Der Literaturwissenschaftler Stefan Sienerth wird 75
Ausgabe Nr. 2810

Stefan Sienerth am Rednerpult bei der aus Anlass des 50. Gründungstages des Hermannstädter Lehrstuhls für Germanistik in Hermannstadt veranstalteten internationalen Jubiläumstagung, an der unter dem Titel ,,Literatur und Sprache im südosteuropäischen Raum“ vom 24. bis 26. Oktober 2019 an der Fakultät für Philologie und Bühnenkünste der Lucian Blaga-Universität Germanisten und Germanistinnen aus verschiedenen Ländern teilgenommen haben. Foto: Marius STROIA
Prof. em. h. c. Dr. Dr. h. c. Stefan Sienerth gehört zu den bekanntesten Literaturwissenschaftlern und geschätzten Kennern der rumäniendeutschen Literatur, des siebenbürgisch-deutschen Schrifttums und des deutschsprachigen Literaturbetriebs Ostmittel- und Südosteuropas, dessen Ruf den Stätten seines Wirkens Anerkennung einbrachte. Als Leiter des Instituts für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas (IKGS) an der Ludwig-Maximilians-Universität München (2005 bis 2013) engagierte sich der Jubilar für die Wahrnehmung der rumäniendeutschen und der rumänischen Literatur in breiten Kreisen der deutschsprachigen Öffentlichkeit. Für sein Werk und Wirken wurde der Jubilar mit dem Siebenbürgisch-Sächsischen Kulturpreis (2011) geehrt und zum 70. Geburtstag verlieh ihm die Lucian-Blaga-Universität in Hermannstadt die Ehrendoktorwürde. Das bisher Erreichte soll nun in einigen Worten umrissen werden, obschon sein Wirken weit über seine Wirkungsstätten reicht.
Stefan Sienerth wurde am 28. März 1948 im siebenbürgischen Dorf Durles/Dârlos geboren. Nach dem Besuch der Grundschule im Heimatort und des Gymnasiums in Mediasch studierte er Germanistik und Rumänistik (1966–1971) an der Babeş-Bolyai-Universität in Klausenburg. Nach dem Studium war er zunächst als Lehrkraft in Neumarkt/Târgu-Mureş (1971–1974) tätig, bevor er 1974 an der neugegründeten Germanistikabteilung in Hermannstadt eine akademische Laufbahn einschlug, wo er bis 1978 alle Karrierestufen durchlief. Bis zu der vom Staatschef Ceauşescu verordneten Auflösung der Germanistik in Hermannstadt (1986) widmete sich Stefan Sienerth in der Lehre den mustergültigen Autoren und Werken diverser Strömungen und Epochen (Frühromantik, Vormärz, bürgerlicher Realismus, Literatur der Jahrhundertwende und der Moderne). Als Dozent hat Stefan Sienerth bereits Ende der 1970er-Jahre Lehrveranstaltungen zur siebenbürgisch-deutschen bzw. rumäniendeutschen Literatur geleitet und Abschlussarbeiten betreut. Diesem Arbeitsbereich sollte er in den folgenden Jahrzehnten treu bleiben und hier auch wissenschaftlich produktiv und erfolgreich sein. Ein erster Schritt war die Promotion an der Universität Bukarest 1979 mit einer Dissertation zur deutschen Lyrik Siebenbürgens Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts.
Als 1986 der Lehrstuhl für Germanistik aufgelöst wurde, wechselte Stefan Sienerth zum Forschungsinstitut für Geisteswissenschaften in Hermannstadt. Hier wurde bereits Mitte der 1950er-Jahre eine Wörterbuchstelle eingerichtet, deren Leitung Bernhard Capesius (1889–1981) übernahm. An dieser Außenstelle der Rumänischen Akademie, die seit ihrer Gründung 1956 eng mit der Erforschung der siebenbürgisch-sächsischen Kultur und Geschichte der deutschen Minderheit verbunden ist und wo auch heute noch das Siebenbürgisch-Sächsische Wörterbuch (SSWB) erarbeitet wird, konnte sich Stefan Sienerth als Mundartsprecher einem weiteren wissenschaftlichen Betätigungsfeld – die siebenbürgisch-sächsische Dialektforschung und Mundartlexikografie – zuwenden. Bis zu seiner Ausreise (1990) wirkte Stefan Sienerth an mehreren Bänden des SSWB mit. Ehrenamtlich übernahm Sienerth nach der Wende die Gegenlesung weiterer Manuskripte.
Sienerth, dem alle guten geistigen Gaben in die Wiege gelegt worden sind, nahm seine Forschungstätigkeit bereits während seines Studiums in Klausenburg auf. Der für die „Schreibtischarbeit“ Geschaffene brachte die akribische Recherche lokaler Bestände und Archivquellen mit Gewinn in umfangreichen, von beachtlicher Sekundärliteratur abgerundeten Studien und Überblicksdarstellungen (Humanismus, Aufklärung, Vormärz, Geschichte des siebenbürgisch-deutschen Schrifttums und der siebenbürgisch-sächsischen Dialektforschung) ein.

Stefan Sienerth: Bespitzelt und bedrängt – verhaftet und verstrickt. Rumäniendeutsche Schriftsteller und Geisteswissenschaftler im Blickfeld der Securitate. Studien und Aufsätze, Literaturwissenschaft, Band 102 Frank&Timme Verlag Berlin, 2022, 714 Seiten, ISBN 978-3-7329-0874-5, 98,00 Euro.
Das in Archiven Auffindbare wissenschaftlich zu verwerten und der fachlichen Öffentlichkeit zugänglich zu machen, hat Stefan Sienerth auch in Deutschland mit Beharrlichkeit verfolgt. Ab 1991 setzte Sienerth nämlich seine Forschungstätigkeit zur Geschichte deutschsprachiger Regionalliteraturen Ostmittel- und Südosteuropas (16.- 20. Jh.) und der Neueren deutschen Literatur fort. Zunächst innerhalb des Südostdeutschen Kulturwerks (SOKW), der Vorgängereinrichtung des Instituts für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas (IKGS) an der LMU München, ein Jahr darauf in den Bibliotheks- und Archivbeständen oder in den Vor- und Nachlässen des IKGS. An der LMU war Sienerth Lehrbeauftragter für Neuere deutsche und rumänische Literatur.
Wie vielseitig Stefan Sienerths Forschungsarbeit und gediegenes Wissen ist, belegen zahlreiche Veröffentlichungen unterschiedlichen Formats und thematischer Brisanz. Als renommierter Literaturforscher von europäischer Reichweite prägte der Jubilar wie „kein anderer Germanist aus Siebenbürgen […] die Forschungsdebatten in der Bundesrepublik Deutschland“ (Iulia-Karin Patrut). Stefan Sienerths reiche Forschungstätigkeit erstreckt sich über ein halbes Jahrhundert – seinen ersten Aufsatz veröffentlichte er 1968 in der Klausenburger Zeitschrift Echinox und sein jüngster umfangreicher Band (714 Seiten!), ,,Bespitzelt und bedrängt – verhaftet und verstrickt. Rumäniendeutsche Schriftsteller und Geisteswissenschaftler im Blickfeld der Securitate. Studien und Aufsätze“, ist bei Frank & Timme in Berlin 2022 erschienen – und schließt Monografien, Sammel- und Tagungsbände, Dokumentationen und Anthologien ein. Als (Mit)Verfasser und (Mit)Herausgeber wirkte Stefan Sienerth sachkompetent an wichtigen Buchveröffentlichungen mit, sodass sein wissenschaftliches Werk literarhistorische Überblicksdarstellungen [Die Literatur der Siebenbürger Sachsen in den Jahren 1849-1918 (1979), Die rumäniendeutsche Literatur in den Jahren 1918-1944 (1992), Die deutsche Literatur Siebenbürgens. Von den Anfängen bis 1848 (2 Bde., 1997 und 1999), Geschichte der siebenbürgisch-deutschen Literatur. Von den Anfängen bis zum Ausgang des 16. Jahrhunderts (1984), Beiträge zur rumäniendeutschen Literaturgeschichte (1989), Geschichte der siebenbürgisch-deutschen Literatur im 18. Jahrhundert (1990)], Dokumentationen [„Bitte um baldige Nachricht.“ Alltag, Politik und Kultur im Spiegel südostdeutscher Korrespondenz des ausgehenden 19. und des 20. Jahrhunderts (2003), „Dass ich in diesen Raum hineingeboren wurde…“ Gespräche mit deutschen Schriftstellern aus Südosteuropa (1997)], Materialsammlungen [,,Wintergrün. Anthologie siebenbürgisch-deutscher Lyrik aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts“ (1978), ,,Wahrheit vom Brot. Anthologie siebenbürgisch-deutscher Lyrik der Jahrhundertwende (1980), Ausklang. Anthologie siebenbürgisch-deutscher Lyrik der Zwischenkriegszeit“ (1982), ,,Das Leben ein Meer. Anthologie der Anfänge“ (1986), ,,Kritische Texte zur siebenbürgisch-deutschen Literatur. Vom Ende des 18. bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts“ (1996)] und Werkausgaben [Georg Hoprich (1979), Gerda Mieß (1987), Hermann Klöß (1989)] umfasst. Eine zweibändige Ausgabe seiner wichtigsten Studien erschien 2008 im Verlag IKGS [,Studien und Aufsätze zur Geschichte der deutschen Literatur und Sprachwissenschaft in Südosteuropa. Band I: Theoretische Reflexionen und Überblicksarbeiten. Beiträge zur deutschen Literatur in Siebenbürgen im 17. und 18. Jahrhundert und zur Geschichte der siebenbürgisch-sächsischen Germanistik; Band II: Beiträge zur deutschen Literatur in Südosteuropa im 19. und 20. Jahrhundert].
Nach dem Fall der Diktatur in Rumänien hat sich Stefan Sienerth, der ab 2005 bis zu seiner Verabschiedung in den Ruhestand (2013) als Leiter des IKGS tätig war, intensiv mit der Aufarbeitung der kommunistischen Vergangenheit beschäftigt. Der erste zu dieser Thematik herausgegebene Band ,,Worte als Gefahr und Gefährdung. Fünf deutsche Schriftsteller vor Gericht“ erschien schon 1993 (443 S., Mithrsg. Peter Motzan). Erwähnt seien hier auch die internationale IKGS-Tagung „Deutsche Literatur in Rumänien im Spiegel und Zerrspiegel der Securitate-Akten“ (2009) und die durch die Gründung des Nationalen Rates für das Studium der Archive der Securitate (CNSAS; rum. Consiliul Național pentru Studierea Arhivelor Securității) ab 2005 gebotene Möglichkeit, die Akten des rumänischen Geheimdienstes einzusehen und zu Dokumentationszwecken sachlich und wissenschaftlich aufzuarbeiten. Die Tagungsbeiträge wurden in dem 2015 im Pustet Verlag in Zusammenarbeit mit Gerhardt Csejka herausgegebene Band ,,Vexierspiegel Securitate. Rumäniendeutsche Autoren im Visier des kommunistischen Geheimdienstes“ (280 S.) aufgenommen und dokumentieren Machtmissbrauch, Rechtswillkür und Verfolgungsaktionen des rumänischen Geheimdienstes Securitate.
Stefan Sienerth ist auch als Ruheständler weiterhin wissenschaftlich aktiv, was auch die bereits erwähnte jüngste Veröffentlichung Sienerths in Buchform (2022) belegt, die Erfahrungen rumäniendeutscher Schriftsteller und Geisteswissenschaftler mit der rumänischen Sicherheitsbehörde aufgreift und seine zu dieser Problematik verfassten Beiträge thematisch bündelt.
Stefan Sienerths Wirken und Weitblick haben das Profil des Instituts für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas nachhaltig geprägt und diese Einrichtung in der internationalen Fachgemeinschaft verankert. Sienerth hat sich nicht nur durch die eigene Forschungsarbeit, sondern auch als Direktor des IKGS durch die Initiierung wissenschaftlicher Kooperationen, interdisziplinärer Forschungsvorhaben, Fach- und Publikumsveranstaltungen sowie Publikationen um die bessere Wahrnehmung der rumäniendeutschen und der deutschsprachigen Literatur Südosteuropas bemüht. Erfreulicherweise ist ihm dies über Jahrzehnte hervorragend gelungen.
Der Kontakt zu den hiesigen Germanistinnen und Germanisten hat Sienerth nie abgebrochen, im Gegenteil: Viele rumänische Germanisten, Doktoranden und Nachwuchsforscher wurden von Sienerth menschlich und fachlich unterstützt, innerhalb der Kongresse der Germanisten Rumäniens oder landesweiter Jahrestagungen germanistischer Lehrstühle sind IKGS-Sondersektionen eingeplant und in Zusammenarbeit Tagungs- und Würdigungsbände herausgegeben worden. Regelmäßig hielt er zudem Blockvorlesungen an der Universität Bukarest, die ihm 2002 die Ehrenprofessur verlieh.
Stefan Sienerth hat auch die Hermannstädter Germanistik kontinuierlich unterstützt – das IKGS war ab 2006 regelmäßig an der traditionellen Jahrestagung des Hermannstädter Lehrstuhls als mitorganisierende Institution beteiligt. Aus der Zusammenarbeit mit dem IKGS sind zwei Tagungsbände hervorgegangen, bei denen Stefan Sienerth als Mitherausgeber wirkte [Literarische Zentrenbildung in Ostmittel- und Südosteuropa. Hermannstadt/Sibiu, Laibach/Ljubljana und weitere Fallbeispiele; zusammen mit Maria Sass/Mira Miladinović Zalatnic (2010); Schriftsteller versus Übersetzer (Mithrsg. Maria Sass/Doris Sava (2013)].
Stefan Sienerth scheute keine Herausforderungen und beschritt mutig neue Wege – beharrlich, akribisch und kontinuierlich ist er seinem Anliegen nachgegangen, den Blick stets nach vorne gerichtet: Es gibt schließlich noch so vieles zu bewahren, zu erforschen und zu vermitteln!
In aller und alter Verbundenheit gratulieren wir dem Jubilar herzlich zum Geburtstag. Möge er weiterhin Freude an der Arbeit haben und Familie und Freunde ihn noch viele gesunde und segensreiche Jahre begleiten.
Maria SASS