Einführende Sätze über den Aufbruch in die literarische Moderne / Von Horst SAMSON
Ausgabe Nr. 2809
„Lieber Horst Samson, Richard ist gestorben. Heute, 14.3.2023, gegen drei Uhr morgens, nach langer, geduldig ertragener Krankheit, wenige Wochen vor seinem 71. Geburtstag. Er starb ruhig, im Schlaf. In Trauer Sabina Kienlechner“. Die Berliner Essayistin, Publizistin und Übersetzerin hat sich intensiv um Richard gekümmert, der die letzten Jahre vereinsamt und zurückgezogen in einem Altersheim der Hauptstadt verbracht hat.
Sabinas Nachricht erreichte mich morgens, um 7 Uhr und 49 Minuten, ich hatte gerade den PC hochgefahren, um mich der Übersetzung eines Gedichtes von Vicente Huidobro zu widmen. Ich war von Jetzt auf Gleich wie elektrisiert, mein Kopf in blanker Unordnung. Schmerz, Trauer, Erleichterung, Bedauern, Niedergeschlagenheit, Bedrückung, Wehmut, Aufatmen, Wut, Enttäuschungen – es jagten sich Gefühle in mir, wie von Hunden gehetzt. Und die Seele schlug Purzelbaum.
Richard Wagner (geboren am 10. April 1952 in Lowrin, im rumänischen Banat, gestorben am 14. März 2023 in Berlin) sprühte noch vor Ideen, als ich ihn das letzte Mal in Berlin traf, aber sein Körper befand sich damals bereits im Zustand der permanenten Revolte. Unerbittlich, kein Nachgeben, kein Verhandeln, es nutzte keine Bestechung, keine Arznei brachte definitive Abhilfe. Parkinson, diese hinterlistige, unheilbare Krankheit hatte ihn im eisernen Griff. Mit Herrn Parkinson aber ist nicht gut Kirschen essen, er ist ein Autokrat, nein, sogar ein Diktator, auf jeden Fall traditionell beratungsresistent.
Richard Wagner versuchte mit seinem Buch „Herr Parkinson“ dem grausamen Herrn den Schneid abzukaufen, aber kurze, vermeintliche Siege über Herrn P. erwiesen sich seit jeher als trügerisch. Herr Parkinson ließ seit Jahrzehnten nicht mit sich reden.
Kaum wollte der Kopf aufbrechen auf neue imaginäre literarische Reisen, zog der Körper die Bremse, denn Herr Parkinson blies sofort zur Attacke, brachte die Hände zum unkontrollierten Fuchteln, die Füße zum Strampeln, schüttelte den Körper durch, als wollte er alles Leben aus ihm austreiben. „Herr Parkinson verwirrt den Körper und lässt den Kopf zuschauen“, hatte Richard Wagner in seinem Buch auf Seite 99 vermerkt. Und er schrieb weiter: „Es war eine Stimme im Zimmer, eine fragende Stimme. Ich horchte dem fragenden Tonfall nach. Wo willst du eigentlich begraben sein, fragte die Stimme, die akustisch von einem Krächzen begleitet wurde, einem Verlegenheitskrächzen. Es war die Stimme eines Freundes. Sie hing irgendwo an der Decke, ich konnte sie nicht sehen. Die Stimme meines Freundes war nicht tief genug, um meinen Nacken abzustützen. In einem Waldfriedhof am Rand der Stadt, hörte ich mich sagen. Ich hätte gerne gesagt: In einem Waldfriedhof am Rand der Welt. Wo sich die Eidechsen unter dem Lorbeer verstecken und aufgeregte Vogelstimmen den Toten die Verstecke melden.“
Diese Worte blieben mir im Ohr. Ich begegnete ihnen später auf dem Papier, erkannte sie und den Urheber dieser Verzweiflung, jenen fiesen Herrn P.! Er hatte Richard Wagner aus seiner Kreativität herausgerissen, wie man einen Rettich aus dem Boden zupft.
„Ich sollte das Leben von einer anderen Seite kennen lernen“, resümierte der Autor nüchtern dazu auf Seite 69 des Parkinson-Buches. Und so sollte es bleiben. Einen erneuten Seitenwechsel war in diesem Spiel zwischen Leben und Tod nicht vorgesehen. Mit Wolfgang Schäuble diagnostiziert: Es isch over! Jetzt hatte nachts, als es still war im Zimmer mit Daueraufenthalt und der Ball flach lag, der Schiri den Schlusspfiff getan!
„Liebe Sabina“, schrieb ich, „danke für die Nachricht. Richard ist jetzt erlöst! Herr Parkinson hat ab heute keinerlei Macht mehr über ihn! Das ist ein schöner Gedanke. Richard hat sich freigeschwommen. Er ruhe in Frieden….“
Richard Wagner gehörte 1972 als Germanistikstudent zu den Gründern der später als „Aktionsgruppe Banat“ (1972-1975) bezeichneten Autorenvereinigung, deren unumstrittener Kopf er war. Er war der Vordenker und Formulierer, der – wie ich ihn bezeichnete – „Herzschrittmacher“ jener an Literatur interessierten Gruppe aus begabten Studenten und Gymnasialschülern, die er um sich geschart hatte: Anton Sterbling, Rolf Bossert, Werner Kremm, Gerhard Ortinau, William Totok, Johann Lippet, Albert Bohn, Ernest Wichner. In der von Eduard Schneider herausgegebenen Anthologie „Wortmeldungen“ fanden sie ein erstes Forum, ihre Gedichte in Buchform zu veröffentlichen. Ziel war es, die Werke der mit dem sozialistischen Realismus unrettbar verstrickten Autoren (u. a. Andreas A. Lillin, Franz Liebhard, Hans Mokka, Hans Kehrer, Hans Bohn, Irene Mokka etc.), vom Kopf auf die Füße zu stellen. Engagiert und programmatisch entwickelten die jungen Dichter als „Brechtianer“ neue Ansätze des Schreibens, anders als die unmittelbare Schriftsteller-Generation vor ihnen sie bereits praktizierte. Daraus ergab sich eine produktive Konfrontation von Alt und Neu im dem von dem Journalisten und Dichter Nikolaus Berwanger geleiteten Literaturkreis „Adam Müller-Guttenbrunn“ der Temeswarer Schriftstellervereinigung, der sich bis zu seiner Auflösung im Oktober 1984 zum wichtigsten literarischen Diskussionsforum der rumäniendeutschen Literatur mausern sollte.
Bezeichnenderweise drehte sich das Rad der literarischen Erneuerung und des Übergleitens in die Moderne exklusiv rings um die Dichtkunst. Autoren wie Anemone Latzina, Franz Hodjak, Dieter Schlesak, Bernd Kolf, Oskar Pastior, Frieder Schuller, Claus Stephani, Joachim Wittstock oder Gerhard Eike lüfteten mit ihren Büchern und Anthologien, wie „befragung heute – junge deutsche lyrik in rumänien“ (Kriterion Verlag Bukarest, 1974) den rumäniendeutschen Literaturbetrieb ganz gehörig. Claus Stephani, Herausgeber der Befragung, schrieb in seinem Vorwort zu dem Sammelband: „Der historische Luftdruck unserer Zeit aber verlangt vom Lyriker starke Waffen: Gedichte mit Nachwirkung. Denn es ist eine noch verschlossene Welt, die angeleuchtet und aufgehellt werden will: Wort für Wort aneinandergereiht und im Gehen gesprochen – so können Verse wie Trommeln im Regen sein, wie ein Vogelschrei am verbrannten Nest.“ Und die war durchaus festzustellen, auch von den „Bewahrern“ nicht mehr zu ignorieren. „Die Modernisierung des poetischen Instrumentariums trug zu einer begrüßenswerten Erweiterung der Ausdrucksformen bei, doch vollzog sich der Anschluss an die ,Moderne‘ nicht ohne Risiken. Die notwendige Abwendung von der plakativen Realitätsvereinfachung führte mitunter zu einer Abwendung von der Realität schlechthin“, urteilte Peter Motzan in seinem grundlegenden Buch „Die rumäniendeutsche Lyrik nach 1944 – Problemaufriss und historischer Überblick“.
Es waren wirre Zeiten, die 70er und 80er Jahre des 20. Jahrhunderts, in denen wir die Literatur und ihr gesellschaftlich brisantes Veränderungspotential begriffen. Seien wir mal ehrlich, Leben ist immer lebensgefährlich – dieser „Paragraph“ aus Erich Kästners hausierenden Dekreten hatten wir schnell verinnerlicht. Das rief Verhinderer auf den Plan.
Herr Parkinson war einer der Repräsentanten, die sich vorgenommen hatten, genau diese Karte durchzuspielen, am Beispiel des Schriftstellers Richard Wagner. Es war kaum mitanzusehen, das Herz tat einem Weh, es war schwer zu begreifen, wieso ein so blendender Kopf wie Richard Wagner nicht mehr Herr wurde in der eigenen Haut über einen ganz gewöhnlichen Durchschnittskörper und jenen unsichtbaren Herrn Parkinson, der immer heftiger seine Instrumente zeigte. Am Schreiben hinderte er Wagner vorerst nicht. Richtig ist, Richard Wagner hat literarisch viel erreicht, er hat ein großes Werk hinterlassen und hätte durchaus auch den Nobelpreis bekommen können, etwa für sein wunderbares Buch „Habseligkeiten“. Als Mensch hatte Wagner hingegen große Schwachstellen, als politischer Kopf und Vordenker aber war er brillant, schon als Gymnasiast.
Im Literaturbetrieb seiner Zeit war er ein Erneuerer, ein Impulsgeber, auch ein Ausnahmekönner, ausgewiesen durch zahlreiche Bücher, die hier nur exemplarisch und stellvertretend für sein literarisches Wirken angeführt seien, da man sein Gesamtwerk auf „Wikipedia“ – https://de.wikipedia.org/wiki/Richard_Wagner_(Schriftsteller) – recherchieren kann, sei es im Bereich der Lyrik („Klartext“ oder „Hotel California 1 & 2“), sei es im Bereich der Essayistik („Es reicht“), sei es im Bereich der Kurzprosa („Die Invasion der Uhren“) oder der Kinderliteratur („Anna und die Uhren“) und so weiter. Nur der Dramatik hat er sich kompromisslos verweigert, obwohl er – da bin ich mir sicher – auch das gekonnt hätte.
Richard Wagner etablierte sich von Anfang an, noch als Schüler, als außergewöhnlich begabt und rhetorisch versiert, er formulierte die Positionen seiner Generationskollegen prägnant und unwiderstehlich.
Neben seinem literarischen Oeuvre profilierte er sich 2009/2010 auch als strenger Aufklärer der Verstrickungen von Schriftstellern in die Aktivitäten des rumänischen Geheimdienstes Securitate, als sich, im Zuge der Aufarbeitung der Verbrechen in der Diktatur Nicolae Ceaușescus der Verdacht faktisch erhärtete, dass einige rumäniendeutsche Autoren, wie u. a. Oskar Pastior, Claus Stephani, Franz Thomas Schleich, Hans Mokka, Werner Söllner oder Peter Grosz, mit der Securitate zusammengearbeitet hätten. Wagner forderte damals die „schonungslose Aufklärung der Securitate-Verstrickung Pastiors“, den er an anderer Stelle einen „Meister der Duplizität“ bezeichnete, wobei er auch die Haltbarkeit der Oskar-Pastior-Stiftung in Frage stellte, wie in der Wikipedia nachzulesen ist. Wagner betrachtete Pastiors Werk als „ein Feuerwerk an Sprachartistik“, dem aber „jede moralische Begründung“ fehle. Sich selber gegenüber blieb Wagner allerdings – und das gehört zur Wahrheit dazu – bis zuletzt unkritisch, erwies sich engsten literarischen Freunden gegenüber nicht immer als loyal, redlich und offen.
Der Dichter Franz Hodjak erkannte schon früh Wagners literarische Begabung und schrieb über seine Lyrik bereits 1973: „Wagners Gedichtstrukturen sind äußert luzide durchkomponiert und lassen deutlich zwei Tendenzen erkennen: einerseits die Neigung zu einer überaus plastischen Vergegenständlichung der lyrischen Substanz und andererseits den Hang zum abstrakteren poetischen Diskurs. Der poetische Diskurs ist immer nüchtern, unterkühlt, mit kargem Wortmaterial aufgebaut, er wird zielbewusst gestartet, verläuft sich dann scheinbar in ganz Belanglosem, um überraschend in eine effektvolle, genau vorausberechnete Schlusspointe einzumünden.“ Die Lyrik, die Wagner nach seiner Ausreise in die Bundesrepublik schrieb, wandelte sich mit seiner Lebenswelt und wurde introspektiver, knapper und schließlich wieder aphoristischer, zuletzt sogar exemplarisch grandios.
Eines seiner bedeutendsten Gedichte, das auch die Zeiten in herausragender Stellung überdauern wird, ist sein wahrhaft bedeutendes, umfassendes und kreativ bezauberndes Gedicht „Banater Elegie“, erstmals erschienen in der von mir in Absprache mit Wagner unter der Schlagzeile „Richard Wagner und die Folgen“ zusammengestellten Sonderausgabe der 40. Ausgabe der Literaturzeitschrift „Matrix“ des Pop Verlags Ludwigsburg. Während wir Stapel von Papieren durchforsteten zog er daraus ein Gedicht hervor und forderte mich auf, seinem Vortrag zuzuhören. Es war die „Banater Elegie“, ein bedeutsames Gedicht, das wie kein anderes das Leben und die Geschichte der Banater Schwaben präzise, geistreich und in Wagners bezeichnenden nüchternen Diktion aufruft und festschreibt.
Als systemkritisch engagierter Dichter hat Richard Wagner zusammen mit Herta Müller, Johann Lippet, William Totok, Balthasar Waitz, Helmuth Frauendorfer und mir in den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts das Regime frontal herausgefordert, eine Aktion, die unter der Schlagzeile „Brief an die Macht“ Eingang gefunden hat in die Literaturgeschichte. Uns allen fiel es mit unserem genaueren Blick auf die gesellschaftspolitischen Begebenheiten wie Schuppen von den Augen, dass das Leben nur den Sinn hat, den wir ihm selber geben.
Im jugendhaften Elan und linkspolitischen Streben nach Erneuerung der erstickenden Verhältnisse einer korrupten Diktatur kommunistischer Eliten und mitläuferischen Pharisäern merkten wir überhaupt nicht, dass wir eines Tages die rote Linie überschritten hatten und es nicht mehr möglich war, von den Zinsen unseren Denkens zu leben, da wir definitiv unser Kapital verbraucht hatten und die Vernunft als Risikokapital uns nicht mehr retten konnte. Es galt, die Zelte in Würde abzubrechen. Das ist nicht allen gelungen, es war dennoch ein unübersehbarer wichtiger Prozess gesellschaftspolitischer Abnabelung und ein Freischwimmen aus den veränderten, geänderten Verhältnissen. So als hätte der rumänische Geheimdienst Friedrich Hölderlin gelesen, hieß es ab 1987 dann nur noch: „Ins Offene!“ Leben war plötzlich nicht mehr alles, es ging aus damaliger Perspektive ums krude Überleben.
„Über das Leben der meisten lässt sich nur sagen, dass sie sehr, sehr lange nicht gestorben sind“, giftete Karl Kraus. Und solchem Schicksal, da waren wir unisono und konsequent entschlossen, wollten wir entgehen. Also gingen wir. Ins Exil. Nicht freiwillig, aber es war der einzige noch gangbare Weg. Alle anderen Wege erwiesen sich als Sackgassen!
Neuberg, 15. März 2023