Bei den Sommerfestspielen Stockerau 2023
Ausgabe Nr. 2828
Wenn die großen Theater- und Opernhäuser Österreichs in die Sommerpause gehen, dann startet wieder die Saison der österreichischen Sommerbühnen! Weit über die Grenzen Österreichs bekannt sind die Salzburger und Bregenzer Festspiele: Jedes Jahr drängt das Who-is-Who der Reichen und Schönen aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft zu den Premieren. Unzählige Fotografen und Paparazzi zücken ihre Kameras und schießen im Sekundentakt massenhaft Fotos, wenn sich die crème de la crème dieser Persönlichkeiten in ihren extravaganten und sündteuren Roben präsentiert. Es mutet an, dass das Dabeisein inklusive bemerkenswertem Outfit und die Tatsache, dass man sich am nächsten Tag als Promi mit Bild in den Gazetten wiederfindet, wichtiger ist ,als die künstlerische Performance.
Umso freudiger wendet sich der kunstaffine Mensch den in den Bundesländern stattfindenden „kleinen“ Theaterschauplätzen zu. Wie jedes Jahr freue ich mich auf den Start der Festspiele in Stockerau. Nur 30 km von Wien entfernt ist die niederösterreichische Stadtgemeinde Stockerau mit beinahe 17.000 Einwohnern die größte Stadt des Weinviertels. Diese Open Air-Festspiele haben mittlerweile schon eine jahrzehntelange Tradition und erfreuen sich großer Beliebtheit bei den Gästen aus dem In- und Ausland. Wie jedes Jahr wird die Bühne auf dem Kirchenplatz vor der römisch-katholischen Stadtpfarrkirche aufgebaut. Das barocke Gotteshaus bildet einen erhabenen Rahmen und adelt das künstlerische Schauspiel. Und zu meiner großen Freude steht in dieser Sommersaison ein Stück von dem Wiener Allround-Künstler Johann Nestroy auf dem Programm: „Der Zerrissene“. Diese 1844 im Theater an der Wien uraufgeführte Posse mit Gesang in drei Akten ist ein typisches Beispiel für Nestroys zweite Phase dramatischen Schaffens. In dieser Zeit hat er sich verstärkt der sprachlichen und dramaturgischen Ausformung der satirischen Posse zugewendet. Anscheinend machte es Nestroy sehr viel Spaß, sein gesellschaftliches Umfeld, die Welt der Bürger und Spießer aufs Korn zu nehmen und er entwickelte sich in dieser Schaffensperiode zum politischen Satiriker.
Aber zurück zur Premiere am 27. Juli: Der Intendant und Schauspieler Christian Spatzek hat viele namhafte Künstlerinnen und Künstler gebeten und sie sind gerne seinem Ruf nach Stockerau gefolgt. Somit steht einer gelungenen Aufführung eines großartigen Ensembles nichts mehr im Wege. Obendrein ist der Wettergott gnädig, da das Publikum ohne Ausnahme regenfest sein muss, denn es gibt bei den Stockerauer Festspielen kein überdachtes Ausweichquartier. Kleine Rettung im regnerischen Ernstfall: jeder Besucher wird mit einem Notfallset ausgestattet, das aus einem Regenponcho aus Maisstärke besteht – 100 Prozent biologisch abbaubar, kompostierbar, atmungsaktiv, leicht, reißfest und wiederverwendbar. Die Veranstalter hatten schon gewarnt: ,,Liebe OPEN-AIR-Theaterfreund:innen! Es gibt keine Ausweichlocation! Wir spielen bei jedem Wetter! Wenn das Wetter den Spielbetrieb unter keinen Umständen zulässt, ist man seitens der Organisation bemüht, dies so früh wie möglich über die Website zu kommunizieren.“
Mit ungebremstem Kulturhunger tauche ich zwei Stunden lang in die Nestroysche Welt ein. Ich lausche den satirisch-aggressiven Couplets mit Bezug auf die Gegenwart, lasse das entzückende Bühnenbild mit seinen unzähligen Details auf mich wirken und amüsiere mich an dem „typischen Nestroy“, humorvoll, kurzweilig und aktuell, mit einer Besetzung, die besser nicht sein könnte. Ein Stück über menschliche Langeweile, Sinn im Leben, Sehnsucht, Geld und dem Sieg der Liebe über alle Widerwärtigkeiten des Lebens. Denn erst am Ende ist der reiche Herr von Lips, der eine Fahrt von der Erde ins Fegefeuer hinter sich hat, durch die Liebe zu einem Landmädchen bekehrt, während seine drei falschen Freunde, die auf sein Geld durch Erbschleichen hofften, als betrogene Betrüger dastehen.
Eine schwungvolle Inszenierung mit den besten Zutaten für einen gelungenen Sommerabend! Karl Farkas, der wohl bedeutendste Kabarettist Österreichs hätte für diesen Stockerauer Nestroy folgende Empfehlung mit seinem typisch verschmitzten Lächeln gegeben: „Schauen Sie sich das an!“
Ingrid WEISS