Von Bindung und Entwurzelung

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,,Der Kirschgarten“ – erste Premiere des Jahres am Radu Stanca-Nationaltheater

Ausgabe Nr. 2805

Erste Premiere des Jahres am TNRS: Zehn von insgesamt 15 Schauspielerinnen und Schauspieler, die in der ersten Premiere des Jahres am TNRS auftreten, sind auf dem Bild oben zu sehen: Ofelia Popii, Pali Vecsei, Mariana Mihu-Plier, Diana Fufezan, Horia Fedorca, Antonia Dobocan, Ștefan Tunosiu, Ioana Cosma, Ali Deac, Andrei Gîlcescu (v. l. n. r.).                                                                                                                                         Foto: Andrei VĂLEANU

Auf eine leere Theaterbühne blickten die Zuschauer am Freitagabend, dem 10. Februar, zur Premiere des Klassikers „Der Kirschgarten“ von Anton Tschechow an der rumänischen Abteilung des Hermannstädter Radu-Stanca-Nationaltheaters. Kein Stuhl, kein Tisch, keine Kirschblüte – nur die schwarz gestrichene Bühne und der offene Vorhang waren zu sehen. Das von dem Moldauer Regisseur Dumitru Acriș inszenierte Theaterstück ist die erste Premiere des Jahres und wurde mit minutenlangem Stehapplaus beendet. 

 „Um das Risiko einzugehen, auf einer leeren Bühne zu inszenieren, brauchst du Schauspieler, und ich hatte das Glück, Schauspieler zu haben. Am ‚Radu Stanca’ gibt es sehr gute Schauspieler, auf die ihr als Hermannstädter stolz sein solltet. Wenn ich sie mit den Schauspielern vom Moskauer Theater vergleichen müsste, könnte ich keinen Unterschied erkennen“, sagte Dumitru Acriș bei der Pressekonferenz am Mittwoch der Vorwoche vor der Aufführung.

Acriș war zwischen 2012 und 2022 an verschiedenen Moskauer Theatern als Regisseur tätig und hat nun zum ersten Mal in Rumänien inszeniert. Und er sollte Recht behalten, was die leere Bühne angeht: Die zwei Stunden vergingen wie im Flug durch die fantastische Darstellung der insgesamt 15 Schauspielerinnen und Schauspieler des Hermannstädter Theaters. Allen voran die Star-Schauspieler Ofelia Popii und Marius Turdeanu, die in den Rollen der Ljubow Ranjewskaja bzw. des Ermolaj Lopachin glänzten.

Szenenfoto mit Ofelia Popii (Ranewskaja) und Marius Turdeanu (Lopachin). Foto: Andrei VĂLEANU

Die tragische Komödie „Der Kirschgarten” wurde als letztes Stück von Tschechow 1903 vollendet und spielt um die Jahrhundertwende in einer russischen Gesellschaft, die die Leibeigenschaft 1861 überwunden hat und vor weiteren großen Umbrüchen steht.

Zu Beginn des Stücks wartet Lopachin (Marius Turdeanu) gemeinsam mit den Bediensteten auf die Ankunft des Zuges. Die Herrin des Anwesens war vor fünf Jahren mit ihrem Geliebten nach Paris geflohen, nachdem ihr kleiner Sohn damals im nahe gelegenen Fluss ertrunken war. Der Bruder von Ranjewskaja, Gajew (Adrian Matioc), war unfähig, mit Geld umzugehen und genoss das Leben. Auch Ranjewskaja verbraucht ihr Geld in Paris. Eine Rettung könnte der ehemalige Leibeigene der Familie, der Kaufmann Lopachin, bedeuten, der zu einem Vermögen gekommen ist. Er schlägt vor, Datschen auf dem Grundstück zu errichten und sie an Sommergäste zu vermieten. Doch sein Vorschlag wird abgewiesen. Am Ende ersteigert Lopachin das Grundstück samt Kirschgarten und die Gutsbesitzerin zieht zurück nach Paris.

Die Inszenierung am Hermannstädter Theater wirkt eher wie eine Tragödie als eine Komödie. Es ist klassisches Theater mit sehr vielen dramatisch wirkenden Dialogen in einer wunderbaren Ensemble-Leistung, die vom Publikum genossen wurde. Vor allem die schauspielerische Leistung von Ofelia Popii (Ranewskaja), Marius Turdeanu (Lopachin), Adrian Matioc (Gajew), Diana Fufezan (Adoptivtochter Warja) und Horia Fedorca (ewiger Student Trofimov) werden besonders stark in Erinnerung bleiben.

„Der Kirschgarten“ erinnert an die Kindheit, mit ihren Freuden, aber auch mit den stärksten Traumata. In dieser Lobrede auf die Zerbrechlichkeit des Lebens begegnen sich die Figuren, trennen sich, lieben und leiden, stürzen sich in einen Generationenkampf, ohne die drohende Gefahr des geistigen Verfalls zu ahnen. Doch dieser Kampf ist oberflächlich. Letztendlich fliehen sie alle vor den Problemen des Alltags, vor der Realität, die sie nicht ändern können, und vor der ständigen Angst vor dem Tod. Bald werden sie feststellen, dass nichts schmerzhafter ist als die Wahrheit über eine unbekannte Zukunft.

„Der Kirschgarten ist ein Alarmsignal, das den Mangel an echtem Dialog anprangert, die Unfähigkeit der Menschen, einander zu verstehen und tiefe Verbindungen zu schaffen. Aber vielleicht am wichtigsten ist, dass ‚Der Kirschgarten’ eine Aufführung über menschliche Bindungen und Entwurzelung ist, die heute, hier und jetzt, in einer Welt stattfindet, die von der drohenden Gefahr des Verlusts der Liebe bedroht ist“, so Regisseur Dumitru Acriș.

Das Stück wird diesen Monat am Sonntag, dem 26. Februar, um 17 Uhr, wieder gespielt. Karten können online auf www.tnrs.ro oder in der Theateragentur (Heltauergasse/str. Nicolae Bălcescu 17) bestellt werden.

Cynthia PINTER

Veröffentlicht in Aktuelle Ausgabe, Theater.