,,Ich glaube an die Macht der Bildung“

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Gespräch mit dem Schriftsteller und Theatermann Eric-Emmanuel Schmitt

Ausgabe Nr. 2780

Éric-Emmanuel Schmitt (rechts) im Gespräch mit Christel Ungar-Țopescu am 25. Juni im Innenhof des Rathauses am Großen Ring in Hermannstadt.                                     Foto: Beatrice UNGAR

Der Schriftsteller und Theatermann Éric-Emmanuel Schmitt  gehörte zu den sechs Persönlichkeiten, die bei der 29. Auflage des Hermannstädter Internationalen Theaterfestivals mit einem Stern auf der Ruhmesmeile an der Oberen Promenade geehrt wurden. Lesen Sie im Folgenden das Interview, das Schmitt der TV-Journalistin und -Moderatorin  Christel Ungar-Țopescu für die deutsche Sendung auf TVR 1 gewährt hat.

Was ist eigentlich die Motivation zum Schreiben und zum Theaterspielen für Sie?

Ich glaube, es ist für mich unmöglich, diese Frage zu beantworten. Es ist so, als würde man einen Apfelbaum fragen, warum er Äpfel trägt. Ich glaube, dass es für mich ganz natürlich ist, Geschichten zu schreiben und zu erzählen. Ich glaube, dass ich dafür geschaffen bin. Und es ist auch meine Art, andere zu erreichen, meine Art, auf intimste Weise mit dem Anderen zu kommunizieren.

Sie haben einmal gesagt, dass die Gestalten in Ihren Romanen zu Ihnen kommen. Leben Sie dann mit ihnen in der Zeit bis der Roman fertig geschrieben ist?

Ich bin wie ein Baum, auf dem Vögel landen. Die Vögel sind Ideen für Bücher, Romane… Woher kommen die Vögel? Das weiß niemand. Manche Vögel verweilen ein paar Sekunden auf mir, sie sind Ideen für Andere. Und anderen Vögeln baue ich ein Nest, das ist ein Buch, das ich schreiben muss. Und so habe ich das Gefühl, dass ich gehorche, dass ich kein Schöpfer bin, sondern ein Schreiber, der den Geschichten in mir gehorcht und sie in die Welt bringen muss. Ich habe das Gefühl, dass ich ein Leben im Dienste der Figuren und Ideen führe. Und ich habe ständig Angst, dass ich nicht fähig bin, dass ich die Dinge nicht richtig mache. Also bin ich immer sehr konzentriert, ich arbeite in der Stille, ich arbeite wenn möglich bei Tageslicht, mein Büro befindet sich ganz oben im Haus, es ist ein Atelier wie für einen Maler, ganz weiß gestrichen. Ich muss auf einem weißen Blatt und in der Stille wohnen. Dann kommen die Figuren zu Besuch und die Geschichten werden geschrieben.

Sie haben auch gesagt, das müsste auch eigentlich weh tun manchmal. Und wenn Sie mit solchen Gestalten leben, die böse Gestalten sind, wie z. B. mit Hitler, wie geht das?

Ich habe immer Leute gehasst, die über Hitler schreiben und sagen, dass Hitler der Andere ist, dass er nichts mit uns zu tun hat. Die Österreicher sagen, dass er ein Deutscher war, die Deutschen sagen, dass er ein Österreicher war, die Franzosen sagen, dass er ein Deutsch-Österreicher war. Es geht immer um den Anderen. Meiner Meinung nach stehen die Dinge anders. Wir alle tragen das Zeug in uns, um einen Nazi, einen Barbaren, einen Hitler zu produzieren. Wir lehnen einfach die Komplexität der Ursachen ab und stattdessen benennen wir lieber einen Sündenbock. So kommt ein Hitler zustande. Wenn man denkt, dass man immer Recht hat, wird man zu einem Hitler. Wenn man außerordentlich selbstbewusst ist und glaubt, dass alles, was man sagt, richtig und im Sinne der Geschichte ist, dann „macht“ man Hitler. Als ich über Hitler schrieb, ging es mir also darum, zu zeigen, dass das Monster nicht der Andere ist. Das Monster kann ich sein, das Monster könnt ihr sein. Man muss darauf achten, das Monster in seinem Käfig zu halten. Wir sind alle für das Monster verantwortlich, das wir eventuell in uns tragen. Und wir dürfen uns nicht damit freisprechen, dass das Monster der Andere war.

Kann man das durch Selbstdisziplin tun?

Seit ich dieses Buch über Hitler geschrieben habe, bin ich sehr diszipliniert mit mir selbst. Das heißt, ich passe immer auf, ich beobachte mich selbst, ich bin sehr wachsam. Ich habe Angst, etwas zu tun, zu denken oder zu sagen, was in diese Richtung [eines Hitler] geht. Ich bin viel verantwortungsbewusster.

Also könnte man sich entscheiden, ob man gut ist, oder böse?

Ich glaube, dass jeder Mensch zum Schlimmsten und zum Besten fähig ist und dass jeder Mensch in einen historischen Rahmen gestellt wird. Wir sind nicht für die Umstände verantwortlich, aber wir sind für unsere Entscheidungen im Rahmen dieser Umstände verantwortlich. Daher glaube ich, dass derselbe Mensch mit derselben Menge an Gutem und Bösen durch innere Disziplin und Werte in der Lage ist, sich eher auf die Seite des Guten oder eher auf die Seite des Bösen zu stellen. Ich glaube wirklich an die Macht des „Ichs“ und der Freiheit, diese Dinge zu beeinflussen. Aber für mich gibt es keine „schlechten“ und „bösen“ Persönlichkeiten, leider sind wir alle gut oder böse zugleich. Wir können Jahre damit verbringen, das Gute zu tun, und in einer Sekunde das Schlimmste tun. Wie wir durch das Leben gehen, ist eine fragile Sache. Ich habe immer Angst davor, dass ich versuche, das Richtige zu tun, aber zwangsläufig das Falsche tue, und ich kann ein ganzes Leben voller korrekter Handlungen durch eine übermäßig unkorrekte – unbeabsichtigte – Handlung zerstören. Das Dasein eines verantwortungsbewussten Menschen ist kein ruhiger Fluss.

Wir sind derzeit in einem Krieg: tut es weh? Macht es Sie traurig? Nimmt es Ihnen die Hoffnung?

Ich habe einen Blick auf die Geschichte, der mich glauben lässt, dass der Krieg die Normalität ist und der Frieden die Ausnahme. Frieden ist leider nur das Intervall zwischen zwei Kriegen. Ich glaube, wir sind gerade aus einem jahrzehntelangen Schlaf erwacht, in dem wir dachten, dass dies das Ende der Geschichte sei. Wir dachten, dass wir in eine Welt eingetreten sind, die den Frieden sucht und sichert, die Instanzen hat, die es ermöglichen, diesen Frieden zu sichern. Und wir stellen fest, dass dies natürlich nicht der Fall ist. Und wir stehen vor dem, was in der Geschichte immer passiert ist, nämlich dem Aufeinandertreffen zweier Fiktionen: einer russischen Fiktion und einer westlichen Fiktion, und die beiden Fiktionen funktionieren nicht zusammen. Deshalb glaube ich, dass die Rettung natürlich die Waffen sein können, aber vor allem die größte Rettung ist die Philosophie, die es uns vielleicht ermöglicht, zu verstehen, warum wir diese Fiktionen erschaffen und wie diese Fiktionen sein könnten. Und dass es Fiktionen geben könnte, die uns eher zusammenbringen würden, als Fiktionen, die uns gegeneinander aufhetzen.

Wie kann man die Menschen soweit bringen, dass sie sich gegenseitig verstehen?

Die Antwort ist sehr einfach: Ich glaube an die Macht der Bildung, ich glaube an die Macht der Erziehung, ich glaube an die Macht des Erlernens von Geschichte und Philosophie. Aber diese Prioritäten wählt man nie. Die Priorität ist die Wirtschaft, die Priorität ist möglicherweise der Machterhalt. Und diese Tatsache ist fatal. Ich glaube wirklich, dass wir die Lösungen haben, aber diese nie umgesetzt haben.

Und wenn uns die Realität nicht gefällt, dann ziehen wir uns in die Fiktion zurück?

Ich glaube, dass es zwei Arten von Fiktionen gibt. Es gibt eine Fiktion, die die Realität verarmen lässt. Das sind die ideologischen Fiktionen. Die Fiktionen, die oft von Machthabern für ihr Volk und durch Propaganda in den Vordergrund gestellt werden. Dann gibt es Fiktionen, die uns im Gegenteil die Pluralität der Welt vor Augen halten. Diese lassen uns verstehen, wie verschieden wir sind, und erlauben uns vielleicht, gemeinsam verschieden zu sein. Ich glaube also, dass Literatur die breite, vielfältige, pluralistische Fiktion ist, die es uns vielleicht ermöglicht, zusammenzuleben, und dass Ideologie die geschlossene, blinde Fiktion ist, die nur zur Konfrontation führt.

Wer ist Ihr Lieblingsschriftsteller?

Mein Lieblingsschriftsteller ist Diderot, ein Philosoph aus dem 18. Jahrhundert, weil er mein Lehrer in Sachen Freiheit ist. Ich denke nicht wie er, ich bin kein Materialist wie er, ich habe nicht die gleiche politische Philosophie wie er. Aber er hat mich die Freiheit gelehrt, sowie selbstständig zu denken, sich zu trauen… Nicht immer guten Geschmack, auch schlechten Geschmack zu haben, eine erhabene Bemerkung zu machen und im Anschluss eine völlig triviale Bemerkung fallen zu lassen. Das ist das Leben selbst, und es ist der Mensch, der keine Gewissheit hat, es ist der Mensch des Fragens, und ich hoffe, dass ich immer ein Mensch des Fragens sein werde.

Herzlichen Dank.

Veröffentlicht in Aktuelle Ausgabe, Persönlichkeiten.