Streiflichter von dem 29. Internationalen Hermannstädter Theaterfestival
Ausgabe Nr. 2777

Ballett in schwindelerregender Höhe: Die Ergebnisse der Zusammenarbeit zwischen den Künstlerinnen der „Aerial Strada”, Regie Roberto Strada Walemberg und der Hermannstädter Staatsphilharmonie, unter der Leitung von Cristian Lupeș waren am Sonntag Nachmittag und Abend auf dem Großen Ring zu bewundern. Foto: Nicolae GLIGOR
Durchschnittlich 85.000 Zuschauer pro Tag meldeten die Organisatoren des 29. Internationalen Hermannstädter Theaterfestivals vom Radu-Stanca-Nationaltheater. Unter dem Motto „Schönheit“ haben rund 800 Events stattgefunden, an rund 80 Spielorten, bei denen über 3.500 Teilnehmer dabei waren und somit war das bisher die größte Auflage des Festivals, ein sehr gutes Comeback nach zwei Jahren Pandemie. Traditionell begleiteten Regenschauer und Gewitter auch diese Auflage des Festivals, besonders an den beiden Wochenenden, so dass einige Straßenshows und Konzerte verlegt oder abgesagt wurden.
Zu spüren war auch die noch immer grassierende Pandemie, denn gegen Ende des Festivals wurden „aus Krankheitsgründen“ einige Stücke abgesagt bzw. einige Darstellerinnen und Darsteller mussten kurzerhand ersetzt werden. Auch das Problem der Flüge (nicht nur) in Europa machte den Organisatoren zu schaffen, denn hie und da kamen mal die Schauspieler, mal ihre Requisiten nicht rechtzeitig oder überhaupt nicht an. Das merkte man alles als Zuschauer aber nicht, denn die Organisatoren ließen keine geplanten Austragungsorte unbespielt und stellten das Programm entsprechend um.

Dieses Jahr wurden sechs Sterne auf der Ruhmesmeile im Harteneckpark vergeben (v. l. n. r.): an Sasha Waltz (vertreten durch Joachim Umlauf vom Goethe Institut Bukarest), den Cellisten Götz Teutsch, den Regisseur Claus Peymann, den Regisseur Krzysztof Warlikowski, den Autor und Regisseur Éric-Emmanuel Schmitt (vertreten durch I. E. Frankreichs Botschafterin) und den verstorbenen Schauspieler und Theaterdirektor Ion Caramitru (vertreten durch seine Söhne Matei und Andrei Caramitru). Foto: Sebastian MARCOVICI
Besonders spannend war es abends in der Fußgängerzone von der Heltauergasse bis zum Großen Ring, denn da hatte man wirklich überall etwas zu sehen. Zum Beispiel war am Anfang der Fußgängerzone ein sechs Meter hohes Skelett der spanischen Company Efimer, dass sich auf einen makabren Tanz vorbereitete und in dicken Rauchwolken losging und das Publikum – besonders die jüngere Generation – zum Tanzen aufforderte. Zur Mitte der Fußgängerzone hin waren dann mit einem „Triptik Shakespeare“ in der Regie von Mihai Mălaimare die Theaterstudierenden aus Craiova zu sehen, die Shakespeares berühmteste Charaktere verkörperten und kleine Szenen nur durch Bewegung vorspielten. Kostüme und Makeup schimmerten bläulich-metallisch und waren besonders schön anzusehen. Dann kam man paar Schritte weiter, denn auf dem Großen Ring wimmelte es von fantastischen Gestalten: mal riesige Blumen der deutschen Company Oakleaf, mal genauso große weiße Schwäne der Italiener von Teatro per Caso, mal Karneval-Tänzerinnen der Batucada de Murcia & Carnival Group de Alicante aus Spanien, für welche die typische Karneval-Hitze draußen wie bestellt war.

Die Karneval-Tänzerinnen der Batucada de Murcia & Carnival Group de Alicante aus Spanien. Foto: Dragos DUMITRU
Als Ausgleich zu der großen Freude draußen gab es in den Sälen einige dramatische Stücke, die nicht zu verpassen waren. Eines davon war „Toată liniștea din lume“ (Die ganze Stille der Welt) der Theatergesellschaft ADO & Replika, Regie Radu Apostol. Das Stück begann mit einer Warnung, dass man mitten im Stück nicht einfach aufstehen und gehen kann, was prompt zu einer Schlange bei der Toilette führte. Das war allerdings auch kein Stück, wo man weggehen wollte, trotzt eines Themas, das fast unerträglich ist: Eine alleinstehende Mutter fällt den Entschluss, einem ihrer beiden Söhne einen würdevollen Tod zu schenken, denn der 16jährige Sohn ist schwer autistisch. Mihaela Michailovs und Radu Apostols Text wurde von der sehr talentierten Schauspielerin Katia Pascariu alleine gespielt. Die krebskranke Mutter – allerdings mit guten Genesungschancen, wie sie später erzählt – weckt ihre beiden Söhne (14 und 16) auf und macht sich mit dem Ältesten auf dem Weg zum Flughafen, zur „Behandlung“. Der Jüngste, der auch weiß, was passieren wird, darf nicht mit. Um den beißenden und immer wieder aggressiven Sohn zu besänftigen, rezitiert sie eine Mantra mit den Gesten, die an diesem Tag durchgeführt werden: aufstehen, anziehen, waschen, Frühstück, Joghurt, Treppe… Dabei erzählt sie auch von ihrer alten, ebenfalls unheilbar kranken Hündin, die sie einschläfern lassen musste und deren Halsband sie zusammen mit dem schönsten Anzug ihres Sohnes mitgenommen hatte. Nach und nach verstand auch das Publikum, was sich hinter dem Wort „Behandlung“ versteckte und wollte es doch nicht glauben, obwohl es mit einbezogen wurde: Die Zuschauer hielten am Anfang die lange Kette, mit dem der Junge im Auto angekettet werden musste, um dann in der letzten Szene die Schläuche zu halten, durch welche die Schlafmittel und Giftstoffe zugeführt wurden.

Flamenco-Tänze vom Feinsten boten der Katalane Jésus Carmona (Bildmitte) und seine Dance Company. Foto: Sebastian MARCOVICI
Witzig und dramatisch zugleich war das Stück „Cel mai bun copil din lume” (Das beste Kind der Welt) des Nationaltheaters I. L. Caragiale aus Bukarest, in dem die Schauspielerin Alina Șerban in eigener Regie ihre eigene Lebensgeschichte erzählt. Das Romamädchen wächst in einer Romagemeinde auf und versteht in den ersten Lebensjahren nicht, warum sie von Kindergärtnerin und Lehrern anders behandelt wird, das Wort Rassismus lernt es erst nach und nach. Dabei kleidet sie sich „normal“ und versucht, ein „normales“ Leben zu führen, auch wenn sie hie und da ein heißes Bad vermisst. Dabei erzählt sie teils witzig und nicht dramatisch über ihre erste Liebe, über ihr Leben mit dem Vater, nachdem die Mutter für zehn Jahre ins Gefängnis muss und ihr Leben im Heim, nachdem der Vater stirbt. Die Schauspielerin muss gar nicht dramatisch erzählen, ihr Leben ist dramatisch genug: Trotz all der Normalität und sehr guten Ergebnissen – u. a. Deutscher Filmpreis 2020 für ihre Rolle in ,,Gipsy Queen“, sind Rassismus und Diskriminierung weiterhin Teil ihres Alltags.
Die deutsche Abteilung des Hermannstädter Radu-Stanca-Theaters war mit der ,,Geschichte der Pandabären“ in der Regie von Ben Pascal im Festival dabei, im Saal saß am Samstag auch der Autor Matei Vișniec. Ganz besonders im Stück ist die Kombination zwischen Theater und Multimedia, denn der Computer spielt neben Daniel Bucher und Kristin Henkel fast eine dritte Rolle. Ganz passend dazu ist das einfache Bühnenbild: eine schräge Bühne und ein Korb voll Äpfel.

Marcel Iureș, dem seit 2017 ein Stern auf der Ruhmesmeile des Theaterfestivals gehört. Foto: Sebastian MARCOVICI
Nicht zum ersten Mal im Festival dabei war der Schauspieler Marcel Iureș, der wie immer eine phantastische Rolle lieferte: den Lehrer im Stück ,,Rosto“, Theater Act, Regie Alexandru Dabija. Das Stück war diesmal eher eine Aneinanderreihung von Szenen, in denen der Lehrer im Mittelpunkt steht, nach Texten von Ion Luca Caragiale. Trotz der veralteten Sprache, sind die Probleme der Lehrer und des Lehramtes immer noch aktuell: der aufrichtige Lehrer, der wegen der Politik Kompromisse machen muss, der unvorbereitete Lehrer, der Lehrer, der einen Lieblingsschüler hat und der Lehrer, der einen unschuldigen Schüler bestraft, um den schuldigen Schüler zu schonen, da dieser einen einflussreichen Vater hat. Dabei blieb Iureș immer der Lehrer, die zwei Kollegen Dan Rădulescu und Ionuț Toader spielten abwechselnd Lehrer, Schüler oder Elternteile.
Auch am letzten Festivaltag waren mehrere gute Vorstellungen zu sehen, u. a. das Flamenco-Stück „Mai sus!“ (Höher!) der spanischen Jesus Carmona Dance Company, die mit sieben Tänzern und drei Musikern das Publikum begeisterte.
Ein klassisches Stück war „Macbeth“ von Sardegna Teatro and Compagnia Teatropersona, Regie Alessandro Serra, auf sardinisch gespielt, nach William Shakespeare. Die Schauspieler spielten auf Asche, so dass das ganze Stück von einer Aschewolke geprägt wurde. Die dunkle Bühne – zum Teil fast zu dunkel, das Publikum hatte fast Angst, ein besonderes Bühnenbild zu verpassen – und die zum Teil sehr lauten Geräusche ließen das Publikum oft zusammenzucken. Wie zu Shakespeares Lebzeiten waren auf der Bühne nur Männer zu sehen, die auch die Frauenrollen spielten, doch das Stück hatte eine moderne Aufmachung und erntete Stehapplaus.
Wer hat wen betrogen? In Harold Pinters Drama „Betrayal“ (Betrogen) des Nationaltheaters aus Neumarkt am Mieresch, unter der Regie von Bobi Pricop, bekommt das Publikum Einblick in die Dreiecksbeziehung von Emma, Robert und Jerry. Die Aufführung der Neumarkter am 29. Juni in der Kulturfabrik war alles andere als klassisch. Die drei Schauspieler verhielten sich wie Schaufensterpuppen mit sehr roboterhaften Bewegungen und starren Masken. Ihre Stimmen waren vorher aufgenommen worden und kamen aus den Lautsprechern. Es blieb wenig Platz für Schauspielkunst. Und genau darum ging es in dem Stück, um das Verbergen der Gefühle und um Lügen. Die Menschen als gefühllose, roboterhafte Schaufensterpuppen darzustellen, sollte gerade diese Gefühlslosigkeit ausdrücken. Auch die Dialoge sind knapp und kalt, mit Halbsätzen gespickt. Das Stück wechselt in seinen Szenen, mal in Vor- und mal in Rückschau, zwischen den Jahren 1968 bis 1977. In der Inszenierung spielten Elena Purea die Emma, Richard Balint den Robert, Theo Marton den Jerry und Mihai Crăciun den Kellner.

Szene aus „Dimanche“ mit den Schauspielern Julie Tenret, Sandrine Heyraud und Sicaire Durieux (v. l. n. r.) Foto: Sebastian MARCOVICI
Pantomime sieht man eher selten beim Theaterfestival, wenn das mal vorkommt, dann sind es meist Straßenshows. Heuer gab es allerdings ein Stück ohne Worte, das absolut genial in Szene gesetzt wurde, vom Konzept bis zum Inhalt hat alles gestimmt. Es handelt sich um „Dimanche“ (Sonntag) der „Focus and Chaliwate Company“ aus Belgien, unter der Regie von Julie Tenret, Sicaire Durieux und Sandrine Heyraud, die zugleich auch die Darsteller waren. Das Stück wurde am 30. Juni und 1. Juli auf der Bühne des Radu-Stanca-Theaters gezeigt. „Dimanche“ zeigte das Porträt einer völlig aus der Zeit gefallenen Menschheit, die vom Chaos klimatischer Störungen erfasst wird: Eine Familie bereitet sich darauf vor, einen Sonntag zu Hause zu verbringen. Trotz der Mauern, die zittern, Wind und Sintflut draußen, das Leben geht weiter. Um sie herum wird alles verwandelt, doch sie werden erfinderisch, um ihren Alltag bis zur Absurdität zu bewahren. Gleichzeitig bereitet ein Team von Tierreportern, die die Welt bereisen, einen Dokumentarfilm vor, der das Leben der letzten lebenden Spezies auf der Erde zeigt. In der Inszenierung sind die drei Schauspieler zugleich auch Puppenführer. Die Aufführung vereint Objekt- und Figurentheater, Schauspiel und Videokunst zu einem intensiven Erlebnis für die ganze Familie.

Szene aus „Katzelmacher. Wenn das mit der Liebe nicht wär“. Foto: Sebastian MARCOVICI
Wie sich Gruppenzwang in Brutalität verwandelt und wie Fremdenhass entsteht, das zeigte Rainer Werner Fassbinder in „Katzelmacher. Wenn das mit der Liebe nicht wär“. Unter der Regie von Eugen Jebeleanu zeigte das Deutsche Staatstheater Temeswar am 1. Juli, wie Neid und Geldgier zu Gewalt führen kann: Ein Fremder dringt in die abgeschlossene Provinzwelt einer Sandkastenclique, die mehr schlecht als recht ihr Leben zwischen grauer Arbeit und kleinen Träumen vor sich hin lebt. Alle haben diverse Beziehungen untereinander, alle wollen ein besseres Leben, niemand kann seine Gefühle wirklich artikulieren. Stattdessen geht ihr Leben den desillusionierenden gewohnten Gang der Perspektivlosigkeit – bis plötzlich Jorgos, der Gastarbeiter, in ihr Leben platzt und es gründlich auf den Kopf stellt. Nicht nur, dass er ihnen einen Arbeitsplatz wegnimmt, er verdreht auch noch den Frauen durch seine Andersartigkeit den Kopf. An dem Katzelmacher können sie ihren Hass und ihre Frustration loswerden. Niko Becker spielt den Griechen Jorgos, der als „Katzelmacher“ tituliert wird: in Bayern und Österreich ein Schimpfwort für einen Gastarbeiter, der angeblich heimischen Frauen nachstellt. Auf der Bühne zu sehen sind außerdem Isa Berger, Silvia Török, Daniela Török, Oana Vidoni, Harald Weisz, Rareș Hontzu, Alexandru Mihăescu und Radu Brănici.
Eine sehr gelungene Komödie war am letzten Festivaltag im Gong-Theater zu sehen: „Muscă, paie și bătaie“ von Lia Bugnar zeigte die Studenten des Masterstudiengangs Theater von der „I.L. Caragiale“-Universität aus Bukarest, wie sie der Begegnung, beziehungsweise dem Casting mit dem großen Regisseuren Silviu Purcărete entgegen fiebern. Natürlich will jeder von ihnen die Hauptrolle in „Romeo und Julia“ spielen und den großen Durchbruch schaffen. Doch der Regisseur erkrankt an Corona und lässt sich nicht mehr blicken. Mit viel Musik, Tanz und lustigen Dialogen brachten die 14 angehenden Schauspieler/innen die Zuschauer zum Lachen. Schade, dass Silviu Purcărete nicht dabei war.

Mari Fukumoto an der Martinsberger Orgel. Foto: Dragoș DUMITRU
Konzerte gab es vom Feinsten an fast jedem der zehn Festivaltage. So konzertierte am Samstagabend in der Ferula der evangelischen Stadtpfarrkirche die japanische Organistin Mari Fukumoto. Zwei Stücke spielte sie im Duett mit dem Cellisten Makcim Fernandez Samodaiev.
Ein besonderer ,,Leckerbissen“ war am letzten Festivaltag im Thaliasaal der Philharmonische Salon ,,Mozart bei Madame Pompadour“ mit dem Cellisten Götz Teutsch, seiner Gattin, der Pianistin Cordelia Höfer, dem Hermannstädter Violonisten Nicu Șulț und dem Schauspieler Marius Turdeanu, übrigens der einzige Vertreter des Hermannstädter Radu Stanca-Nationaltheaters, der in diesem Jahr für einen Preis des Rumänischen Theaterverbands (UNITER) nominiert worden war. Und zwar für die Hauptrolle in ,,Drei Schwestern“. Er hat ihn leider nicht erhalten. Bewundernswert war die Kombination von Mozart-Werken mit Texten aus Briefen von Madame Pompadour u. a. sowie zum Schluss einem Mozart-Gedicht von Ingeborg Bachmann, das diese Darbietung abrundete. Übrigens hat der Hermannstädter Stadtrat beschlossen, Götz Teutsch den Titel eines Ehrenbürgers zu verleihen.
Cynthia PINTER
Ruxandra STĂNESCU