Laudatio auf Christian T. Klein zur Verleihung des Rolf-Bossert-Gedächtnispreises 2023
Ausgabe Nr. 2821
Es gibt Zufälle, die wie Fügungen anmuten. Am 14. März 2023 las ich zwei Nachrichten kurz hintereinander: Der rumäniendeutsche Schriftsteller Richard Wagner war gestorben. Und Christian T. Klein aus Siebenbürgen wurde als vierter Preisträger zur Erinnerung an den rumäniendeutschen Dichter Rolf Bossert bekanntgegeben. Dies geschah unabhängig voneinander, natürlich tat es das. Und doch existiert eine Klammer, die die Ereignisse verbindet.
Richard Wagner gehörte wie Rolf Bossert zur Aktionsgruppe Banat. In den Feuilleton-Nachrufen auf Wagner wurde Bossert zumindest mitgenannt, zuweilen wurden ihm einige Zeilen gewidmet. Etwa von Herbert Wiesner in der Welt. „Ob der wunderbare Lyriker Rolf Bossert in der Nacht zum 17. Februar 1986 aus dem Treppenhausfenster eines Frankfurter Aussiedlerheims gestoßen wurde oder gesprungen ist, wurde nie ernsthaft untersucht“, gibt Wiesner zu bedenken. „Ich habe die Kreidezeichnung der Polizei auf dem Pflaster gesehen und ahnte, dass niemand so weit springen würde, um sich umzubringen.“
Im Gedicht „Verletztes Lied“ scheint es, als würde Bossert seinen jähen und bis heute rätselhaften Tod vorwegnehmen: „Ich stürze aufs Pflaster und fall auf die Welt.“
„Wie verhallende Schritte stürzen Sterne auf den frostglatten Spiegel des Kopfsteinpflasters“, dichtet Christian T. Klein Jahrzehnte später in „Versetzte Nocturne“.
Rolf Bossert hatte Rumänien verlassen, um in Deutschland ein besseres, ein freies Leben führen zu können. Es endete tödlich. Christian T. Klein kehrte dem Ceaușescu-Horror ein Jahr später den Rücken, wohnte zunächst bei seiner Schwester in München und zog dann nach Tübingen, um sein in Bukarest begonnenes Biochemiestudium abzuschließen. Danach ging er zur Promotion nach Wien, wo er bis heute lebt. „Ich fall auf die Welt“, schrieb Bossert. „Ich fall auf die Welt“, schreibt Klein und setzt die Zeile kursiv.
Zwei Dichter aus Rumänien, zwei Dichter, die zur deutschen Minderheit zählten. Der eine, der bis heute in zeitlosen Zeilen zu uns spricht. Der andere, der Bezug auf ihn nimmt und doch einen ganz eigenen Weg geht.
Christian T. Klein wurde in Katzendorf geboren, Rolf Bossert in Reschitza. Sie hätten sich gewiss etwas zu sagen gehabt, hätten sich ihre Wege gekreuzt. Sie haben sich etwas zu sagen. Der eine lässt sich posthum aus seinem Werk vernehmen, der andere nimmt den Faden auf – „Ich fall auf die Welt“.
Niemand aus der Jury hat gewusst, wer sich hinter QT286104 verbirgt. Die Wettbewerbsbeiträge sind anonym. Christian T. Klein hat durch die hohe dichterische Qualität, die metrische Könnerschaft und den Assoziationsreichtum seiner Lyrik überzeugt. Dass seine Biografie an die von Bossert rührt, war keinem Jurymitglied bekannt. Die Gedichte, mit denen sich Klein beworben hat, wirken durch ihre Musikalität, die starken Sprachbilder und ihre atmosphärische Dichte. Wie bei Bossert sind die Verse vielfach von einer feinen Melancholie durchzogen.
Christian T. Klein hat schon als Kind Gedichte verfasst und dann später immer wieder. Oft schreibt er im Zug, auf seinem Weg nach Krems, wo er an einer Fachhochschule unterrichtet. Ist ihm – während die Landschaft hinter den Zugfenstern vorüberglitt – auch das traurig-tröstliche Gedicht „Hinübergang“ eingefallen, das er (nicht nur) dem rumänischen Schriftsteller Gellu Naum gewidmet hat? Zärtlich, fast spielerisch spricht Klein hier vom Sterben. „Gemeint ist nicht das Abgeben von Löffeln, Segnen von Zeitlichem oder der Biss ins Gras. Eher: Das Gras so eindringlich betrachten, dass man es wachsen hört.“ Ist das nicht ermutigend? Ein Hinübergleiten, das aus einer Redewendung eine sinnliche Erfahrung werden lässt. Bei diesem Übergang gibt es „Tautropfen an den Füßen“ und „dann und wann ein violettes Fabeltier (…). Wir sind am Ort jenseits von Angst und Tosen.“
Christian T. Klein bewegt sich wie traumwandlerisch durch die Zeit. „Ich sehne mich nach den unerträglich heißen Tagen in der südöstlichen Großstadt, an denen man buchstäblich im Asphalt versank; deren Abende gekühlt wurden nur vom Ohren schmeichelnden Lärm der Zikaden“, blickt er in „Fremdes Heimweh“ zurück. Anders als bei Bossert, der auf der Milchstraße kein Licht sah, ist bei Klein die Galaxis durchaus beleuchtet. Aber es ist ein kaltes Licht, das trügerisch strahlt. „Ein überflüssiger Hoffnungs-Schimmer.“ Und doch weckt die Rückschau eine Sehnsucht. „Ich entbehre die restlos überfüllten Busse, an denen Menschen hingen wie Trauben (…). Selbst der Straßenstaub an den Schuhen fehlt mir, feinkörniger Zeuge meines endlosen Streunens. (…) Wir waren bei uns, trotz alledem.“
Das sind sehr starke, sehr eindrückliche Zeilen.
„Ich habe Rumänien 1987 verlassen. Das hätte damals fast jeder, jede getan, der oder die dazu die Möglichkeit gehabt hätte. Rumänien war Ende der 1980er Jahre ohne Übertreibung am ehesten mit dem heutigen Nordkorea vergleichbar“, antwortet Klein auf die Frage, wann und warum er fortging aus seinem Geburtsland. „Ich war nicht politisch verfolgt, doch die fundamentale Perspektivlosigkeit der letzten Ceaușescu-Jahre war derart belastend – und ein Ende war weder vorstell- noch erwartbar – dass ich mich für diesen Schritt entschloss.“
Das lyrische Ich im Gedicht „Eindringliche Folklore“ hat sein „halbes Leben die Minze gerieben und die andere Hälfte den Hasen geschält“. Hat „geatmet, Moleküle verbraucht und gehofft (…). Des Öfteren den Bottich gewaschen, manchmal das Taschentuch auf die Zimbel gelegt. Nicht nur Salate mit Ei und Essig zugerichtet, Rotz an die Bohnen gegeben (…).“ Hier fächert einer sein Leben auf, der weiß, woher er kommt und dies nicht leugnet. Und der keine Lust hat, lächerliche Moden mitzumachen. „Sollte ich jemals eine Baseballmütze am Kopf haben oder auch nur daran denken, mich eigenhändig abzulichten, darfst du mir ins Gesicht springen und wirst nicht den Zaun mit der Deichsel beschädigen“.
Auf Rolf Bossert wurde Christian T. Klein in den 1980er Jahren in Bukarest aufmerksam. Seitdem lese er seine Texte. „Es ist immer wieder erhellend und inspirierend, in sein Universum einzutauchen, seine oft so einfache, doch extrem starke Sprache auf sich wirken zu lassen“, sagt er über dessen Strahlkraft.
„Ich fall auf die Welt“, schrieb Rolf Bossert.
„Ich fall auf die Welt, aber anders und später“, schreibt Christian T. Klein.
Anders und später – das ist hier und jetzt. „Bei uns. Trotz alledem.“
Meinen herzlichen Glückwunsch, auch im Namen der Jury, an den überzeugenden Rolf-Bossert-Gedächtnispreisträger Christian T. Klein.
Britta LÜBBERS, Juryvorsitzende und Preisträgerin 2021