,,Wir lebten sehr kameradschaftlich“

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Wilhelm Georgs Erinnerungen an das Waisenhaus in Hermannstadt

Ausgabe Nr. 2824

Die drei Georg-Brüder 1897 in Saloniki (v. l. n. r.): Wilhelm  Friedrich Georg (1890-1962), Oskar Gustav Georg (1892-1971) und Heinrich Franz Georg (1893-1988). Wilhelm und Oskar werden Zöglinge des Hermannstädter Waisenhauses.
Foto: Privatarchiv Heinz Acker

2023 wird das „Friedrich Teutsch”-Begegnungs- und Kulturzentrum  in Hermannstadt 20 Jahre alt. Zur Verdichtung des hauseigenen Archivs sind Forschungen im Gange zur nach dem Zweiten Weltkrieg erfolgten Enteignung des damaligen Lutherhauses als Einrichtung für Waisenkinder sowie die dessen Umwandlung in ein studentisches Kulturhaus und Wohnheim während der kommunistischen Zeit. Das Gebäude wurde zur Unterbringung, für Büroräume, Sport und Discos genutzt, im Hof neben der Johanniskirche fanden im Sommer legendäre Jazzkonzerte statt.  In diesem Zusammenhang erging ein Aufruf seitens der Leiterin des Teutsch-Hauses, Dr. Gerhild Rudolf, an eventuelle Zeitzeugen, die sich an solche Aktivitäten erinnern oder die einmal in dem ehemaligen Waisenhaus gelebt haben. Die Zeitzeugen können sich immer noch an Sandra Jordan per Mail unter info.teutsch@gmail.com oder per Telefon 0269-20.67.30 wenden. Einen Bericht über seinen Großvater Wilhelm  Friedrich Georg (1890-1962), der einige Jahre im evangelischen Waisenhaus, das 1883 eingeweiht worden ist, verbracht hat, stellte Prof. Heinz Acker der Hermannstädter Zeitung zur Veröffentlichung zur Verfügung:         

In dem handschriftlichen Lebenslauf meines Großvaters, Lehrer Wilhelm Friedrich Georg (geb. 1890/Adrianopel, heute Edirne, gest. 1962/Hermannstadt) finde ich interessante Erinnerungen an seine Zeit im Hermannstädter Lutherhaus. Als 9-Jähriger war er in dieses Waisenhaus gekommen, wohl eine Notlösung, zu der die Mutter gegriffen hatte, als ihr Mann, Johann Josef Georg 1898 in Saloniki an einer Lungenentzündung plötzlich verstarb und sie mit 8 Kindern (6 eigene und 2 Stiefkinder) zurückließ. Die Kinder mussten aufgeteilt werden. Zwei der jüngsten Brüder (Oskar und Wilhelm) kamen in das Lutherhaus von Hermannstadt, der Heimat von Vater Georg. Dieser Johann Josef Georg (1840-1898) entstammte einer alteingesessenen Hermannstädter Tuchmacherfamilie. Das unrentabel gewordene Tuchmacherhandwerk und seine Abenteuerlust hatten ihn jedoch in die Welt hinaus getrieben. Nach einer militärischen Laufbahn war er Chefkondukteur der kurz zuvor (1883) eingeführten Orient-Eisenbahn geworden, die erstmalig Paris mit Konstantinopel (Istanbul) verband. So hatte es den Hermannstädter Tuchmacher in die Türkei verschlagen. Nun fanden zwei seiner Söhne in die alte Heimat zurück.

Die Mutter Josephine (geb. Ongjerth, 1859-1905) brachte ihre beiden Söhne Wilhelm und Oskar nach Hermannstadt, aber bei den Verwandten fand sich keine Bleibe für die Kinder. So kamen sie in das Waisenhaus. Großvater erinnert sich später:

„Sechs Jahre habe ich in dieser Anstalt zugebracht, von September 1899 bis zum Ende des Schuljahres 1904/05. Man wartete dort schon auf uns. Es hieß, es kämen zwei Buben aus der Türkei. Alles war voller Erwartung und bestaunte uns. [Auch die beiden Buben staunen über manches Unbekannte, z. B. das elektrische Licht]. Man nahm uns freundlich auf, sowohl die Angestellten als auch die Zöglinge, Knaben und Mädchen, die nun unsere Schul-, Lebens- und teils auch Leidensgenossen wurden. Wir wurden von ihnen ‚die Türken‘  genannt, der große und der kleine Türk. Wir sind es für sie bis auf den heutigen Tag geblieben. Aber auch für meine Schulfreunde und Klassenkameraden, für Dr. Hager und Hauptanwalt Hochmeister, ebenso für den pensionierten Pfarrer Schuster, für Advokat Dr. Schorsten, für die Apotheker Engber und Konnerth Karl und noch andere.

Aus dem Leben der Anstalt will ich nur erwähnen, dass wir sehr kameradschaftlich lebten. Wir spielten Barlauf, Krokett, Schleuders und hatten im Winter einen eigenen Eislaufplatz im Hof, wir sangen auch viel, oft auch zweistimmig mit den Mädchen.

Im Sommer führte man uns an den Zibin baden zur Eisenbahnbrücke bei Neppendorf, im Winter badeten wir im alten Volksbad im Stadtpark. Da lernte ich schwimmen. Auch tanzen lernten wir. Berta, die Tochter des Waisenvaters Martin Ziegler gab uns Unterricht. Wir tanzten Quadrill, Ländler, Polka, Mazurka, einfach schön. Wir spielten auch Theater, z. B. Szenen aus Wilhelm Tell.

Als Hochfeste galten die Christbescherung am Weihnachtsabend und das Hausfest. Dieses wurde immer am nächsten Sonntag zum 10. November, Luthers Geburtstag, abgehalten. Es war besonders erhebend. Pfarrer Leonhardt, der Lutherhausleiter hatte Luthers Leben in Prosa zusammengestellt. Eine Reihe von Jahren habe ich den Lebenslauf vortragen dürfen. Beim Festgottesdienst wurden von uns Zöglingen an passenden Stellen Gedichte eingeflochten vor erlesenen, geladenen Gästen: Bischof, Stadtpfarrer, Kurator, Bürgermeister, Führerinnen des Frauenvereins u.s.w.

Zu Weihnachten wurden wir immer reich beschenkt. Die Bescherung fand im Speisesaal statt, wo ein großer, schön geschmückter Christbaum stand. Wir sangen die üblichen, ewig schönen Weihnachtslieder und trugen Gedichte vor. Erst nachher durften wir an die Gabentische herantreten und ausnahmsweise eine Stunde länger aufbleiben… Den Weihnachtsstriezel spendeten die Hermannstädter Bäckermeister Otto, Schieb und Rösler. Der Waisenhauskurator Johann Kessler, der Salamifabrikant, spendete zu seinem Namenstag immer einen herrlichen Kaffee mit dem feinsten Gugelhupf. Dieser Tag, der 24. Juni, fiel gewöhnlich zusammen mit dem Schulschluss. Da durften die Vorzugsschüler in den Garten gehen und sich ein Töpfel voll Johannisbeeren pflücken….

Von hier aus besuchte ich die Hermannstädter Schulen, zunächst die Knabenschule auf dem Hunsrück, danach im Aufbau das Untergymnasiums auf dem Huetplatz“.

Großvater beschreibt in der Folge seine Lehrer der Volksschule Schorsten und Theil als liebevoll und fürsorglich, erwähnt aber auch die „Rekrutenausbildung“, wie Lehrer Theil seine „strenge Zucht“ zu nennen pflegte. Jeden Sonnabend wurde strenges Gericht (Judizium) gehalten. Strenge Regeln waren einzuhalten. Schönschreib-Lehrer Andree ging mit einem 30 cm langen Lineal durch die Reihen und maß die Entfernung des Kopfes zum Heft, die dem Lineal entsprechen musste.

Andere Lehrer verstehen es, Großvater beim Klavier- und Geigenspiel die Freude an der Musik zu vermiesen. Er hat ohnehin andere Interessen. Er will die Kadettenschule besuchen, um Offizier zu werden. Der körperlich schmächtige Junge wird aber bei der Musterung nicht angenommen. So folgt er dem Rat von Prediger Wagner und tritt in das Gymnasium ein. Doch bald (1905)  stirbt auch die Mutter in Saloniki, es fehlen die Mittel zu einem teuren Gymnasialstudium. So muss er „in den sauren Apfel beißen“ und nun die Lehrerbildungsanstalt (Seminar) besuchen. Aber das Seminarleben behagt ihm bald. ,,Ich machte alles mit, was jeder Seminarist mitmacht, nebst dem Studium: Fuchstaufe, Kommerse, Kneipen, Namenstagsfeiern mit Semmeln und Tabak, Ausreißen am Samstagabend am Leintuch herab, spielte Theater, besuchte die Tanzstunde und machte auch die Schulausflüge mit“.

Nach Beendigung des Seminars wird er 1909 zum Schulrektor von Kerz gewählt. Ein Glücksfall, denn hier lernt er Helene Reich, die Tochter des weithin als Liederdichter bekannten Ortspfarrers Carl Reich kennen und heiratet sie. Nach Kriegsteilnahme zieht das Paar 1920 nach Hermannstadt. Wilhelm Georg wird zu einem stadtbekannten Lehrer, der seinen Beruf mit Herz und Seele ausübte. In seinem Haus in der Herbertgasse wuchsen nicht nur seine vier Kinder – Wilhelm jun., Helene/Lenchen (meine Mutter), Richard und Konrad – auf, sondern auch wir Enkel (Dieter und Heinz Acker), nachdem der Vater Michael Acker vor Stalingrad gefallen war und die Mutter, die als „Lenchentante“ bekannte Kindergärtnerin, nach Russland verschleppt wurde. So haben wir sicher auch etwas von dem segensreichen Geist des Lutherhauses in unserer Erziehung mitbekommen.

Veröffentlicht in Aktuelle Ausgabe, Geschichte.