Fünfter Runder Tisch der EKR zur Vorbeugung von Menschenhandel
Ausgabe Nr. 2813
Chroniken des Überlebens, Rückkehr in die Normalität – dies waren nur einige Schwerpunkte des fünften Runden Tisches zur Vorbeugung von Menschenhandel, den die Evangelische Kirche A. B. in Rumänien in Kooperation mit der Evangelischen Akademie und der Psychologischen Beratungsstelle für politisch Verfolgte und Vertriebene der Evangelischen Gesellschaft (eva) in Stuttgart (kurz: PVB) am 31. März 2023 im Hans Bernd von Haeften-Tagungshaus der EAS veranstaltet hat.
Anhar, Jesidin aus dem Nordirak hat den brutalen Genozid und die spätere Sex-Sklaverei durch den sogenannten Islamischen Staat überlebt. Jetzt lebt sie dank eines Sonderkontingents der Landesregierung von Baden-Württemberg in der Region von Stuttgart. Das Team der PBV Stuttgart, Psychologische Beratungsstelle für politisch Verfolgte und Vertriebene der Evangelischen Gesellschaft (eva) in Stuttgart, hat sie in ein ‚normales‘ Leben zurückbegleitet.
Anhar hat in den vergangenen Jahren neben der Traumatherapie die therapiebegleitenden Maßnahmen (TM) der PBV besucht. Mittlerweile ist sie selber Kursleiterin geworden. Unter anderen ist eine eindrückliche Serie ihrer Bilder ins Archiv der Stadt Schwäbisch Gmünd eingegangen. Es sind Dokumente einer Zeitzeugin, Zeugnisse des Überlebens und des Lebenswillens von Anhar.
Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Runden Tisches zur Vorbeugung von Menschenhandel wurden davon Zeuginnen und Zeugen.
Der Runde Tisch zur Vorbeugung von Menschenhandel ist eine Initiative der ,,Arche des Segens Hermannstadt“ (Arca Binecuvântării Sibiu) unter der Leitung von Erika Klemm, Referentin für Migration der Evangelischen Kirche A. B. in Rumänien, und der EKR in Partnerschaft mit der Evangelischen Akademie Siebenbürgen, die vertreten war durch ihren Vorsitzenden Dechant Dietrich Galter und Programmleiter Roger Pârvu.
Gekommen waren am 31. März 2023 mehr als 40 Vertreterinnen und Vertreter staatlicher Einrichtungen und Nicht-Regierungsorganisationen aus den Kreisen Alba, Hunedoara und Hermannstadt, die sich im operativen und/ oder organisatorischen Bereich der Hilfe für Menschen, die Gewalt erleben oder erlebt haben, engagieren.
Die Veranstaltung, die sich der Entwicklung von Resilienz widmete, wurde von Gebetworten gerahmt. Zu Beginn bat Bischof Guib um Kraft für jene, die der Hilfe bedürfen, wie für jene, die sich engagieren. Denn sie müssen auch Ressourcen haben, um versehrte Menschen auf ihrem Heilungsweg begleiten zu können. Am Ende der Veranstaltung sprach der griechisch-katholische Priester Adin Pop, Kaplan des konfessionellen Gymnasiums von Blasendorf/ Blaj, das Abschlussgebet.
Die Anwesenden erfuhren von Torsten Wolfgang Licker, dem Tagungsreferenten von der PBV Stuttgart, den Weg, zu dem das PBV -Team Menschen mit Traumatisierung einlädt: Er beruht auf einer entscheidenden Grundhaltung: traumatisierte Menschen sind normale Menschen, die Situationen erlebt und überlebt haben, die außerhalb unseres Spektrums von Normalität liegen – mit der Folge, dass jegliche Sicherheit, jegliches Vertrauen in sich selbst und in andere Menschen, zerrüttet ist. Sie haben innere, persönliche Ressourcen, wie Talente, Begabungen oder Kenntnisse, die durch die unbedingt freiwillige Teilnahme am PBV- Kursprogramm wieder entdeckt werden und zum Ausdruck kommen können, so dass ein Stärkungsprozess in Gang kommt, während das erfahrene Leid separat in der Traumatherapie behandelt wird. Statistisch gesehen, verkürzt sich bei paralleler Teilnahme am Kursprogramm der PBV Stuttgart die Therapiezeit um ca. 20 Prozent.
Zu den Kursinhalten gehören: z.B. Sport (Fitness, Yoga), Kunst (Malen), die neue Heimat entdecken (Ausflüge und Exkursionen zu Firmen, Museen und Sehenswürdigkeiten). Zur Veranschaulichung hat Torsten Wolfgang Licker, gebürtiger Hermannstädter, aus dem Malkurs Arbeiten mitgebracht. Sie dokumentieren den Willen zum Leben, nicht nur zum Überleben.
Allein seit 2002 sind mehr als 2500 Patientinnen und Patienten durch diese Schule der Resilienz gegangen. Sie stammen aus mehr als 40 Ländern, eine ganze Reihe von ihnen sind inzwischen ihrerseits Lehrkräfte geworden. Licker stellte dieses Konzept vor, das auf dem Ansatz der Salutogenese von Aaron Antonovsky basiert. Ziel ist demnach die Wiederherstellung von Normalität durch (Wieder-) Aufbau des Vertrauens in die eigene Person und zu den Mitmenschen, damit zur Welt. Die Entwicklung von Gesundheit stützt sich dabei auf ein kohärentes Verhältnis zur Welt und zu sich selbst, so dass wieder Verlässlichkeit auf das soziale Netz wie in die eigenen Fähigkeiten erlebt wird: das Gefühl der Verstehbarkeit (die Zusammenhänge des Lebens verstehen), das Gefühl der Handhabbarkeit (die Sicherheit, das eigene Leben gestalten zu können) und das Gefühl der Bedeutsamkeit (um die Sinnhaftigkeit des Lebens zu wissen). Das therapiebegleidende Kursangebot der PBV Stuttgart will ihren Patientinnen und Patienten die Welt auf praktische Weise öffnen.
Mit der Metapher des Regenbogens, der mit seinem Farbenspektrum die Vielfalt und das Ineinanderwirken von Resilienz-
faktoren abbildet, veranschaulichte Torsten Wolfgang Licker schließlich die verschiedenen Bereiche und Strategien, mit denen der Aufbau von Ressourcen auf dem Weg zur Normalität und Stabilität, sowohl von Betroffenen wie ihrer Unterstützer:innen (ob haupt- oder ehrenamtlich), gelingen kann. Dazu gehören unter anderem Selbstmanagement, Gefühlskontrolle, Hoffnung, sozialer Rückhalt, Zukunftsorientierung und Sinn- und Wertegewissheit.
Im Verlaufe dieses Tages waren auch aus Rumänien mehrere Chroniken des Überlebens zu hören – die hoffentlich bald zu Wegen in die Normalität werden. Es sind Berichte von Projekten, die sich (Pflege-) Eltern, Kindern und Jugendlichen sowie Kriegsflüchtlingen widmen.
Der Schweizer Markus Schwitter ist in Heltau im Verein Casa Speranței (Haus der Hoffnung) aktiv und arbeitet mit Kindern und Jugendlichen und ihren Bezugspersonen in familienähnlichen Haushalten. Selbstverteidigungskurse (die sich am israelischen Konzept des Krav-maga orientieren) sollen das Selbstvertrauen aller, der Betreuerinnen und Betreuer wie ihrer Schutzbefohlenen, stärken, um von potentiellen Konflikten zu einer deeskalierenden, respektvollen Beziehung zu gelangen.
Mirona Tatu aus Hermannstadt stellte ihr Konzept des Storytellings und der Theaterpädagogik vor, das sie in Schülergruppen in Hermannstadt ebenso wie in Workshops mit Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern z. B. in der Casa Estera, einem Schutzraum für Opfer häuslicher Gewalt in Mediasch, oder in der Schellenberger Unterkunft für wohnungslose Menschen einsetzt, um ihnen zu mehr Bewusstheit und Souveränität im Umgang miteinander bzw. den Klientinnen und Klienten selbst zu Präsenz und Stärke zu verhelfen.
Jenny Rasche stellte das Projekt „Asociația Speranță și Zâmbet“ (Verein Hoffnung und Lächeln) mit ca. 50 Angestellten vor, das im Kreis Hermannstadt Kinderhäuser betreibt und Familien in Not unterstützt. Kinder sollen dabei einen Lebensraum erfahren, aus dem sie mit dem Bewusstsein ins Leben treten können, dass sie alles schaffen können – trotz des schwierigen Startes ins Leben. Ein weiterer entscheidender Ansatz sei, ehemaligen Betreuten einen Arbeitsplatz anzubieten und sie damit durch das gezeigte Vertrauen, im Vorgang der zu bewältigenden Aufgaben sowie der Möglichkeit, Schul- und akademische Bildung zu verfolgen, in die Lage zu versetzen, zunehmend zu einer selbstbestimmten Lebensführung zu gelangen. Jenny Rasche brachte das Credo der Organisation mit der Formel auf den Punkt: „Oameni iubiți iubesc oameni.“ (Menschen, die Liebe erfahren, lieben ihrerseits Menschen)
Kriegserfahrungen zu bewältigen und um Lebenskraft mitten in der Krise zu finden, das müssen auch ukrainische Frauen, die sich unter dem Dach von EEIRH in Neumarkt seit Kriegsausbruch regelmäßig zusammenfinden. Die Einrichtungsleiterin Elena Micheu sowie Torsten Wolfgang Licker, der vergangene Woche dort drei Workshops durchführte, berichteten von der Zustimmung von Betroffenen, die durch den Einsatz von Wort und Kunst eintreten kann. Eine Teilnehmerin hatte einen Lebensbaum mit tiefen Wurzeln gezeichnet. Eine weitere Frau hatte – trotz des Todes ihres Mannes im Gefecht – leise, jedoch widerständig formuliert: „Ich möchte leben.“
Ebenfalls eine Initiative aus Rumänien, und zwar des Migrationsreferates der EKR in Zusammenarbeit mit dem Schulinspektorat Hermannstadt, der ANITP Temeswar und anderen, stellen die Schulungshefte des Projektes APA/Wasser dar, die auf dem Büchertisch zur Ansicht auslagen. Sie wurden zum Einsatz im rumänischen Schulunterricht konzipiert in der Absicht, Kinder bereits sehr früh vor den Gefahren von Missbrauch und deren schlimmster Form, dem Menschenhandel, etc. zu schützen. Zu beziehen sind die DIN A4-Hefte bei: Erika Klemm oder online auf www.evang.ro/apa/
Dass alle erfolgreichen Projekte einmal Pionierarbeit darstellten und sich gegen Widrigkeiten, innere und äußere Umstände, dank Gottvertrauen und verlässlicher Verbündeter, durchsetzen konnten, das vermittelte Erika Klemm im abschließenden Beitrag.
In der Abschiedsrunde der Tagung äußerten die Teilnehmenden den Wunsch, Torsten Wolfgang Licker möge alsbald wieder nach Rumänien kommen, um mit ihren Projektteams direkt in den Einrichtungen zu arbeiten, um den Ansatz ‚,Stärkung durch Normalität“ (Gemeinschaft, Kultur, Arbeit, Wohnen) zu verwurzeln.
Daniela BOLTRES