100 Jahre Brukenthalchor / Von Prof. Heinz ACKER
Ausgabe Nr. 2793
2022 sind es 100 Jahre seit der Gründung des Brukenthalchores, des legendären Hermannstädter Knabenchores, durch Franz Xaver Dressler. 1922 war der junge Hitzkopf Franz Xaver Dressler auf Anraten seines Leipziger Lehrers Karl Straube als Stadtkantor nach Hermannstadt gekommen, gelockt auch durch die neue prächtige Sauer-Orgel, die Straube am 26. Februar 1916 mit einem Konzert eingeweiht hatte, nachdem sie schon an Weihnachten 1915 hier aufgestellt worden war. Es sollte ein Probejahr werden und wurde zur Lebensaufgabe für den unbeugsamen Meister, der hier im Südosten Europas die Musik des Thomaskantors und die Großwerke der abendländischen Musica Sacra heimisch zu machen gedachte. Das ist ihm in 56 Jahren unermüdlichen Einsatzes in höchstem Maße gelungen, dies auch in Zeiten widrigster sozial-politischer Umstände. Aus Leipzig, der Hochburg der Bachmusik kommend, war es seine erste Tat, sich ein Instrument für die Pflege der Bachmusik zu kreieren, einen Knabenchor nach dem Vorbild der Leipziger Thomaner. Bei der Vielseitigkeit dieses Allroundmusikers als Orgelvirtuose, Chorleiter, Komponist und Pädagoge sollte dieser Chor zu seinem erklärten „Lieblingskind“ werden. Über ein Viertel Jahrhundert hat er diesen Chor zu höchsten künstlerischen Höhen geführt, europaweit bewundert als „Siebenbürger Thomaner“. Das kommunistische Regime sollte ihm mit seiner Schulreform 1948 ein jähes Ende bereiten.
Franz Xaver Dressler (1898-1981) entstammte einer katholischen Musikerfamilie aus dem böhmischen Aussig, doch das Studium an dem renommierten Leipziger Musikkonservatorium, bei Karl Straube (1873-1950) und Max Reger (1873-1916), erschließt ihm die protestantische Kirchenmusik des berühmten Thomaskantors, der er sich fortan mit ganzem Herzen verschreibt. Als neuer Stadtkantor von Hermannstadt obliegt ihm auch der Musikunterricht an der Brukenthalschule, dem traditionsreichen Knabengymnasium der Stadt. Der Auftrag des kirchlichen Trägers lautet, die Schüler im Chorgesang zu unterrichten und zu öffentlichen [kirchlichen] Aufführungen heranzuziehen.
Als Dressler im Januar 1922 seinen Dienst antritt, findet er einen völlig verwahrlosten Musikunterricht vor. Mit jugendlichem Enthusiasmus nimmt sich der Vierundzwanzigjährige dieser Aufgabe an. Sein Ziel: der Musik Bachs hier eine Heimstätte zu schaffen, das Mittel dazu: ein Knabenchor nach dem Vorbild der Thomaner.
Auch die Arbeitsweise die-ses berühmten Vorbilds wird übernommen. Die strenge Eignungsprüfung wird von Dressler persönlich durchgeführt. Die Auserwählten sind vom Musikunterricht befreit, aber zu drei regulären Chorproben pro Woche verpflichtet, wie auch zur obligatorischen Präsenz bei allen Kirchenmusiken. Der Meister ist unerbittlich, verlangt von seinen Zöglingen strengste Disziplin, Pünktlichkeit und Gehorsam. Zuwiderhandelnde werden mit wütenden Blicken, zielsicherem Kreide- und Schlüsselbundwurf bestraft. Und dennoch gestalten sich die Chorproben zu den beglückendsten Erlebnissen der jungen Chorknaben, von denen sie ein Leben lang schwärmen werden, denn der Dirigent versteht es, die jungen Sänger mit eisernem Willen und dämonischem Fleiß, mit hinreißender Musikalität aber auch mit Herzenswärme und viel Verständnis in die Wunderwelt der großen Tonkunst einzuführen. Bereits im Dezember 1922 präsentiert Dressler den neuen Chor, der sich zunächst „Elitechor“, dann „Madrigalchor“ und schließlich „Brukenthalchor“ nennt. In der dichtgefüllten, tannengeschmückten Kirche erklingt vor einem erwartungsvollen Publikum zum ersten Mal eine Motette, nach dem Vorbild der Leipziger Weihnachtsmotetten. Der Erfolg ist durchschlagend und die Presse anerkennt bereits „wesentliche Tugenden“ des Leipziger Vorbildchores. Von da an wird dieses Motettenprogramm zur alljährlichen beliebten Weihnachtstradition des Hermannstädter Musiklebens werden. Von seinem Lehrer Straube übernimmt Dressler auch die Praxis der wöchentlichen Motettenabende, als Bestandteil der Kirchenmusik.
Ab Februar 1923 begründet Dressler eine langwährende Tradition, die beliebten Samstag-Abend-Motetten, die jeweils 19 Uhr beginnen und mit Glockenklang eingeleitet werden. In den ersten 10 Jahren sind es bereits 103 Motetten und 250 Kirchenmusiken, die die Sängerknaben bestreiten. Das Repertoire, das der Meister auflegt, ist vielgestaltig, beginnend mit den kunstvoll polyphonen a-cappella-Gesängen der alten Meister eines Giovanni Pierluigi da Palestrina oder Orlando di Lasso, über die bedeutenden evangelischen Kirchenmusiken eines Heinrich Schütz, Johann Hermann Schein oder Dieterich Buxtehude bis hin zu den Meisterwerken Johann Sebastian Bachs.
Aber auch die hohen Herausforderungen der bis zu achtstimmigen Bach‘schen Motetten werden von Dresslers Chorknaben anscheinend mühelos gemeistert. Auch weltliche Werke finden sich in den Programmen der Brukenthaler mit Kompositionen von Josef Haydn und Ludwig van Beethoven, Franz Schubert, Felix Mendelssohn und Johannes Brahms, Edvard Grieg, Anton Bruckner, Hugo Wolf oder Max Reger u. v. a, wie auch siebenbürgische Autoren. Der Chor unternimmt nun jährlich ausgedehnte Konzertfahrten zunächst durch ganz Siebenbürgen, auch in Ortschaften mit rumänischer oder ungarischer Bevölkerung, dann auch durch das Banat, die Bukowina und durch Süd- und Ostrumänien. Allenthalben wird die Prägnanz und Klarheit, die Akkuratesse der Ausführung und der bezaubernde sphärische Klang dieses Knabenchores überschwänglich gelobt. Rezensionen sprechen von den silberhellen, glockenreinen Sopranen und einem überirdisch anmutenden Kolorit des Chores. So erschließt sich der Chor allmählich einen überkonfessionellen und multiethnischen Zuhörerkreis mit großer Breitenwirkung. Der Auftritt in Bukarest 1931 wird zu einem triumphalen Erfolg mit einem Auftritt im Sender Radio Bukarest, als erste Übertragung eines deutschen Chores.
Die internationale Bühne betritt der Chor 1934 mit seiner Konzert-
reise durch Deutschland. Im Programm steht geistliche und weltliche Chormusik deutscher und siebenbürgischer Komponisten, u. a. von Johann Leopold Bella (Jan Levoslav Bella, 1843-1936), Rudolf Lassel (1861-1918), Hermann Kirchner (1861-1928), Johann Lukas Hedwig (1802-1849) und Franz Xaver Dressler. Vom 3. August bis 9. September treten 60 Chorknaben in 18 Großstädten vom Süden bis in den Norden Deutschlands mit bravourösem Erfolg auf.
Schon das Erscheinungsbild der Knaben in ihren schmucken siebenbürgisch-sächsischen Volkstrachten besticht. Der Gesang aber weckt höchste Anerkennung. „Schon nach den ersten Takten wird offenbar, dass man es hier mit einem Chor von höchster musikalischer Qualität zu tun hat…Leistungen, die dem großen Vorbild der Leipziger Thomaner kaum noch nachstehen…“, so beginnt das Merseburger Tageblatt seinen enthusiastischen Bericht. Die Tübinger Chronik (4. September 1934) vermerkt: „Man weiß nicht, was man mehr bestaunen soll, die fabelhafte Sicherheit (…) oder der herbe, keusche, so eigenartig süße Klang der Stimmen, ein bestrickender Zauber…“. Höhepunkte der Tournee: das Zusammentreffen mit dem Dresdner Kreuzchor und den Leipziger Thomanern und die gemeinsame Kranzniederlegung an der Grabstätte Bachs, der Rundfunkauftritt in Berlin und in der Wochenschau, die Schallplattenaufnahme der Firma Electrola mit siebenbürgischem Repertoire („Et såß e klīn wäld Vijelchen“ und „Ech gōn af de Bräck“ in Dresslers Bearbeitung und dem Trutzlied „Sachs halte Wacht“).
Wieder in Hermannstadt demonstriert der Chor die Schätze seines Könnens in einem Kirchenkonzert am 15. September 1934. Die rumänische Regierung aber, damals Mitglied der „Kleinen Entente“, missbilligt den Schulterschluss des Chores mit Deutschland und droht Dressler mit einem Disziplinarverfahren. Doch es sollte noch schlimmer kommen.
In der Nazizeit gelingt Dressler der Balance-Akt zwischen den Anforderungen eines Kirchenchores und den Forderungen der um sich greifenden NS-Ideologie. Der Chor wird zum „Fähnlein Brukenthal, Chorknaben der deutschen Volksgruppe Rumänien“ ernannt und muss in seinem Repertoire auch Zugeständnisse an die Weisungen der Volksgruppenführung machen. Die Motettenabende aber bleiben bestehen.
Der Frontwechsel Rumäniens im August 1944 bringt auch das Kulturleben der Siebenbürger Sachsen in Existenznöte. Der Brukenthalchor wird aus dem historischen Schulgebäude exiliert und weicht zunächst in die Ferula der Stadtpfarrkirche, dann in die Johanniskirche aus. Im März 1946 gelingt es Dressler immerhin noch, mit dem Chor ein Bachfest zu organisieren. Der Todesstoß wird dem Chor mit der Schulreform von 1948 versetzt. Die neue atheistische Politik sieht eine Trennung von Kirche und Staat vor, womit die Aufgabe des Kirchenchores besiegelt ist. Mit der Weihnachtsmotette vom 23. Dezember 1948 tritt der Chor ein letztes Mal vor sein tiefbewegtes Publikum. Damit ging ein strahlendes Kapitel deutscher Kultur im Südosten Europas zu Ende.
In den 70-er Jahren sollte es zu einer Spätblüte des Chorgesangs an der Brukenthalschule kommen. Kurt Martin Scheiner gründete hier 1970 einen Kammerchor, der sich auch nach Brukenthal benannte (Madrigalchor Samuel Brukenthal), der freilich kein Knabenchor mehr war und auch kein Kirchenchor, aber sich ebenfalls der klassischen Chormusik erfolgreich zuwendete. Er wurde ein Opfer der Auswanderungswelle der 80-er Jahre.
Sein selbstgestelltes Ziel der Bachpflege hat Dressler in den Nachkriegsjahren nur noch mit dem Bachchor verfolgen können, ein Chor, den er sich 1931 als zweites künstlerisches Standbein geschaffen hatte. Mit welchen Schwierigkeiten der zweimal inhaftierte, aber unbeugsame Dirigent in den Jahren kommunistischer Diktatur zu kämpfen hatte, ist eine eigene Geschichte. Mit der Aufführung von Mozarts Requiem durch den Hermannstädter Bachchor trat der 80-Jährige 1978 schließlich von der Bühne siebenbürgischen Kulturgeschehens ab, das er über ein halbes Jahrhundert so entscheidend mitgeprägt hatte. Dressler verstirbt hochgeehrt 1981 in Freiburg im Breisgau.
Sein „liebstes Kind“, der Brukenthalchor, ist Geschichte geworden, der Bachchor aber, Dresslers zweite Schöpfung, hat alle Widrigkeiten der Zeitläufte überlebt. Nach Dresslers Fortgang war es das Ehepaar Kurt und Ursula Philippi und dann das Musikerpaar Brita Falch-Leutert und Jürg Leutert, die Dresslers Werk erfolgreich fortführten bzw. fortführen und dem Chor als überkonfessionelle Singgemeinschaft eine neue zukunftsfähige Ausrichtung gaben.