Naiver Schalk, verschmitzt und spitzbübisch, hintergründig und Weisheit, mit denen das Kind den erwachsenen Verblendeten an seine Grenze spielt. Dann aber, so endet der Strom, den der Erzählende durch die Schnellen einer gefährdeten Zeit lenkt, „öffnete sich der Schlagbaum mit der tausendjährigen Stephanskrone“, hin zum Vater. „Und wie von selbst schwang der zweite Schlagbaum in die Höhe mit dem Wappenspruch: ,Nihil sine Deo‘.“ (S. 320) Die engelsgleichen Brüder mit ihrem – zunächst – wiedervereinigten Elternpaar betraten ein Land, in dem sich ,,nichts ohne Gott“ ereignen solle.

Mit Eginald Schlattners ruhigem erzählenden Ton in „Brunnentore“ erfahren die Zuhörenden vom Leid der frühen Jahre von Kindern, die in einer sich ständig verändernden Welt aufwachsen. Sie sind geworfen in Räume, in denen verwahrloste politische Haltungen ihre Obsessionen in lokales Zusammenleben projizieren, damit Unheil entsteht. Getrieben von der Gier, politische Macht zu erobern, werden Lebenszusammenhänge auseinandergerissen, um Menschen zu verführen, im ,Anderen‘ einen ,Feind‘ zu sehen. War zuvor das Zusammenleben friedlich gestimmt, wenngleich nicht frei von Spannungen, so gelang es dem, der die Brandfackel des Nationalismus in diese Räume warf, sich als rettende Feuerwehr aufzuschwingen: So wird der Brandstifter zum selbst ernannten Retter. Mit ihrem feinen Gespür nehmen alterskluge Heranwachsende die komplexen Widersprüche in ihrer brisanten Schärfe wahr. In ihrem Verhalten gegenüber den Älteren spiegeln sich ihre Wahrnehmungen übergenau wider. Ist nicht der ,,Zappelphilipp“ Kurtfelix ein Bild, das sich gegen autoritäre Erziehungsmethoden wendet? Setzt nicht der sich stets der Familie entziehende Engelbert Zeichen gegen den sich immerfort verweigernden Vater? Selbst die Fähigkeit der Mutter, die Kinder mit Liebe zu umfangen, reicht nicht hin, den Mangel an Zuneigung zu beheben. Den Kindern aber bleibt die Gabe, trennscharf die Schwächen der Erwachsenen zu erkennen. Sie erobern sich die Welt, die ihnen vorgegeben wurde, nicht im „Schönstehen“. Der Autor erfindet mit seinen Blicken in die Kindheit das Wahrhafte ihrer Sehweisen, vorgreifend darauf, wie die Welt neu erschaffen werden kann: eine Welt der Poesie, die entsteht, sobald die Träume der Jugend in die Wirklichkeit drängen.

Wie gelingt das Eginald Schlattner? Wie auf einer Perlenschnur hat der Autor Splitter der Erinnerungen aufgereiht und sie in die Textur seines Erzählwerks eingestreut. Sie machen hellsichtig klar, wie ein Schatz gehoben werden kann, der sich tief in die Erinnerung eingegraben hat und darauf wartet, gehoben zu werden. Auf 320 Seiten werden 43 Fundstücke erinnert. Verknüpft werden sie mit 12 lyrischen Inseln, zumeist in der Form von Volksliedern. Beide Kunstgriffe machen den bei der Leserin und beim Leser entstehenden Horizont des Verstehens immer deutlicher. In welchen Erinnerungsräumen die handelnden Personen einander begegnet sind, woran sie in den Wirren der Zeit haben leiden müssen, tritt ins Bewusstsein der Lesenden. Leiden mussten sie, wenn auch begrenzt, an ihren eigenen Unzulänglichkeiten, mehr aber an den von außen auf sie einstürmenden Grenzen, deren Gefahren sie ihre Kraft zur Selbstbehauptung entgegensetzten. Mit innerer Wahrhaftigkeit konnten sie begrenzen, was ihnen als Grenzen von außen aufgezwungen wurden.

Mit seinem Buch „Brunnentore“ hat Eginald Schlattner einer versunkenen Kindheit mit poetischer Kraft ein literarisches Denkmal gesetzt und sie als Erinnerung für die Zukunft entsiegelt.

Gert WEISSKIRCHEN

 

Veröffentlicht in Literatur, Aktuelle Ausgabe, Persönlichkeiten.