Zum 75. Todestag der Autorin Maria Lazar / Von Konrad WELLMANN
Ausgabe Nr. 2812
Maria Lazar (1895-1948), heute nur wenigen bekannt, war keine Ungarin oder Rumänin, wie ihr Name vermuten ließe, sondern eine österreichisch-jüdische Schriftstellerin und Übersetzerin, deren Bücher seit einigen Jahren in Österreich wiederentdeckt und vom Literaturwissenschaftler Johann Sonnleitner im Wiener DVB-Verlag (= Das vergessene Buch) publiziert und ausführlich kommentiert wurden. Maria Lazar wurde als jüngstes von acht Kindern einer wohlhabenden jüdischen Familie 1895 in Wien geboren. Ihr Vater stirbt, als sie 13 Jahre alt ist; zu ihrer Mutter hat sie ein recht gutes Verhältnis, anders als sie es in ihrem Debütroman darstellen wird.
Der Besuch der renommierten reformpädagogischen „Schwarzwaldschule“ führt zur frühen Begegnung mit später berühmten Autoren und Künstlern wie Hermann Broch, Elias Canetti, Egon Friedell und Adolf Loos. Oskar Kokoschka porträtiert sie 1916 als „Dame mit Papagei“. Es ist die Zeit, in der sie ihren ersten Roman mit starkem persönlichem Bezug – „Die Vergiftung“ – verfasst. Darin wird aus der Sicht der Tochter Ruth (dem ‚alter ego’ der Autorin?) die vergiftete Atmosphäre innerhalb der Familie erzählt, vor allem äußert sich darin ihr Hass gegen die alles beherrschende Mutter. Nach Aussagen ihrer älteren Schwester Auguste sei dies biographisch nicht belegbar. Die Tochter rechnet erbarmungslos mit der Heuchelei des Großbürgertums ab. Die Familie fühlt sich nach dem Erscheinen des Buchs an den Pranger gestellt und ist schockiert. Das Buch erscheint 1920, spielt aber in der Zeit vor dem Weltkrieg. Er gilt heute als einziger expressionistischer Roman einer österreichischen Autorin. Der im Expressionismus häufig thematisierte Vater-Sohn-Konflikt wird hier zur Mutter-Tochter-Auseinandersetzung. Der Roman wirkt auch auf heutige Leser durch die leidenschaftlich artikulierten Gefühle vermutlich schockierend oder abstoßend.
Im Jahre 1922 beginnt Maria Lazar als Journalistin für die Wiener Zeitungen Der Tag und die Arbeiter-Zeitungzu schreiben. In ihrem ersten Beitrag formuliert sie ihr künstlerisches Credo: „Jung sein heißt, jeden Tag und jedes Ereignis unmittelbar erschauen zu können, unbeirrt durch Ziele, Zwecke und Erfolge. Jung sein heißt, das Leben sehen wie es ist, gegenwärtig, nackt, grausam. Und deshalb heißt jung sein, Kritik üben müssen, unbarmherzig und gerecht. Das alles sind unbequeme Eigenschaften.“
1923 heiratet sie Friedrich Strindberg, einen unehelichen Sohn von Frank Wedekind und Frida Uhl, der Ehefrau von August Strindberg, der ihn aber als Sohn anerkennt. Maria Lazar bekommt die Tochter Judith (Lutti), erweist sich als gute Mutter, ihre Ehe wird jedoch schon 1927 geschieden. Durch diese Heirat erhielt Maria Lazar die schwedische Staatsangehörigkeit, die es ihr nach dem „Anschluss“ Österreichs durch Hitler ermöglicht, im Exil zu überleben.
Szenenbild aus der Inszenierung des Romans ,,Die Eingeborenen von Maria Blut“ in der Bühnenfassung von Lucia Bihler und Alexander Kerlin am Burgtheater Wien, die am 20. Januar 2023 im Akademietheater Premiere feierte. Foto: Susanne HASSLER-SMITH
Zunächst führt sie als Alleinerziehende den Kampf ums tägliche Überleben. Ihre journalistischen Beiträge sichern kaum das Existenzminimum. Sie muss auch als Übersetzerin Geld hinzuverdienen (bisher nachgewiesen sind von 1921 bis 1936 dreizehn übersetzte Titel, u. a. von E. A. Poe und F. Scott Fitzgerald).Während des aufkommenden Austrofaschismus in den 1930er Jahren gelingt es ihr nicht mehr – wie anderen jüdischen Autoren auch – , ihre Bücher in österreichischen Verlagen unterzubringen. Deshalb entscheidet sie sich, die nächsten Manuskripte unter dem Pseudonym Esther Grenen einzureichen und selbst als Übersetzerin aus dem Dänischen zu fungieren. Mit dieser Taktik hat sie Erfolg: Der nächste Roman „Veritas verhext die Stadt“ kann 1930/1931 in Berliner und Wiener Zeitungen als Fortsetzungsroman erscheinen. Darin geht es um anonyme Briefe, die die scheinbare Idylle einer Provinzstadt stören und schließlich zu einem Mord führen. Die Bewohner glauben eher Gerüchten als den von der Polizei aufgedeckten Fakten – heutzutage wieder aktuell durch die im Internet kursierenden „Fake-News“. Diese Thematik wird von Maria Lazar auch in ihren nächsten Romanen variiert. Eugenie (Genia) Schwarzwald, die Gründerin der gleichnamigen Schule, erklärt Lazars Arbeitsweise so: „Sie erzählte faszinierend. Aber was sie erzählte, war nicht geeignet, den Leuten zu gefallen. Mit tiefem Zeitgefühl begabt, war es ihr nämlich unmöglich, an den Ereignissen des Tages achtlos vorüberzugehen. So war ihre Stoffwahl nicht genehm. Da beschloß sie eines Nachts – so kann man sich das vorstellen – sich ihrer schöpferischen Kraft zu entäußern, sie in eine andere Person hineinzulegen. In dieser Nacht schuf sie eine dänische Schriftstellerin und nannte sie Esther Grenen. Die sollte von jetzt ab ihre Werke schreiben.“
Lazar schreibt nicht nur Romane, sie hat ebenfalls Erfolge als Dramatikerin, z. B. mit dem antimilitaristischen Stück „Der Nebel von Dybern“ über einen Giftgasunfall in einer belgischen Fabrik. Es wird vom 1. Januar 1933 an im Wiener Tag abgedruckt, vier Wochen später – nach Hitlers Machtergreifung – sofort abgesetzt; allerdings wird es in London und Kopenhagen erfolgreich aufgeführt.
Nach dem Berliner Reichstagsbrand am 28. Februar 1933 ist Lazar sich der Gefahren für sie als Sozialistin und Jüdin bewusst. Sie bittet die bekannte dänische Journalistin und Schriftstellerin Karin Michaelis, eine Wohnung in Dänemark zu finden, in der sie, ihre Tochter, die Freunde Bertholt Brecht und Helene Weigel sowie deren zwei Kinder überleben können. Bis 1935 beziehen sie gemeinsam ein Haus auf der Insel Thuro.
Die folgenden zwei Romane der Lazar befassen sich mit dem Aufkommen des durch die katholische Kirche unterstützten sogenannten „Austrofaschismus“. Schon früh hat sie die politische Entwicklung vorausgesehen: „In Österreich wird es gerade so kommen wie in Deutschland, ich will den Hitlerismus dort nicht erst abwarten. Er dämmert schon ganz hübsch herauf – seit Jahren schon. Ich habe es am eigenen Leibe gespürt.“
Für den ersten der beiden Romane, die diese Gefahr vorwegnehmen, fand sich weder in Österreich noch in der Schweiz ein Verleger – wohl auch Vorsicht oder gar Angst vor möglichen politischen Konsequenzen. Es ist der Kolportageroman „Leben verboten!“, der nur in England unter dem Titel „No right to live“ 1934 erscheinen kann.
Der Begriff „Colportage“ (frz. porter à col = um den Hals/Kragen tragen) bezog sich ursprünglich auf Hausierer (Kolporteure), die Bücher in Einzellieferungen vertrieben. Heute bezeichnet „kolportieren“ das Verbreiten von Gerüchten, Vermutungen und Klatsch. Kolportage meint derzeit Literatur auf niedrigem Niveau, z. B. billige Groschenromane, effektvolle, aber auch klischeehafte Unterhaltung (im Englischen „Pulp Fiction“).
Die „reichlich vertrackte und genial erfundene Geschichte“ (J. Sonnleitner) beginnt im Berlin des Jahres 1931. Nach dem Börsenkrach 1929 häufen sich die Pleiten, die Arbeitslosigkeit steigt, andererseits herrscht in der Hauptstadt eine Atmosphäre der Vergnügungssucht. Der Bankier Ernst von Ufermann soll – im Einvernehmen mit seinem Kompagnon Paul – nach Frankfurt fliegen, um sein Unternehmen mit neuen Krediten vor dem Bankrott zu retten. Auf dem Weg zum Flughafen werden ihm Geld, Pass und wichtige Papiere gestohlen. Da er nun nicht mehr abfliegen kann, entschließt er sich spontan, nicht nach Hause zurückzukehren, sondern zu seiner Geliebten zu fahren. Auf dem Weg dahin erfährt er, dass sein Flugzeug abgestürzt ist und alle Passagiere verbrannt sind. Aus der Wohnung seiner abwesenden Freundin lässt er etwas Geld mitgehen und gerät zufällig an einen Boxer und Zuhälter, der ihm einen neuen Pass besorgt. Als Gegenleistung soll Ufermann ein geheimnisvolles Päckchen über Prag nach Wien bringen, ohne es zu öffnen. In Wien kommt er – unter seinem neuen Namen Edwin von Schmitz – bei einer zwar großbürgerlichen, aber verarmten Familie unter, wo sich die Damen und Bediensteten beflissen um ihn bemühen…
Wie es Ufermann weiterhin ergeht, soll hier nicht verraten werden. Stattdessen lege ich den spannenden, teilweise tragikomischen und politisch hellsichtigen Roman allen Leserinnen und Lesern ans Herz. Er ist erst kürzlich in einer preiswerten Taschenbuchausgabe erschienen.
Maria Lazars dritter bedeutender Roman – „Die Eingeborenen von Maria Blut“ – konnte 1937 nur in Moskau in der Exilzeitschrift Das Wort erscheinen. Erst 1958 wurde er in der DDR von ihrer Schwester Auguste Lazar herausgegeben und gilt heute als ihr Hauptwerk. Er erzählt am Beispiel eines fiktiven Wallfahrtsortes in Österreichs Provinz exemplarisch das Aufkommen und die Verbreitung faschistischen Gedankenguts innerhalb einer katholischen Gemeinde. Die Bewohner des Provinznestes werden mehrfach ironisch-spöttisch als „Eingeborene“ bezeichnet, um ihre Engstirnigkeit zu versinnbildlichen (heute würde man dies vermutlich als rassistisch werten).
Von wenigen Ausnahmen (einigen Hauptfiguren, z. B. dem Arzt Lohmann, dem alten Rechtsanwalt Meyer-Löw und einigen Frauenfiguren) werden die Provinzler weitgehend als von Aber- und Wunderglauben, Bigotterie, Gehässigkeit, Heuchelei, Missgunst, Verleumdungen und Vorurteilen besessene Erwachsene, Jugendliche und Kinder geschildert. Die Ursachen liegen in der sich ausbreitenden Arbeitslosigkeit und Armut der 1930er Jahre – einhergehend mit der Radikalisierung der Faschisten und Kommunisten. Die einzige Fabrik am Ort schließt, die Arbeiter und ihre Familien sind auf die magere„Stütze“ angewiesen, selbst ehemalige Adlige und Honoratioren müssen sparen und leiden Hunger. Der Antisemitismus wächst und Gerüchte machen die Runde, vor allem nachdem „Unbekannte“ die ehemalige Konservenfabrik niederbrennen. Ein erschreckend scharfsinniges Kaleidoskop der damaligen Gesellschaft, wird uns von der Autorin mit pessimistischem Realismus in den „volkstümelnden“ Dialogen vor Augen geführt.
Interessant ist, dass der international bekannte Aharon (Erwin) Appelfeld, 1932 im ehemaligen Rumänien in der Nähe von Czernowitz (heute Ukraine) geboren, 1978 in Israel den thematisch ähnlichen Roman „Badenheim“ (dt. 1982) in einem Kurort spielen lässt. Er erzählt die schrittweise Entrechtung der jüdischen Bürger, die zur Ausreise nach Polen gedrängt werden.
Obwohl Maria Lazar nun schon jahrelang im Ausland lebt, überraschen ihre treffenden und klarsichtigen Analysen der politischen Lage in Europa. Sie hält mit ihrer journalistischen und übersetzerischen Tätigkeit sich und ihre Tochter in den Jahren des Exils über Wasser. 1939 retten sie sich ins neutrale Schweden, ein Land, das Hitlers Truppen nicht besetzen. Mit dem Kommunisten Brecht hat sie sich zerstritten, nicht jedoch mit ihrer Freundin Helene Weigel. Nach dem Zusammenbruch des Naziregimes und der Befreiung ihrer Heimat kehrt sie nicht mehr nach Österreich zurück. Zwei ihrer Schwestern, unverheiratete betagte Frauen, wurden 1942 in einem Vernichtungslager von der Waffen-SS ermordet. In einem von Lazars letzten Gedichten – „Die schöne Stadt“ – heißt es: „Ich sehe in den Straßen meiner Vaterstadt/die Toten, die man mir ermordet hat.(…) Und über Grenzen, über Meere, Lande/empfind ich nur die ungeheure Schande/der wunderschönen großen Vaterstadt,/die ihre Toten selbst ermordet hat.“ Lazar erkrankt an einem unheilbaren Tumor, unterzieht sich noch einer Behandlung in London, tötet sich jedoch am 30. März 1948 in Stockholm, um einem langen Siechtum zu entgehen.
Maria Lazar, eine aufrechte, kämpferische und prophetische Autorin, die vor fast hundert Jahren unbequeme Wahrheiten schriftstellerisch und journalistisch aussprach, die heute überraschend aktuell sind, wird heute wieder entdeckt. Es ist zu hoffen, dass sie viele Leserinnen und Leser findet!
Im Verlag „Das vergessene Buch“ (dvb / Wien) sind die neu aufgelegten Romane von Maria Lazar erschienen, mit Nachworten und Anmerkungen hrsg. von Johann Sonnleitner, denen der Verfasser viele Fakten und Hintergrundwissen für diesen Beitrag verdankt:
,,Die Vergiftung“ (Maria Lazars 1920 erschienener Debütroman), 2., durchgesehene und aktualisierte Auflage 2020
,,Leben verboten!“ Ein Roman, 2020
,,Die Eingeborenen von Maria Blut“. Roman, 2., durchgesehene und aktualisierte Auflage 2020
Neu erschienen ist ,,Viermal ICH“, erstmals aus dem Nachlass herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Albert C. Eibl. 2023.