Wenn Straßen erzählen…

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Anthologie von Dagmar Dusil über Hermannstadts Straßen

Dagmar Dusil (Hg.): Mit Erinnerungen gepflastert. Eine Anthologie von Dagmar Dusil. Kartoniert, mit Schutzumschlag (bedruckt). Pop Verlag Ludwigsburg 2022, Reihe Fragmentarium, Bd. 28. ISBN: 978-3-86356-367-7, 410 Seiten, 25 Euro. In Hermannstadt liegt das Buch in der Schiller-Buchhandlung und im Erasmus-Büchercafé auf, Preis 124 Lei.

Ausgabe Nr. 2803

„Hermannstadt ist die Stadt, die Fremde begeistert und ihren Bewohnern einen Stempel aufdrückte und aufdrückt. Ich wage zu behaupten, dass die Einwohner Hermannstadts mehr mit der Stadt verbunden sind als mit dem Land“, schreibt die Herausgeberin Dagmar Dusil in dem Vorwort zu ihrer Anthologie.

Insgesamt 36 Hermannstädter und Menschen, die längere Zeit in Hermannstadt gewohnt haben, antworteten auf Dagmar Dusils Anfrage, über ihre Straße zu schreiben. Was dabei herausgekommen ist: Eine faszinierende Dokumentation, die in dem Leser selber manche Kindheitserinnerungen weckt und geradezu auffordert, loszugehen und die alten Straßen und Häuser der Stadt zu besuchen und zu bestaunen.

Um eine Verbindung zum heutigen Hermannstadt entstehen zu lassen, hat Dagmar Dusil das Buch mit aktuellen schwarz-weiß Fotos gepflastert, für die Louis Germond, Beatrice Ungar, Dagmar Dusil und einige der Autoren selber den Auslöser drückten.

Die Herausgeberin unterteilte die Anthologie in elf große Kapitel, die mehr als Verortungen der Straßen dienen. So z. B. heißt das zweite Kapitel „Konradwiese und ihre Nähe“, ein anderes „Noble Straßen“ oder wieder ein weiteres „Hinter der Bahnlinie“.

Die ersten Geschichten stammen aus der Feder der bekannten Autoren Emil Hurezeanu, Nora Iuga (ein Auszug aus ihrem Roman ,,Hipodrom“ in der deutschen Übersetzung von Michael Astner) und Frieder Schuller.

Als nächstes wird man auf die Konradwiese/Piața Cluj eingeladen, wo Heinz Acker die Persönlichkeiten nennt, die einst hier gelebt haben, u. a. der Historiker Gustav Seivert, der Volksmunddichter Viktor Kästner, der Senator Friedrich Michael Herbert oder  der Bürgermeister Gustav Kapp. Weiter im Text erinnert Acker sich an die fahrenden Händler, die „mit lautem Rufen auf sich aufmerksam machten. Etwa ‚foarfeci, cuțite, doamnă‘ (Scheren und Messer, liebe Frau). (…) Ähnlich ging es zu, wenn der Glaser erschien und sein ‚ferești, ferești!‘ (Fenster!) durch die Straßen ertönen ließ.“ Die „Zigeunerfrauen, die mit frischen Waldfrüchten durch die Straße zogen“, der bärtige „Kesselzigeuner“, der „umgeben von einer großen Kinderschar vor einem in die Erde gerammten Amboss munter drauflos  hämmerte“, die „Löffelzigeuner“ oder die vor allen gefürchteten Hundefänger blieben Heinz Acker ebenfalls in Erinnerung.

Über die Gärtnergasse/Grădinarilor und deren frühere Bewohner erzählt Jürgen Schlezack, der heute noch genau aufzählen kann, wer wo gewohnt hat.

Der in Hamlesch geborene Germanist, Schriftsteller und Übersetzer Michael Astner ist in Hermannstadt zur Schule gegangen und lernte später die Hermannstädter Schriftstellerin Ricarda Maria Terschak hier kennen, die seine ersten literarischen Schritte begleitete.

Im Kapitel „Alte Straßen“ wird der Lesende auf einen Spaziergang in die Neustift/Movilei (von Kurt H. Binder) und das Laternengässchen/Felinarului (von Horst Samson) eingeladen. „Noble Gassen“ betitelte Dagmar Dusil das Kapitel über die Straßen in der heutigen Gegend der „Drei Eichen Fabrik/Trei Stejari“.

Die großen Kastanienbäume verliehen (und verleihen auch heute noch) der Friedenfelsgasse/Constantin Noica ihren besonderen Charme. Jürgen Schuster hat hier viele Persönlichkeiten der Stadt kennengelernt, u. a. Herrn von Steinburg, Dr. Fabritius, den Fabrikanten Gromen, den Abgeordneten Dr. Hans Otto Roth, Prof. Capesius, Pfarrer Rehner, Helmut Plattner oder Dr. Phleps. Alle Kinder der Gasse spielten zusammen: „Wir waren den ganzen Tag im Freien und mit Spielen beschäftigt, wie Völkerball, Verstecken, Ausrufen, Räuber und Gendarm und noch viele andere Spiele. Mit einem Stoffball, den wir aus alten Lumpen gefertigt hatten, spielten wir Jungen auf der Straße vor unserem Haus Fußball. Die Tore waren unser Gassentor und gegenüber das Lieferantentor des Wachsmannsanatoriums. Nachdem der Straßenverkehr damals ganz unbedeutend war, fanden diese Spiele ohne große Unterbrechungen statt“, erinnert sich Jürgen Schuster.

Das Spielen auf der Gasse weckt in fast allen Autoren schöne Momente ins Gedächtnis, so auch für Monika Reiner, die von einem besonders schneereichen Winter in der Wolfgasse/Lupeni berichtet: „Später als dann die Schneeschmelze einsetzte, kam es durch Temperatureinsturz zur totalen Vereisung der Straße und die ganze Wolfgasse verwandelte sich in eine Eisdecke. Die Holprigkeit dieser Natureisdecke hat uns nicht gestört, Schlittschuh zu laufen. Wegen der Unebenheiten lösten sich oft die angeschraubten Schlittschuhe und auch die Stürze waren nicht ohne.“

Wie es vor 30-40 Jahren in der Ulmengasse aussah, darüber schreibt Bernd Fabritius und kann sich noch heute an den Duft „von Grießknödeln in der Hühnersuppe“ erinnern, wenn er an die Nachbarin Frau Jeleriu denkt, deren Hühner zu jeder Jahreszeit Eier legten.

Allgemein reichen die Erinnerungen der Autoren des Buches von den 1950-er Jahren bis etwa ins Jahr 1990 und bieten ein buntes Bild von Hermannstadt Mitte bis Ende des 20. Jahrhunderts.

Es begleitet den Leser durch die bekannte Ober- und Unterstadt, verweilt jedoch auch in den weniger touristischen Stadtteilen, was gerade den Reiz der Lektüre ausmacht.

Das einzige, was dem heutigen Hermannstädter der jüngeren Generation fehlt, ist ein Verzeichnis der deutschen Straßennamen mit der aktuellen rumänischen Benennung. Vielleicht denkt man bei einer Neuauflage des Buches an das Hinzufügen eines solchen Verzeichnisses, für die bessere Orientierung. „Mit Erinnerungen gepflastert“, herausgegeben von Dagmar Dusil, bietet einen nos-
talgischen Blick in die Vergangenheit, der den Lesenden lange in Erinnerungen schwelgen lässt.

Cynthia PINTER

Veröffentlicht in Aktuelle Ausgabe, Bücher.