30. Auflage des Internationalen Theaterfestivals (FITS) ist in vollem Gange
Ausgabe Nr. 2822
Freitag, 23. Juni, 21 Uhr. Es ist wieder soweit. Ganz Hermannstadt ist im Ausnahmezustand. Wenn Massen von Menschen zum Großen Ring drängen, kann das nur eines bedeuten: Das Internationale Theaterfestival hat begonnen. Akrobaten schweben in 60 Metern Höhe, rote Konfettis färben die Lüfte, die Zuschauer sind begeistert und halten den Moment mit ihren Handykameras fest. Akrobaten auf Stelzen, Schauspieler im flauschigen Monsterkostüm oder als farbenfrohe Harlekins verkleidet, überfluten die Gassen der Altstadt. Vom 23. Juni bis zum 2. Juli verwandelt sich die Stadt am Zibin in eine einzige große Bühne und die Bewohner sind die Zuschauer.
Offiziell begonnen hat die 30. Jubiläumsausgabe des Internationalen Theaterfestivals Hermannstadt am Freitag, dem 23. Juni mit einem besonderen Orgelkonzert in der evangelischen Stadtpfarrkirche. Im Voraus richteten Festivaldirektor und Theaterintendant Constantin Chiriac, Kulturministerin Raluca Turcan, S. E. Arthur Mattli, Botschafter der Schweiz, Bürgermeisterin Astrid Fodor und Liviu Jicman, Leiter des Rumänischen Kulturinstituts, Grußworte an die Gäste.
Wie bereits im letzten Jahr wurde auch die 30. Auflage des Internationalen Theaterfestivals FITS in Hermannstadt mit einer spektakulären Drohnen- und Lasershow eröffnet. Am vergangenen Freitag, 23. Juni fanden sich dafür pünktlich gegen 23.30 Uhr Tausende Festivalbesucher und Schaulustige auf den Plätzen rund um das Radu Stanca-Nationaltheater ein und zückten ihre Smartphones und Kameras, um das besondere Ereignis festzuhalten. Die Drohnenshow stellte den letzten Akt des ersten Festivalabends dar und rundete damit die zahlreichen Veranstaltungen des Eröffnungstages ab.
Wie der Veranstalter auf seiner Website angibt, sei die Uraufführung der Drohnenshow im vergangenen Jahr ein voller Erfolg gewesen und habe die Organisatoren dazu veranlasst, die Show in diesem Jahr zu wiederholen. Im Vergleich zu den Eröffnungsfeuerwerken aus der Zeit vor der Pandemie stellen die Drohnen- und Lichtchoreographien eine deutlich umwelt- und tierfreundlichere Alternative dar und kommen gut bei den Besuchern an. Bei der diesjährigen Show waren etwa 12 Minuten lang 250 leuchtende Drohnen im Einsatz, welche sich in kurzen Abständen zu Botschaften oder ganzen Kunstwerken formierten. Untermalt wurden die Flugmanöver durch eine Lasershow mit Musik sowie vereinzelt auch durch pyrotechnische Elemente. Eine Show dieser Größe müsse im Vorfeld durch komplexe Software, wie u. a. zur 3D-Animation oder der Synchronisierung der Drohnen untereinander, aufwändig geplant und vorbereitet werden. Die Show in Hermannstadt sei die größte dieser Art gewesen, die jemals in Rumänien aufgeführt wurde, so der Veranstalter.
Der theatralische Höhepunkt des ersten Festivaltags war die Aufführung des Stückes „Creatorul de teatru“ (Der Theatermacher) von Thomas Bernhard, in der Regie von Alexandru Dabija, mit dem bekannten rumänischen Schauspieler Marcel Iureș als Hauptdarsteller. Der Thaliasaal war fast zu klein für die vielen Zuschauer/innen, die den 71-jährigen Theater- und Filmstar – Iureș hat sogar in Hollywood u.a. in den Filmen „Mission Impossible“ (1996), „Interview mit einem Vampir“ (1994) und „Project: Peacemaker“ (1997) sein schauspielerisches Talent beweisen dürfen – live erleben wollten. Sie wurden nicht enttäuscht. Marcel Iureș ließ eine seiner bedeutendsten schauspielerischen Leistungen wieder aufleben, indem er die Figur des Bruscon, eines großartigen Possenreißers auf der Suche nach dem Absoluten in der Kunst, in einem ätzenden und absurden Quasi-Monolog zum Leben erweckte. Als größenwahnsinniger, misanthropischer, hypochondrischer, nihilistischer und maßloser Schauspieler, Autor und Regisseur bricht Bruscon in Tiraden gegen die Mittelmäßigkeit seines Landes aus und schimpft über alles, von der Politik über die Gesellschaft bis zum Theater. Ihm zur Seite stehen Alexandru Bindea, Ana Ciontea, Alexandra Sălceanu, Lucian Iftime, Afrodita Androne und Victoria Dicu.
Am zweiten Festivaltag hatte man – sofern es noch Karten gab – die Qual der Wahl. Wer sich für das Theaterstück „Dans la mesure de l´impossible“ (Im Maße des Unmöglichen) von Tiago Rodrigues entschieden hat, hatte ein sehenswertes Stück gewählt. Das Stück, das auf der Grundlage von Interviews mit dreißig Mitarbeitern des „Roten Kreuzes“ und von „Ärzte ohne Grenzen“ geschrieben wurde, gibt die Erfahrungen der Mitarbeiter humanitärer Organisationen wieder. Die vier Schauspieler Adrien Barazzone, Beatriz Brás, Baptiste Coustenoble, Natacha Koutchoumov und der Schlagzeuger Gabriel Ferrandini wenden sich an uns, als würden sie unsere Fragen beantworten: Wie leitet man ein Flüchtlingslager? Wie geht man mit einer Entscheidung über Leben und Tod um? Wie soll man weitermachen, wenn man weiß, dass man die Welt nicht verändern wird? Weit entfernt von unserer Welt, in der die Dinge möglich sind, bewegen sich die Figuren in der Welt des Unmöglichen, in der Krieg, Hunger und Gewalt die Zukunft zerstören und die Existenzen in eine andere Realität stürzen. Auf der Bühne wird ein riesiges Tuch ausgebreitet, das abwechselnd zum Zelt, zum Krankenhaus, zum Berg usw. wird. Die mehrsprachige Erzählung wird von vier Schauspielern und einem Musiker getragen, eröffnet Bilder, ohne sie jemals aufzudrängen, und berührt das Unerträgliche, ohne es jemals zu zeigen.
Am Sonntag, dem 25. Juni, wurde ein Theaterstück gezeigt, das sehr ansprechend für Jugendliche (ab 15 Jahre) war. „Punk Rock“ von Simon Stephens, in der Regie von Vlad Cristache mit Schauspielern des Excelsior Theaters aus Bukarest hielt die Zuschauer fast drei Stunden lang in ihren Bann. Erzählt wird die Geschichte einer Schulclique aus der englischen Mittelschicht. Die Jugendlichen treffen sich täglich in der Schule und machen sich das Leben gegenseitig schwer. Da ist Anführer Bennett (Matei Arvunescu), der Bully, der sich besser fühlt, wenn er andere fertig macht, Streber Chadwick (Alex Popa), der die Attacken über sich ergehen lässt, der Aufreißer Nicholas (Alex Călin) und der leicht schizophrene William (Dan Pughineanu), Cissy (Ana Udroiu), die Angst hat vor ihrer Mutter, wenn sie eine Acht in der Kontrollarbeit bekommt, Tanya (Teo Dincă), die in ihren Lehrer verliebt ist und Lilly (Ioana Niculae), die Neue, die sich anpassen muss. Das ganze steigert sich in den Amoklauf von William, der seine Mitschüler brutal erschießt. Und warum? „Ich habe es getan, weil ich konnte“, sagt er am Ende. Gezeigt wird das düstere Bild einer Generation, die, hin und her gerissen zwischen Leistungsdruck, Hormonen und Langeweile, nicht mehr an Bindungen glaubt. Gespickt ist das Stück mit britischen Punkrock-Songs, die die Darstellenden selber spielen und singen.
Der Höhepunkt am Montag, dem 26. Juni, war der Auftritt des beliebten rumänischen Schauspielers Victor Rebengiuc, der in der Hauptrolle im Stück „Tatăl“ (Der Vater) von Florian Zeller, in der Regie von Cristi Juncu, glänzte. Der 90-jährige Bukarester Schauspieler war so begehrt, dass einige Zuschauer es in Kauf nahmen, auf den Treppen zu sitzen, nur um ihn live auf der Bühne zu erleben. Und sie wurden nicht enttäuscht. „Der Vater“ ist Teil einer Trilogie, zu der auch die Stücke ,,La Mère / Die Mutter“ und ,,Le Fils / Der Sohn“ gehören und handelt von einem alten Mann – Witwer, Vater von zwei Töchtern – mit Alzheimer-Erkrankung. André merkt, dass sich etwas verändert – es verschwinden Sachen, er versteckt Gegenstände, er fühlt sich bedroht, verfolgt, er verliert die zeitliche und räumliche Orientierung. Noch lebt er allein in seiner Pariser Wohnung, versucht vor Anne (Ana Ioana Macaria), seiner älteren Tochter, den Eindruck aufrechtzuerhalten, alles sei in Ordnung, wobei es ganz offensichtlich ist, dass er allein nicht mehr zurechtkommen kann. Also organisiert sie für ihn Pflegehilfen, mit denen sich aber dieser stolze und seine Würde behauptende alte Mann ständig zerstreitet. Und dann will sie mit ihrem neuen Lebenspartner nach London gehen. Zeller sprengt die Chronologie, lässt verschiedene Schauspieler in der gleichen Rolle auftreten, um uns durch die Augen des Demenzkranken blicken zu lassen. Es sind Schlaglichter auf eine geistige Umnachtung, die sich mit unerbittlicher Geschwindigkeit ausdehnt. Die Zuschauer erleben mit André, was es heißt, dem eigenen Verstand nicht mehr trauen zu können. Victor Rebengiuc wurde mit langanhaltendem Stehapplaus für seine Interpretation beglückwünscht.
Am Dienstag, dem 27. Juni konnten die Festivalbesucher/innen gleich zwei Theaterstücke sehen, die nennenswert sind. „Baieții de zinc“ (Zinkjungen) von Swetlana Aleksijewitsch, in der Regie von Yuri Kordonsky war eines davon. Das Stück wurde nach dem gleichnamigen Dokumentarroman inszeniert und handelt vom Afghanistankrieg. Dafür interviewte die Autorin Soldaten, Krankenschwestern und Mütter von Soldaten und lieferte erschütternde Einblicke in die Realitäten des Krieges. Die Schauspielerinnen des Bulandra-Theaters Bukarest, die hinter einem langen Tisch auf der Bühne saßen, überzeugten die Zuschauer im Saal von den Grauen des Krieges. Sie beschrieben die endlose Trauer der Mütter der „Zinkjungen“, ihren Wunsch, die Wahrheit darüber zu erfahren, wie und wofür ihre Söhne in Afghanistan gekämpft haben und gestorben sind.
Das zweite Theaterstück, das die Zuschauer am Dienstagabend vergnügte, war „Visul American“ (Drinking in America) von Eric Bogosian, einer One Man Show mit Tudor Chirilă als einzigen Darsteller. Tudor Chirilăs Ein-Mann-Show war eine echte Tour de Force, in der die neun Monologe, aus denen der Text besteht, in Persönlichkeiten verwandelt werden, deren bemerkenswerte Leistung dem Publikum anderthalb Stunden lang einen brutal ehrlichen, komischen und zynischen Röntgenblick auf Amerika und die Welt, in der wir leben, bietet. Es ist ein auffallend aktuelles Stück. Die Regisseurin der Stücks ist Iarina Demian, die Mutter des Schauspielers und Musikers Tudor Chirilă. Sie inszeniert eine moderne Show, in der ein 25 Quadratmeter großer Multimedia-Bildschirm sowohl das Bühnenbild als auch der Partner eines hervorragenden Tudor Chirilă ist. In Hermannstadt waren Mutter und Sohn zum Schluss gemeinsam auf der Bühne und wurden reichlich mit Applaus beschenkt.
Im Rahmen der Dialoge und Buchvorstellungen des FITS war auch der Schriftsteller Matei Vişniec eingeladen, dessen Theaterstücke unter den beliebtesten in den letzten Jahrzehnten in Rumänien sind. Geboren 1956 in Rădăuți, lebt der Autor seit 1987 in Frankreich. Am Dienstag Mittag fanden gleich zwei Programmpunkte statt, in denen Vişniec eingeladen war. Als erstes fand ein Gespräch zwischen ihm und Alexis Michalik statt, ein französisch-britischer Schriftsteller, Regisseuren und Schauspieler.
Im Anschluss stellte der Schriftsteller seine Kinderbuch-Reihe vor, die im Artur-Verlag erschienen ist. Dafür wählte er das Buch „Capra, Iedul cel mic și Cumătra Lupoaică“ (Die Ziege, das kleine Zicklein und Taufpatin Wölfin), das Ion Creangăs berühmtes Märchen weiter führt. Mit auf der Bühne war auch Vişniecs Lebensgefährtin, Andra Bădulescu, die für diese Kinderbuchreihe die Illustrationen übernommen hat und auch zwei Musiker. Silvan Stâncel (Stimme und Gitarre) hat für Vișniecs Kindergedichte mehrere Lieder komponiert, die auf dem Album ,,Dacă inimile toate…” (Wenn alle Herzen…) erschienen sind und ein paar in Begleitung von Dan Liviu Cernat (Geige) spielte. Nach der Buchvorstellung nahm sich der Autor Zeit, Bücher zu signieren und ein paar Worte mit dem Publikum zu wechseln.
Das Theaterfestival geht bis zum 2. Juni weiter und hält weitere Überraschungen und sehenswerte Theaterstücke für das Hermannstädter Publikum bereit. Das gesamte Programm liegt bei der Theateragentur in der Heltauergasse bereit und ist auch online auf www.sibfest.ro zu finden.
Cynthia PINTER
Ruxandra STĂNESCU
Samuel HÖRMANN