,,Jedes Wort weiß etwas vom Teufelskreis“

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Schreiben als Erinnerung – Nobelpreisträgerin Herta Müller wurde 70

Ausgabe Nr. 2829

Herta Müller 2009 in Berlin.
Foto: Bernd WEIßBROD/ picture-alliance/ dpa

Die Nobelpreisträgerin Herta Müller gilt als eine der wichtigsten Stimmen der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Sie erblickte am 17. August 1953 im banatschwäbischen Nitzkydorf das Licht der Welt, besuchte dort die Dorfschule und anschließend bis zu dessen Auflösung das „Zehner Gymnasium“ in Temeswar. Das letzte Schuljahr absolvierte Herta Müller auf dem Nikolaus-Lenau Gymnasium in Temeswar, studierte anschließend zwischen 1972-1976 Germanistik und Rumänistik an der Universität Temeswar. Ihr Studium schloss sie 1976 mit einer Arbeit über den siebenbürgischen Lyriker Wolf von Aichelburg ab.

Während des Studiums fand sie Anschluss an einen Kreis junger Autoren der Aktionsgruppe Banat (Richard Wagner, Rolf Bossert, William Totok, Ernest Wichner, Anton Sterbling, Johann Ortinau, Albert Bohn, Werner Kremm, Johann Lippett), von dem sie wichtige Schreibanregungen erhalten hatte. „Ohne sie“, gesteht Herta Müller Jahre rückblickend, „hätte ich keine Bücher gelesen und keine geschrieben.“ Nach der Auflösung der Aktionsgruppe Banat gehörte Müller zum Adam-Müller-Guttenbrunn Literaturkreis, arbeitete als Übersetzerin in der „Tehnometal“ Fabrik aus Temeswar. Weil sie die Zusammarbeit mit dem rumänischen Geheimdienst Securitate verweigert hatte, wurde die Schriftstellerin entlassen, schikaniert und verfolgt, ihre Wohnung heimlich durchsucht. Nachdem Herta Müller 1985 mit ihrem damaligen Mann Richard Wagner den Reiseantrag stellt, wanderte sie 1987 in die Bundesrepublik aus.

Herta Müller hat ein breit gefächertes Oeuvre verfasst, das im Zeichen der Autofiktionalität steht, welches sich von den „Fransen eines Dorfes“ bis zum „Teppich aus Asphalt“ erstreckt, den Bogen vom „schwäbischen Frosch“ bis zum „Frosch des Diktators“ spannt und auch den bundesdeutschen „Frosch der Freiheit“ miteinbezieht. Die Nobelpreisträgerin macht die eigene Biografie zum Material eines fortgesetzten Nachdenkens über die alltäglichen Demütigungen, Bedrohungen und Zerstörungen des Individuums im Zeichen des menschenverachtenden Totalitären.

Nachdem die rumäniendeutsche Autorin bereits in den 1970er Jahren kurze Prosatexte in der „Neuen Banater Zeitung“ veröffentlicht hatte, debütierte sie 1982 im Bukarester Kriterion Verlag mit dem Erzählband „Niederungen“, den sie im Anschluss an den Tod ihres Vaters und nach den einsetzenden Schikanen des Regimes zu schreiben begonnen hatte. Der als Ergebnis eines langen Ringens mit der Zensur entstandene Band unternimmt aus der Perspektive eines Mädchens eine schonungslose Demontage des banatschwäbischen Dorfes. Es folgen „Drückender Tango“ (1984), „Barfüßiger Februar“ (1987) und in der Zeitspanne, da sie auf die Ausreisepapiere wartet, die Erzählung „Der Mensch ist ein großer Fasan auf der Welt“ (1986), in welcher die Problematik der Migration, die demütigenden Umstände des Wartens auf den Pass, die Korruption der Behörden, eine sich auflösende Gemeinschaft verarbeitet werden. Herta Müllers Texte, die im dörflichen Gewand spielen, handeln von der tödlichen Konformität des banatschwäbischen Dorfes, geprägt von Deutschtümelei, Scheinwerten, Anpassungsdruck, Kontrollmechanismus und Ethnozentrismus. In ihren negativen Heimatidyllen postuliert die Autorin eine Absage an falsche Dorf-
utopien, unternimmt eine schonungslose Kritik an bestehenden Denksystemen und utopischen Heimatdarstellungen. Mit „Reisende auf einem Bein“ (1989), dem einzigen in der bundesdeutschen Wirklichkeit verankerten Buch, verarbeitet die Autorin das Fremdheitsgefühl als kollektive Erfahrung einer ausgewanderten Generation.

Die städtische Welt erweist sich als Verdopplung der dörflichen und sie wird in den Nach-Wende- Romanen der Ceaușescu-Trilogie, „Der Fuchs war damals schon der Jäger“ (1992), „Herztier“ (1994), „Heute wär ich mir lieber nicht begegnet“ (1997) thematisiert. Ausgehend von der hautnah erlebten Unterdrückung der Ceaușescu-Tyrannei werden Praktiken totalitärer Machtergreifung, das Dissidentenleben, Überlebensstrategien weiblicher und männlicher Protagonisten beleuchtet. Im 2009 verlegten Roman „Atemschaukel“, der in Zusammenarbeit mit dem Dichter Oskar Pastior begonnen wurde und auf seine Lagererfahrung im Donbass zurückzuführen sind, thematisiert die Schriftstellerin die Deportations- und Lagererfahrung der rumäniendeutschen Minderheit in den russischen Arbeitslagern. Insofern sie hier Bilder einer Geschichte entwirft, die ihre eigene Erfahrung übersteigen, markiert der Roman einen Wendepunkt im Werk Müllers in Richtung „erfundener Erfahrung.“ In ihren episch breit gefächerten Texten gebraucht Herta Müller ein metaphernreiches Idiom, ins Surreale kippende Bilder und fädelt die „Sprache der schonungslosen Bilder“ ein, wodurch der Klang und die Bilderwelt der rumänischen Sprache in ihre deutsche Sprache hineingenommen wird. Damit begibt sie sich „zwischen d[en] Böden der Sprachen“, vermischt das Hochdeutsche, die rumänische Sprache und den Banater Dialekt, „jenen utilitären Jargon des Dorfes“, zu einer eigenartigen Melange, die mittlerweile zum Markenzeichen der Autorin geworden ist. Müllers nuancenreiche Bildersprache erzeugt durch ihre Originalität und in der Konzentration auf Details des privaten Alltagslebens eine nachdrückliche Bloßstellung der Diktatur und ihrer enthumanisierenden Wirkung auf den Einzelnen.

In avantgardistischer Manier beschäftigt sich Müller seit ihrer Auswanderung mit Text-Bild-Collagen. Darin übt sie ein „Schreiben mit der Schere“, hantiert mit Ausgeschnittenem, mit dem Rissigen, das sie mit dem Visuellen assoziiert. Diesen Weg vom epischen Klein- und Großformatigen zur Text-Bild-Collage vollzieht die Nobelpreisträgerin nicht spontan, sondern in Sprüngen. Wenn ihr erster poetologischer Band „Der Teufel sitzt im Spiegel. Wie Wahrnehmung sich erfindet“ (1991) Bilder enthielt, die einen Bezug zum Schreibprogramm der Autorin thematisierten und Collagen sich mit Essays abwechseln, so wird in „Reisende auf einem Bein“ die Collage zur Möglichkeit, den Zustand der Fremde und Heimatlosigkeit zu überbrücken. Es folgen in zeitlichen Abständen mehrere Postkarten-Bände, „Der Wächter nimmt seinen Kamm. Vom Weggehen und Ausscheren“ (1993), „Im Haarknoten wohnt eine Dame“ (2000), „Die blassen Herren mit den Mokkatassen“ (2005), „Vater telefoniert mit den Fliegen“ (2013) und zuletzt „Im Heimweh ist ein blauer Saal“ (2019). Müller hat die Arbeit abseits der Prosa als Befreiung von Schreib-Zwängen verstanden wissen wollen, als Experimentierfeld zur Überwindung der lähmenden Beschädigungen und Erinnerungen, doch auch das Experiment der Collagen entkommt den Schrecken der Geschichte nicht, die Grunderfahrung der Angst, in der Müller den Ursprung ihres Schreibens sieht, bleibt erhalten. Ihre Collagen sind thematisch eng an die Romane angelehnt, es lassen sich dieselben Themen herausarbeiten: das banatschwäbische Dorf, die rumänische Diktatur, die Unterdrückung, der sexuelle Missbrauch, der Selbstmord, die Flucht und Auswanderung. Eine letzte Gruppe von Müllerschen Texten besteht aus Reden, poetoligischen Texten und Essays – „Der Teufel sitzt im Spiegel. Wie Wahrnehmung sich erfindet“ (1991), „Hunger und Seide“ (1995), „Der König verneigt sich und tötet“ (2003), „Immer derselbe Schnee und immer derselbe Onkel“ (2011) und „Eine Fliege kommt durch einen halben Wald“ (2023) – in denen die Autorin bereitwillig Auskunft über ihr Schreiben gibt.

Als Kämpferin gegen den Totalitarismus jeder Färbung wurden Herta Müllers Texte in den über vierzig Jahren, die sie der Literatur gewidmet hat, mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Die Vielzahl von Literaturpreisen, die Herta Müller vor und nach der Verleihung des Nobelpreises 2009 erhalten hat, zeugen von der breiten Resonanz ihrer Werke in der Öffentlichkeit. Sie zeugen ebenfalls davon, dass „die Zentren einer Literatur -wie es Walter Hinck in seiner Laudatio auf Herta Müller angesichts des Kleist-Preises auf den Punkt gebracht hatte – nicht immer die Orte der Verjüngung [sind]. Oft vollzieht sich die Auffrischung von den Rändern her.“

Gestern beging Herta Müller ihren siebzigsten Geburtstag. Wir wünschen ihr weiterhin Gesundheit und Schaffenskraft.

Grazziella PREDOIU

Veröffentlicht in Literatur, Aktuelle Ausgabe, Persönlichkeiten.