30. Auflage des Internationalen Theaterfestivals (FITS) hat stattgefunden
Ausgabe Nr. 2823

Mohnblumenballons unter dem Ratturm: Am Samstag bot die französische Straßenkompanie ,,Les Géants Légers“ (Die leichten Riesen) unter dem Titel ,,Coquelicot Balloons“ (Mohnblumenballons) mehrere Vorstellungen, hier auf dem Kleinen Ring. Foto: Mihail NISTOR
„Sie, das Publikum, geben unserer Arbeit Sinn”, erklärte die Regisseurin Mariana Cămărăşan im Rahmen einer Lesetheatervorführung. Rund 90.000 Zuschauer pro Tag haben der Arbeit der Künstler der insgesamt 825 Vorführungen Sinn gegeben. Die 30. Auflage des Hermannstädter Internationalen Theaterfestivals (FITS – Festivalul Internaţional de Teatru de la Sibiu) stand unter dem Motto „Wunder”, wurde am 23. Juni mit einem Konzert an vier Orgeln in der evangelischen Stadtpfarrkirche offiziell eröffnet und ist am 2. Juli kurz vor Mitternacht mit einer Dronen- und Lasershow zu Ende gegangen.
Regelrecht überschüttet von Events und vom Publikum wurde die Jubiläumsauflage des FITS, die mehr als 5.000 Teilnehmer aus 81 Ländern nach Hermannstadt gelockt hat, die Veranstaltungen an mehr als 81 Spielorten anboten.
Motto dieser Auflage war „Mircacol” (Wunder) und die offiziellen Hashtags waren #ParteDinMiracol (#TeildesWunders) und #FITS30.
Das Wunder umfasste an zehn Tagen die gesamte Stadt, ihre Umgebung und auch die sozialen Medien. Die Besucherzahl lag bei 90.000 Menschen pro Tag – völlig vergessen war die restriktive Corona-Zeit -, aber auch die Online-Präsenz war beeindruckend: Die FITS-Website hatte über 85.000 Besucher und die FITS-App wurde 16.000 Mal aufgerufen, die FITS-Talks wurden 50.000 Mal angesehen, in den sozialen Medien haben 100.000 Nutzer die Beiträge und Videos auf dem FITS-Instagram-Kanal verfolgt und 800.000 Personen haben die FITS-Beiträge auf Facebook gesehen. Diese Zahlen werden in den nächsten Wochen noch steigen.
Die meisten Zuschauer hatten natürlich die Straßenshows, das Konzert von ,,Voltaj“ am letzten und die Show des Ensembles ,,Junii Sibiului“ am vorletzten Tag, sowie die Laser- und Dronenshows am ersten und letzten Tag verfolgt. Wie immer hat man feststellen können, dass Hermannstadt größere Säle braucht, denn obwohl die Karten bis zu 150 Lei pro Veranstaltung gekostet haben, waren viele bereits Wochen davor ausverkauft.
Hoch angepriesen und sehr begehrt am Mittwoch – die Vorstellung war ausverkauft – war „Dorian Gray“ des Burgtheaters Wien. Und das obwohl oder gerade weil das Stück nun seit 23 Jahren inszeniert wird. Regie führt Bastian Kraft und Hauptdarsteller Markus Meyer hat die Rolle von Dorian Gray schon mehr als 200 Mal meisterhaft interpretiert. Der Schauspieler steht dabei allein auf der Bühne und kommuniziert mit Videos, die auf mehr als ein Dutzend Bildschirmen projiziert werden. Die Figuren wurden alle von Meyer eingesprochen und aufgenommen, der Schauspieler selbst dialogiert mit ihnen und klettert akrobatisch auf den Gerüsten, die die Bildschirme tragen. Es ist eine Meisterleistung an schauspielerischer Verwandlung. Und der Roman von Oscar Wilde ist aktueller denn je: Dorian Gray, der sich ewige Jugend wünscht und dann aufhört zu altern. Er wird auf der Höhe seiner jugendlichen Schönheit zum lebendigen Bild, während das von Freund Basil gemalte Porträt an seiner Stelle altert. Darin sind seine Sünden und die tiefen Spuren seines Alterns zu sehen und Dorian versteckt das Bild deswegen auf dem Dachboden. Markus Meyer verwandelt sich in die zahlreichen Rollen auf den Screens und agiert live auf der Bühne, wofür es ein genaues Timing braucht, um mit den ständigen Einspielungen Schritt zu halten, was der Künstler bravourös meistert. Es entsteht ein 3-D-Schauspiel – mal ist Dorian mit Lord Henry im Restaurant sitzend zu sehen, kurz darauf ist er in einer Theaterloge. Zwischendurch windet sich Meyer durch das Gerüst aus Stangen von Plattform zu Plattform. Sein zu Beginn mit Blattgold eingehülltes Gesicht schält sich bis zum Ende der Vorstellung fast ganz. Das Bild ist hin und der Protagonist tot. Eine hervorragende Ein-Mann-Show, die mit Stehapplaus und Ovationen gewürdigt wurde.

Szenenfoto aus dem Stück,,Familie“. Foto: Sebastian MARCOVICI
Der Tod war auch am Donnerstag ein Thema, das sich durch die Theaterstücke zog. So geschehen in der Kulturfabrik, wo das Stück „Familie“ von Milo Rau inszeniert wurde. Gezeigt werden die letzten Stunden vor dem Selbstmord der Familie Demeeter, die wahre Geschichte einer vierköpfigen Familie aus Calais, die sich 2007 erhängte. Zurück ließen sie einen Abschiedsbrief, auf dem stand „Wir haben es versaut“. Die Tat bleibt bis heute für Polizei und Nachbarn der Familie ein Rätsel. Als theatrale Analogie baut Milo Rau das Theaterstück mit einer richtigen Schauspielerfamilie auf. Die Mutter wird von Berufsschauspielerin An Miller verkörpert, der Vater von Filip Peeters und ihre leiblichen Kinder – die noch im Teenageralter sind und keine Schauspielausbildung haben – spielen die Töchter. Gezeigt wird der letzte Abend vor dem Selbstmord: Der Vater kocht, die Mutter klebt Fotos an eine Tür, die Töchter lernen Englisch im Kinderzimmer. Alles wirkt harmonisch und alles wird live gefilmt und auf einer Leinwand projiziert. Dann sind die Gedanken der Eltern in Toneinspielern zu hören: Der Vater glaubt, zu viel gearbeitet und sich der Familie entfremdet zu haben, die Mutter erinnert sich an die Freiheit, die sie während ihrer Babypause gefühlt hat, als sie endlich wieder reisen und in den brasilianischen Favelas Theater spielen konnte. Man spürt die Verunsicherung der Eltern, aber der Selbstmord ist trotzdem nicht nachvollziehbar, vor allem als die Töchter am Schluss Zweifel äußern. Als die Mutter sie zur Schlinge führen möchte, wehren sie sich mit Händen und Füßen – eine tieftraurige Szene. Doch dann passiert es trotzdem. Wortlos stecken alle vier den Kopf in die Schlingen und der Selbstmord wird live auf der Bühne gezeigt. Eine endlose Minute sieht man die vier an ihren Stricken baumeln, ein grausames Bild, das einige im Saal zweifeln ließ, ob es nicht echt ist. Die Vorstellung ging unter die Haut und bot unheimlich viel Gesprächsstoff für die Zuschauer, die sich nachher im Hof lange darüber unterhielten.

Szenenfoto aus der Vorstellung,,Herz eines Schreiners“ mit Daniel Bucher, Benedikt Haefner und Fabiola Petri (v. l. n. r.). Foto: Cynthia PINTER
In eine andere Welt versetzt hat das Publikum das von der US-Autorin und Regisseurin Sarah Brown eigens für die evangelische Stadtpfarrkirche geschriebene und von ihr selbst inszenierte Stück „Herz eines Schreiners”. Die Akteure – Schauspieler von der deutschen Abteilung des Radu Stanca-Nationaltheaters und der Hermannstädter Bachchor – führten es gleich dreimal auf: Am Donnerstag zunächst am Nachmittag als Generalprobe mit Publikum und dann am Abend als Premiere und schließlich am Freitagabend, noch einmal. Ein Kraftakt, der mit Stehapplaus und Ovationen belohnt wurde. Eine fantastische Vorstellung, in der einfach alles passte: Die Darstellung der sechs Schauspielerinnen und Schauspieler, die Musik, komponiert bzw. bearbeitet von Brita Falch Leutert, die deutsche Fassung von HZ-Redakteurin Cynthia Pinter. Das Stück erzählt von einem siebenbürgisch-sächsischen Schreiner aus Bußd bei Mediasch, der versucht, in Hermannstadt Mitglied der einschlägigen Zunft zu werden und schließlich es vorzieht, seinem Traum zu folgen. Wie nebenbei erfährt das Publikum, welche Baum- bzw. Brotart, welchem Menschentyp es entspricht oder was es mit der „Regenweberin” auf sich hat. Mehr wollen wir nicht verraten. Daniel Bucher spielt diese auf ihn zugeschnittene Rolle wie der Fisch im Wasser, er geht regelrecht darin auf. Den Zunftmeister gibt souverän Daniel Plier, dessen strenge und gewitzte Gattin spielt Johanna Adam. Die selbstbewusste Bäckerin Katharina wird von Fabiola Petri gespielt, die beiden grundverschiedenen Gesellen interpretieren Benedikt Haefner und Ali Deac.
Tolle Tanzveranstaltungen gibt es immer im Rahmen des Festivals, auch heuer haben sie nicht gefehlt. Eine davon war „MAKOM 30. Sărbătoarea dansului” (Makom 30. Das Fest des Tanzes), der Vertigo Dance Company aus Israel, am Freitag. Die israelische Truppe ist nicht zum ersten Mal in Hermannstadt dabei, bringt aber jedes Mal eine außergewöhnliche Aufführung auf die Bühne und es ist immer ein Privileg, sie zu erleben. Dieses Jahr führten die Choreografin Noa Wertheim und die Tänzer das Publikum an verschiedene reelle oder imaginäre Orte (Makom), äußerliche oder innerliche, auf einer ,,immerwährenden Suche nach dem Ort, der uns näher zu uns selbst bringt”.
Am Samstag, dem 1. Juli, konnten die deutschsprachigen Zuschauer das Stück „Kein Weltuntergang“ von Chris Bush der Schaubühne Berlin, in der Regie von Katie Mitchell erleben. Ungewöhnlich ist die Inszenierung, in der Katie Mitchell versucht, Theaterspielen nachhaltig und Ressource-schonend zu gestalten. So wurde z. B. das Bühnenbild komplett aus recyceltem Material gebaut und den Strom für die Bühne produzierten während der Vorstellung live zwei Fahrradfahrerinnen, die durch Muskelkraft Licht und Ton erzeugten. In dem Stück bewirbt sich eine junge Wissenschaftlerin (Alina Vimbai Strähler) bei einer offenbar berühmten Klimaforscherin (Jule Böwe) um eine Post-Doc-Stelle und scheitert in allen erdenklichen Arten. Mal ist sie zu spät dran, mal wird sie von der Starforscherin vertröstet, mal macht sie sich unmöglich durch die klimaunfreundlichen Verkehrsmittel, mit denen sie zum Bewerbungsgespräch angereist ist. Und dann steht noch die mysteriöse Tochter (Veronika Bachfischer) mit der Urne im Arm auf der Bühne und liefert in oft längeren Monologen Zahlen, Daten und Fakten zum Klimawandel. Hauptthema des Stückes ist, wie erwartet, der Klimawandel und der mehr oder weniger bevorstehende Kollaps unseres Planeten. Etwas gewöhnungsbedürftig waren die vielen abgebrochenen Szenen, die Schauspielerinnen kamen abwechselnd durch Türen auf die Bühne gestapft und wechselten sich in szenisch aneinander geschnittene Themen- und Dialogwechsel ständig ab. Es war nicht leicht zu verfolgen.
Wer eine Abwechslung vom Theater haben wollte, konnte sich Konzerte oder Tanzperformances ansehen. Sehr gut besucht war ebenfalls am 1. Juli das Tanztheater „Diptych: The Missing Door and The Lost Room“ der belgischen Gruppe „Peeping Tom“, unter der Regie und Choreographie von Gabriela Carrizo und Franck Chartier. Auf der Bühne sind mehrere Figuren in Räumen zu sehen, aus denen sie nicht entkommen können. Die Figuren leben zwischen der Realität und dem, was sie sich einbilden, und werden von natürlichen Kräften geleitet, die sie in ein ungewisses Schicksal führen. Carrizo und Chartier erschaffen eine beunruhigende, dunkle und abgeschlossene Welt und stellen gleichzeitig eine einzigartige und extreme Sprache der Bewegung und der Performance in den Mittelpunkt. Jeder Teil des Diptychons hat sein eigenes, einzigartiges Setting und erinnert an eine Filmkulisse. „The Missing Door“ spielt in einem Raum voller Türen, die sich nicht öffnen lassen. Die Handlung in „The Lost Room“ spielt sich in einer Schiffskabine ab und konzentriert sich auf die Innenwelt der Figuren. Die szenischen Veränderungen zwischen den Stücken finden in aller Öffentlichkeit statt und werden zu einem Teil der Aufführung, als ob es sich um einen Live-Filmschnitt handelt.
Ein interessantes Projekt, nach einer Idee von Emmanuel Demarcy-Mota, waren die „Poetischen Untersuchungen”, ebenfalls am 1. Juli. Schauspieler der Theater ,,Théâtre de la Ville“ (Frankreich) und ,,Teatro della Toscana“ (Italien) sprachen einzeln mit den Zuschauern und stellten einfache Fragen („Wie geht es dir?”), um sie ein bisschen kennenzulernen. Am Ende erhielt jeder Zuschauer ein maßgeschneidertes Rezept für die Seele, zum Beispiel Werke von Oskar Pastior zu lesen und zusätzlich ein bisschen Baudelaire zu schnuppern.

Sieben Sterne hat Hermannstadts Bürgermeisterin Astrid Fodor dieses Jahr vergeben, die seit Samstag auf der Ruhmesmeile im Harteneckpark zu sehen sind. Unser Bild (v. l. n. r.): Botschafterin Laurence Auer (für Tiago Rodrigues), Sophie Vanden Broeck (für Milo Rau), María Pagés, Astrid Fodor, Constantin Chiriac, Noa Wertheim, Marie Chouinard und Botschafter Andrew Noble (für Katie Mitchell ). Foto: Sebastian MARCOVICI
Ein fester Moment aller Theaterfestivals ist die Vergebung am vorletzten Abend eines Sternes auf der Ruhmesmeile im Harteneckpark. Geplant war die Vergabe von sechs Sternen für die britische Regisseurin Katie Mitchell, die spanische Tänzerin und Choreografin María Pagés, die kanadische Tänzerin und Choreografin Marie Chouinard, den Schweizer Regisseuren Milo Rau, den portugiesischen Schauspieler, Regisseuren, Dramatiker und Produzenten Tiago Rodrigues und die Choreografin Noa Wertheim, künstlerische Leiterin der israelischen Tanzkompanie Vertigo. Bürgermeisterin Astrid Fodor, die die Diplome vergab, überraschte den Festivaldirektor Constantin Chiriac mit einem 7. Stern, was mit viel Freude und Berührung auch vom Publikum gewürdigt wurde.

Voltaj im Konzert auf dem Großen Ring. Foto: Dragoş DUMITRU
Für das Abschlusskonzert am Sonntag auf dem Großen Ring hätten die Organisatoren kaum eine bessere Truppe einladen können: Die rumänische Band ,,Voltaj“ mit ihrem Leadsänger Călin Goia waren perfekte Entertainer und lockten Publikum aller Altersklassen an. Zusammen hüpften Omas und Opas, ihre Kinder und ihre Enkelkinder zu dem Lied „20” und wünschten sich, wieder mal 20 zu sein, ohne Sorgen und ohne Geld, auch wenn sie zum Teil Teenager waren und ihre geldlosen Zeiten noch folgen werden.
Gleich nach dem Festivalende kehrte nicht nur die Ruhe in Hermannstadt ein, sondern auch der Sommer, der auch dieses Jahr dem Festival einen Strich durch die Rechnung gemacht hat. Tatsächlich hat es nicht jeden Tag geregnet, wie in den vergangenen Jahren, dafür war es eine recht kalte und ungemütliche Woche für diese Jahreszeit.
Für die Organisatoren folgt nach einer kleinen Verschnaufpause allerdings wieder Arbeit, denn die 31. FITS-Auflage muss vorbereitet werden und es steht fest, dass man sich vom 21. bis 30. Juni 2024 wiedersehen wird.
Ruxandra STĂNESCU
Cynthia PINTER
Beatrice UNGAR