Ausgabe Nr. 2771
Für ihre Ergebnisse bei der diesjährigen Landesphase des Schülerwettbewerbs im Fach Deutsch als Muttersprache haben drei Schülerinnen vom Samuel von Brukenthal-Gymnasium je ein HZ-Jahresabonnement als Sonderpreis erhalten. Es handelt sich um die Neuntklässlerin Ada Cristian, die Siebtklässlerin Sara-Maria Marin und die Zehntklässlerin Paula Dörr. In dieser Ausgabe lesen Sie den Aufsatz „Die Rose der Macht“ von Sara-Maria Marin zu dem Bild oben, die den ersten Preis gewonnen hat.
Die Rose der Macht
Im nächsten Augenblick kommt ein Mann durch die Tür und schneidet die Rose ab. Wer ist er? Warum tut er das? Verstohlen schaut er sich um und versteckt den kleinen Blütendiamanten in sein Hemd. Er sieht mich und erstarrt. Still schauen wir uns an. Der Wind weht durch die Blätter, die einem Herzen ähneln. Hoch über uns ein Rabe. Ein Schrei. Herzzerreißend. Ein Versprechen. Verschwörerisch. Der Mann läuft weg. Der Rosenduft bleibt zurück. Allein. Verlassen. Mit ihm auch ich.
Damals war ich fünf und naiv. Ich dachte, der Mann sei ein armer Gärtner, etwas merkwürdig, der seiner Frau eine Freude bereiten wollte. Doch sollte man nicht den König, meinen lieben Vater bitten, eine Blume abzuschneiden? Anfangs schwirrten mir diese Fragen durch den Kopf. Ein Gefühl von Unsicherheit, Angst und Unbehagen überfiel mich und war über Tage ständiger Begleiter.
Doch langsam verschwanden die Fragen und die Gefühle wie der Nebel am Morgen. Wie Eis in der glühenden Hitze. Puppen, Pferde und Kleider waren viel wichtiger für mich. Wieder einmal blieb die Rose allein zurück. Vielleicht kannte sie noch der Wind, der Rabe. Aber bei mir geriet sie längst in Vergessenheit.
Ich wuchs schnell groß und wurde zu einer atemberaubenden Prinzessin. Ich hatte ein schönes und erfülltes Leben, umgeben von Dienern. Bälle und Spitzenkleider waren von höchster Wichtigkeit für mich. Dabei bemerkte ich jemanden nicht. Dieser jemand war der Mann. Der Mann, der die Rose köpfte. Der Mann, der meinem Vater das Leben weggenommen hatte. Das Schlimmste dabei war, dass ich da war. Zuerst sah ich den Dolch, der in Vaters Brust steckte. Danach seinen Blick. „Lauf!“, sagten seine Augen. Ich lief nicht, sondern blieb. Meine Augen sahen sich flüchtig um. Ich sah den Mann und erstarrte. Still schauen wir uns an. Ein Rabe. Ein Schrei. Das Versprechen. Unser Versprechen. Ein Spruch nistete sich in meine Gedanken ein. Wie ein Verräter. „Im Leben sieht man sich immer zwei Mal“. Der Mann lief weg. Der Duft der Angst blieb zurück. Ich mit ihm.
Die Zeit der Trauer begann. Ich musste einen schwarzen Schleier über meinem Gesicht tragen, so wie es sich gehörte. Doch der Schatten in meinem Gesicht war mehr als genug. Die Fragen und die Gefühle kehrten zurück. Ich fühlte mich elend, traurig. Meine ganze Welt zerbarst wegen des Mannes: Trümmer, Scherben, Krümel. Nichts konnte mich wieder zum Lachen bringen. Nichts schaffte es, mein Herz zum Hüpfen zu bringen. Eine eiserne Wand aus Angst, Trauer und Elend schützte mich vor guten und vor schlechten Dingen.
Die Leute aus dem Königreich vergaßen schnell den Tod des Königs. Sie verlangten einen neuen Herrscher. Sie schienen stets gegen den Tod, die Trauer und die Angst zu sein und den Schatten in meinem Gesicht nicht wahrzunehmen. Sie waren ignorant und egoistisch. Sie wollten einen neuen König. Und ein neuer König wurde gewählt.
Der Auserwählte war ein Dieb. Ein Mörder. Der Mann. Ich musste dem neuen König meine Freude zeigen. Und die Leute schauten zu und jubelten und lachten und klatschten. Ich hätte vor Entsetzen erbrechen können. Panik ergriff mich. Wut packte mich. Wäre ich allein, so wäre ich wie ein hungriger Löwe dem Mann an den Hals gesprungen. Doch was ich tat, war, gequält lächelnd neben ihm zu stehen und der Menschenmenge zurückzuwinken.
Die nächsten Tage waren die schlimmsten, die ich je erlebt hatte. Meine ganze Welt ging unter und mit ihr auch der letzte Hoffnungsschimmer. Alles war verloren.
Der neue König war brutal und schlecht gelaunt. Es gab so viele neue Regeln. Es gab Schläge. Das alles war zu viel für mich. Nachts weinte ich hemmungslos, tagsüber aß ich kaum und schuftete wie ein Sklave. Ich fühlte mich wie Aschenputtel. Doch da gab es keine weißen Tauben in meinem Königreich. Mit der Zeit aber gewöhnte ich mich an mein neues Leben. Obschon ich keine Kleider mehr tragen durfte, auf keine Bälle ging, akzeptierte ich die Regeln. Doch etwas war für mich das Ende meiner zertrümmerten Welt.
Was mich in bodenlose Tiefe fallen ließ, war, dass ich das Gemach des Königs nicht betreten durfte. Es nagte an mir, dass dieses Zimmer das Gemach meines Vaters gewesen war, wo ich so viele schöne Erinnerungen hatte. Ich wollte meinen Vater nicht vergessen, wie es der Rose ergangen war.
Viele Wochen vergingen. Ich konnte nicht mehr klar denken. Ich musste das Gemach meines Vaters betreten. Das stand fest. Ich musste nur auf den richtigen Augenblick warten. In einigen Tagen musste der Mann eine lange Reise antreten. Das war meine Chance!
Bereits am ersten Abend, an dem ich alleine war, schlich ich mich bis vor die Tür des Mannes. Mit zitternder Hand drückte ich auf die Klinke. Nichts passierte. Die Tür war verschlossen! Verzweifelt fiel ich auf die Knie. Wie könnte ich nur das Zimmer betreten? Ich weinte leise. Draußen ein Rabe. Ein Schrei. Das Versprechen, dass sich alles zum Guten wenden würde. Es war schon das dritte Mal, das mir die Rose das versprach. Vielleicht hatte er recht. Ich musste ihm vertrauen.
Meine Hand hob sich wie von allein. Aus meinen Haaren nahm ich die schwarze Haarspange. Ich steckte sie ins goldene Schlüsselloch und drehte langsam, hoffnungsvoll, zitternd. Mit einem leisen Knirschen öffnete sich plötzlich die hölzerne Tür.
Ein bekannter Rosenduft kam mir entgegen. Auf dem Tisch stand in einer Vase die Rose. Eigentlich hätte sie schon längst welk sein müssen, doch der Mann hatte einen Weg gefunden, sie frisch zu halten.
Als ich näher kam, sah ich ein bronzenes Schild. Darauf stand geschrieben: „Das ist die Rose der Macht. Sie verleiht ihrem Träger Macht, Ruhm und Erkenntnis. Sie blendet jeden durch ihre Macht, sodass dieser alle um den kleinen Finger wickeln kann. Achtung!“
Ich stand da wie erstarrt. War das möglich? Ich las noch tausendmal diese Zeilen. Ich musste die Rose zerstören. Der Mann durfte nicht weiter König sein. Er hatte viel Böses getan, jeden an der Nase herumgeführt. Das sollte nicht so sein. Ich war entschlossen, ihm einen Strich durch die Rechnung zu machen.
Ich wusste allerdings nicht, wie ich das anstellen sollte. Ich dachte an Zaubersprüche, an Lieder und an Zaubertränke. Doch das war alles nur ein Traum. Ich tat etwas Unvernünftiges: langsam streckte ich die Hand nach der Rose aus. Sie schien magisch zu sein. Das faszinierte mich und erschreckte mich zugleich. Die Blüten waren feucht und fein. Der Stängel grün und gerade. Die Dornen spitz und schützend. Die Rose war ein richtiger Blütendiamant. Plötzlich sah ich ein Funkeln. Es kam von meinen Fingerspitzen, von der Rose. Die Macht der Rose nahm die Trümmer, die Scherben und die Krümel meiner Welt und baute sie wieder zusammen. Der Schatten in meinem Gesicht verschwand. Die eiserne Wand verschwand. Meine Welt wurde rosig, während die des Mannes schwarz wurde. Er verlor die Macht, den Ruhm, die Liebe. Er bekam Hass, Abweisung und Spott. Alles wendete sich zum Guten. Dank der Rosenmacht.
Draußen ein Rabe. Ein Schrei. Erfreut. Hoffnungsvoll. Balsam für die Seele. Und ich war nicht mehr allein.