Ein Unterschied wie Tag und Nacht

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Ein ,,Fotowalk“ durch das Nachtleben Bukarests / Von Samuel HÖRMANN

Ausgabe Nr. 2825

Ein berühmtes Sprichwort unter Fotografen lautet: „Zwischen zwölf und drei hat der Fotograf frei“ – Und das aus einem ganz einfachen Grund: Zwischen zwölf und drei steht die Sonne in ihrem Zenit über der Erde und wirft am meisten Licht herab. Nun könnte man meinen, dass natürliches Licht doch wohl das Beste sei, was einem Fotografen passieren kann, und dieser Gedanke ist sicherlich auch alles andere als falsch. Fotografen sehnen sich grundsätzlich immer nach Licht, denn ohne Licht gäbe es keine Farbe, keine Kontraste, keine Dynamik im Bild. Aber auch Licht hat seine Schattenseiten – Besonders zu viel Licht.

Wer zwischen zwölf und drei fotografiert, muss sich auf eine „Überbelichtung“ der Fotos einstellen. Details gehen verloren, der Himmel brennt aus und wirkt wie ein weißer Einheitsbrei, es entstehen unerwünschte Reflexionen. Überbelichtete Bilder wirken sehr schnell matt und fade, haben keine große Ausstrahlung, scheinen insgesamt leb- und charakterlos. Auch in der Nachbearbeitung versucht man meist nur noch vergeblich, das Bild zum Leben zu erwecken, denn alle Bildinformationen wurden bereits schonungslos vom Sonnenlicht verschlungen.

Umso spannender wird es für Fotografen dafür in der Zeit vor zwölf und nach drei. Besonders die beiden Phänomene „goldene und blaue Stunde“ locken dabei mit einzigartigen Lichtverhältnissen und -stimmungen. Die goldene Stunde bezeichnet die Zeitspanne unmittelbar vor Sonnenuntergang, wenn die letzten Sonnenstrahlen noch einmal kurz die Landschaft golden einfärben. Die blaue Stunde hingegen schließt sich unmittelbar daran an und bezeichnet den Zeitraum nach Sonnenuntergang, in dem die Landschaft blau erscheint und sich langsam auf die Nacht vorbereitet.

Das eingangs erwähnte Fotografen-Sprichwort kann man guten Gewissens auch auf Touristen in Bukarest übertragen: „Zwischen zwölf und drei hat der Bukarest-Tourist frei“, denn gerade im Sommer vermittelt die rumänische Hauptstadt mit ihrem kontinentalen Klima und den riesigen grauen Gebäuden schnell das Gefühl einer unendlichen Betonwüste. In den Mittagsstunden ist die Stadt unbelebt, wirkt fast schon ausgestorben. Man kann die erdrückende Hitze in der Luft stehen sehen. Verständlich, dass die Sinnhaftigkeit eines Bukarest-Besuchs daher bei Touristen aus dem Westen stark umstritten ist.

Aber: Es lohnt sich definitiv, die Abendstunden abzuwarten, denn auch in Bukarests Altstadt bewirken goldene und blaue Stunde kleine Wunder und regen dazu an, die engen Straßen und Gassen (fotografisch) zu erkunden. Morgens und abends eignet sich die Hauptstadt generell gut für einen sogenannten „Fotowalk“, also einen „Spaziergang mit Kamera“.

Das erste Foto ist zu Beginn der goldenen Stunde in der Strada Lipscani (Leipziger Straße) im gleichnamigen Stadtviertel entstanden.

Das Lipscani-Viertel ist berühmt für seine zahlreichen Bars und Restaurants und sicherlich einer der spannendsten Orte zum Fotografieren in der Hauptstadt – zumindest, wenn man sich für Straßenfotografie begeistern kann. Auf dem Bild wird die Charakteristik des Viertels authentisch festgehalten, es ist belebt – aber nicht überfüllt. Das goldene Sonnenlicht sorgt für eine moderate, warme Einfärbung der Gebäude auf der linken Straßenseite und die knalligen orangenen Sonnenschirme sowie die Lichterkette des Restaurants bringen einen farblichen Kontrast ins Foto. Für einen ganz neuen farblichen Impuls sorgt die Bemalung der Hauswand im Hintergrund, welche Vögel und Pflanzen vor einem kräftig blauen Hintergrund zeigt.

Ein Abstecher zum Parlamentspalast, früher Volkspalast (Palatul poporului) ergibt sich in Bukarest von ganz alleine. Ob man es nun schön findet oder nicht, mit seiner Imposanz und seiner unausweichlichen Präsenz weiß das Gebäude definitiv zu beeindrucken.

Bei einem Spaziergang durch Bukarest versteht sich ein Abstecher zum Parlamentspalast von ganz alleine. Ob man es nun schön findet oder nicht, mit seiner Imposanz und seiner unausweichlichen Präsenz weiß das Gebäude definitiv zu beeindrucken. Auch hier bietet sich ein Abstecher zu späterer Stunde an. Nicht nur, weil dann kaum noch Touristen und Autos die Sicht auf das Gebäude versperren, sondern auch, weil das Gebäude abends oder nachts je nach Lichtverhältnissen und Beleuchtung noch einmal eine ganz andere Wirkung erzielen kann. Das Foto ist ebenfalls während der goldenen Stunde entstanden und zeigt den Palast von einer straßennahen Grünfläche aus. Die Mauern auf der rechten Seite des Palasts werden dabei vom letzten Sonnenlicht des Tages golden eingefärbt.

Eine Oase der Kühle und Stille mitten in Bukarest: Das rumänisch-orthodoxe Kloster Stavropoleos wurde 1724 im Brancoveanu-Stil von dem griechischen Mönch Ioanichie Stratonikeas gebaut und gilt als eines der schönsten und bedeutendsten Architekturdenkmäler der Hauptstadt Rumäniens.

Ist die Sonne einmal vollständig untergegangen, wird das Fotografieren erheblich anspruchsvoller. Es benötigt ein lichtstarkes Objektiv mit einer offenen Blende und vor allem eine ruhige Hand. Die Fotos müssen nun deutlich länger belichtet werden, ansonsten werden sie zu dunkel. Im Gegensatz zum klassischen Foto-Knopfdruck am Tag, muss man nun also mehrere Augenblicke, manchmal auch ganze Sekunden auf ein Motiv halten und warten, bis der Kamerasensor genügend Licht aufgenommen hat. Jede kleinste Bewegung der Hand findet man später im Bild als Unschärfe wieder. Es empfiehlt sich also, mit einem Stativ zu arbeiten. Vereinzelt lassen sich aber auch ohne Stativ brauchbare Fotos bei Nacht schießen. Hierfür eignet sich wieder das Leipziger Viertel, da die vielen Restaurants und Bars zahlreiche Lichtquellen bereitstellen. Es sei aber erwähnt, dass das Viertel gegen 21-22 Uhr am besten besucht ist und dementsprechend viele Menschen unterwegs sind – häufig auch unter Alkohol- oder Drogeneinfluss. Mit einer großen Kamera in der Hand wird man häufig kritisch gemustert, hin und wieder wird einem etwas zugerufen. Die überambitionierten Gastronomen, welche vor ihren Restaurants patrouillieren und jeden Passanten ansprechen, lassen einen kaum einige Augenblicke ruhig und ungestört fotografieren. Mit einer Kamera entlarvt man sich schließlich spätestens selbst als Tourist.

Aus der Flucht vor einer unvergleichlich penetranten Gastronomin heraus ist auch dieses Foto entstanden. Es zeigt einen der drei Außeneingänge der Macca-Villacrosse-Passage, welche ein wenig an die berühmte Galleria Vittorio Emanuele in Mailand erinnert – deutlich kleiner, versteht sich. In der Passage selbst befinden sich einige Bars und Shisha-Lounges, die nachts gut besucht sind. Die Passage wurde in ihrer heutigen Form 1981 fertiggestellt und ist nach dem katalanischen Architekten Xavier Villacrosse benannt. Im Innenraum finden sich zahlreiche Fotomotive, jedoch lassen das rege Treiben und die enge Bestuhlung in der Passage kaum Zeit zum ruhigen Fotografieren.

Dieses Bild ist ein spontaner Schnappschuss, der beim schnellen Queren der Passage entstanden ist. Die vielen, unterschiedlich warmen Lichtkugeln, die von der Decke herabhängen, erzeugen ein gemütliches und heimeliges Ambiente. Den mystischen Charakter der Passage kann man aber auch gut von außen aus aufsaugen (vgl. Abb. 3). Die Menschen sitzen entspannt an den Tischen, durch die leicht milchigen Scheiben streut das warme Licht aus dem Innenraum der Passage gedimmt hinaus. Die Verzierungen auf Schildern, Wänden und Scheiben geben einem das Gefühl, für einen Augenblick in einem anderen Jahrhundert zu sein.

Zum Abschluss des „Fotowalks“ gegen 22.30 Uhr haben sich noch einmal die von Bars und Restaurants dicht besiedelten Straßen des Leipziger Viertels angeboten.

Bukarests Nachtleben zusammengefasst: Leuchtreklamen, wie in diesem Fall der Schriftzug des Pubs „The Vintage“ in der Strada Lipscani sind auf Fotos ein schöner Ankerpunkt und echter Hingucker.

Auf dem sechsten und letzten Foto ist die Gabelung zweier Straßen, konkret der Strada Șelari und der Strada Smârdan, zu sehen. Das Bild fasst das Nachtleben Bukarests noch einmal gut zusammen: jung, dynamisch und mit zahlreichen Möglichkeiten zur Einkehr. Die bunten Lichterketten und Straßenlaternen sorgen für eine ausgewogene Belichtung, die Formation der Laternen bringt Tiefe ins Bild. Leuchtreklamen, wie in diesem Fall der Schriftzug des Pubs „The Vintage“ sind auf Fotos ein schöner Ankerpunkt und echter Hingucker.

Auf die Frage, ob Bukarest allgemein eine Reise wert ist findet man sicherlich nur höchst subjektive Antworten. Die Einen finden es toll und fühlen sich an Paris erinnert, die Anderen würden am liebsten schnell den frühesten Flieger nach Hause nehmen. Wie auch immer man gegenüber der Hauptstadt Rumäniens eingestellt ist, ein Ausflug in das Nachtleben kann und wird die Sichtweise auf die Schönheit der Stadt definitiv verändern. Was am Tage – oder besser gesagt zwischen zwölf und drei – noch grau und verlassen gewirkt hat, erwacht nach Sonnenuntergang zum Leben und erstrahlt plötzlich in neuem Glanz.

Veröffentlicht in Aktuelle Ausgabe, Tourismus.