In Agnetheln fand am Sonntag der traditionelle Urzellauf statt
Ausgabe Nr. 2803
„Hirreii! Hirreii!“ Dazu Peitschenknall und läutende Kuhglocken. In Agnetheln sind die Urzeln unterwegs. Bereits von weitem kann man die große Menschentraube sehen und vor allem hören. Rund 300 Urzeln haben sich in diesem Jahr in ihre auffälligen Kostüme – Anzüge mit schwarzen Zotteln und bunt bemalten Masken – geworfen. Wir parken unser Auto in einer Seitenstraße und stellen uns zu den unzähligen Schaulustigen und Reportern, die den traditionellen Urzellauf – wie wir – nicht verpassen wollen. Punkt zehn Uhr geht es los. Die Menschentraube setzt sich lautstark in Bewegung und formiert sich für die Parade.
Für mich ist es das erste Mal, dass ich den Urzellauf erlebe. Ich komme aus Deutschland und bin zurzeit lediglich für ein Praktikum in Hermannstadt, in der Redaktion der Hermannstädter Zeitung, zu Besuch. Meine Eltern studierten und lebten aber viele Jahre in Köln – der Karnevalshochburg Deutschlands. Und so sind mir Umzüge und Paraden in Kostümen zumindest nicht ganz fremd, obwohl man sie in meiner Heimat, dem Norden Deutschlands, eher selten feiert. Der Urzellauf unterscheidet sich aber doch ziemlich von den Umzügen des Kölner Karnevals.
Nun setzen sich auch die Zuschauer am Straßenrand in Bewegung und verfolgen die Urzeln bei ihrem Marsch durch den Ort. Doch nicht nur Urzeln sind Teil der Parade. Traditionell gehören auch der Paradehauptmann mit seinen zwei Engelchen (als Vertreter der Schusterzunft), das tanzende Schneiderrösschen mit dem Mummerl (Schneiderzunft), die beiden Reifenschwinger (Fassbinderzunft), der Bär und der Bärentreiber (Kürschnerzunft), der große Kranz mit den ausgestopften Füchsen und Mardern, das Pferdchen auf einer Lade, auf dem ein Kind sitzt (Riemenmacher) sowie eine Blaskapelle dazu.
Beim ersten Zwischenstopp vor dem Dacia-Hotel werden einige von ihnen unter musikalischer Begleitung vorgestellt. Den Start machen das tanzende Schneiderrösschen mit dem Mummerl. Danach kommen der Bär mit Treiber und die Reifenschwinger. Applaus bekommen sie dabei vor allem von den unzähligen Urzeln, die mit ihren Peitschen knallen und die Kuhglocken am Kostüm läuten lassen. Nichts für Menschen mit schwachen Ohren, denke ich. Ich stelle mich auf einen Pfeiler am Wegrand, um besser sehen zu können. Wenig später setzt sich die Parade abermals in Richtung Rathaus in Bewegung.
Nach einer erneuten Vorstellung der Zünfte richten Bürgermeister Alin-Ciprian Schiau-Gull und Zunftmeister Bogdan Pătru Grußworte an die Urzeln und an alle Zuschauer. Ich verstehe leider nichts, weil die Reden auf rumänisch gehalten werden. Später erfahre ich aber, dass sie sich bei allen Teilnehmenden und Mitwirkenden bedankt und den Stolz über diese Tradition zum Ausdruck gebracht haben. „Hirrei! Hirrei!“ Peitschenknall und Geläute. Blasmusik und Gesang.
Der letzte Halt des Umzugs findet einige hundert Meter weiter statt. Erneute Vorstellung der Zünfte. Erneut fliegen die Peitschen durch die Luft. Ich frage mich, ob sich dabei schon einmal jemand verletzt hat. Nun löst sich die Parade auf. Die Urzeln suchen ihre Verwandten und Freunde in den Reihen der Zuschauer und machen Fotos. Auch ich mache einige Fotos – die Teilnehmenden präsentieren stolz ihre Kostüme. Einige von ihnen sprechen Deutsch, die meisten aber Rumänisch.
Nun geht es für uns in die Neugasse. Heide Göddert hat eingeladen. Die 50-Jährige ist in Agnetheln aufgewachsen und als Kind selbst bei den Urzeln mitgelaufen, erzählt sie. Nun soll ihr Elternhaus nach altem Brauch von Urzeln gesegnet und wieder eröffnet werden. Das Haus stand 30 Jahre leer und wird dem Urzel-Verein nun für einige Jahre als Unterkunft und Lagerstätte dienen, ehe Göddert eine Ferienpension daraus machen will. Aktuell findet man dort eine kleine Ausstellung über den Urzelbrauch. Wieder knallen die Peitschen. Sie sind über die Nachbarschaft hinaus zu hören.
Nach einer Ansprache Gödderts wird das Haus von einem der Urzeln gesegnet: „Wir wünschen Glück in diesem Haus, /Wir treiben mit Schelle und Peitsche /Die Sorgen und den Ärger aus./Unsere Lieder und Witze kann jeder hören. /Und dass wir Euch besuchen kommen, /Beweist, dass wir Euch ehren.“
Anschließend werden einige Lieder – darunter Siebenbürgenlied – angestimmt. Die Anwesenden schunkeln im Takt. Es gibt Krapfen, Kuchen, belegte Brote, Schnaps und Glühwein. Schmeckt wunderbar.
Besonders der Glühwein tut gut, da mir trotz warmer Jacke und dicken Schuhen nach knapp vier Stunden doch ziemlich kalt wurde. Mehr als 100 Urzeln werden im Laufe des Tages in die Neugasse kommen, um das Haus zu segnen. „Das ist eine Vision, die für mich wahr wird“, sagt Heide Göddert sichtlich gerührt.
Auch ich bin stolz, dass ich bei so einer Tradition dabei sein durfte. Abschließend machen die etwa 40 Urzeln der ersten Besuchergruppe ein Gruppenbild im Garten des Hauses. Mit dabei sind Jung und Alt, Männer und Frauen, Mädchen und Jungen. Ihr Gemeinschaftsgefühl steckt an. „Hirrei! Hirrei!“ Mit knallenden Peitschen ziehen sie weiter durch die Stadt, in der sie heute das Sagen haben.
Hannah WEIDEN
Urzelkrapfen nach einem Rezept von Heide Göddert
Zutaten:
1 kg Mehl
400 ml Milch
5 Eier
60 g Zucker
60 g Hefe
12 EL zerlassene Butter
2 EL Rum
1.5 TL Salz
Zubereitung:
Die Zutaten mischen, bis ein weicher Teig entstanden ist
Den Teig eine halbe Stunde lang an einem warmen Ort gehen lassen und dann daumendick ausrollen
Die Krapfen mit einem Glas schneiden
Weitere 15 Minuten gehen lassen
Die Krapfen in Öl frittieren, bis sie einen weißen Ring haben
Zum Schluss mit Puderzucker bestreuen