Der Schriftsteller Hans Bergel ist tot
Ausgabe Nr. 2760
Der Schriftsteller Dr. h.c. Hans Bergel ist am 26. Februar d. J. in München gestorben. Der am 26. Juli 1925 in Rosen-au bei Kronstadt Geborene wurde im April 1959 verhaftet und im Schriftstellerprozess zu 15 Jahren Zwangsarbeit und fünf Jahren Verlust sämtlicher Bürgerrechte verurteilt. 1964 wurde er befreit und wanderte 1968 nach Deutschland aus, mit Unterstützung von Günter Grass. Als ,,lyrischen Nachruf“ veröffentlicht die HZ ein Gedicht von Hellmut Seiler, das dieser zum 95. Geburtstag des Verstorbenen im Jahr 2020 verfasst hatte.
Flüchtigkeit
Für Hans Bergel zum 95.
Flüchtigkeit ist eine dimensionslose Kennzahl,
die die Verdunstung einer Lösung beschreibt;
und Hoffnung ist in hohem Maße relativ, beides
lässt sich wunderbar als Frühstück genießen.
Die Flüchtigkeit eines Hoffnungsschimmers treibt Blüten,
die dir, bereits verwelkt, jetzt vor die Füße fallen.
Heb sie auf, für später. Ein Ausweis auch, fällt dir ein,
ist dir kürzlich vor die Füße gefallen; du hobst ihn – ohne
viel Aufhebens – auf und wusstest sofort, wer genau
du niemals sein wolltest. Die verlangsamte Frequenz
deiner Einträge ins Telefonbuch ist zu spüren,
die ratternde Abfolge deiner likes und
der erhöhte Pulsschlag deines Mobiltelefonanbiederers.
„Das Leben geht weiter. Als es erlaubt ist.“ –
Ein Schlemmen zwischen satten Zitaten stellt dich
wieder her, auf den Kopf. Der aufgehobene Ausweis
weist dich als Täter aus, der genau das verübt,
was ihm zustößt; als den, der du nie sein wolltest.
Während der Abend noch seinen Platz sucht
bei Tisch, stehst du vor leergeräumten Konten
und damit vor den Scherben deiner vermessenen
Anwesenheit; und deiner frühen Fremdheit darin.
In den leeren Hauseingängen lauert
eine flackernde Sicherheit, trügerisch,
vielleicht aber tastet das Dunkel nur
sich vorwärts, wir halten uns fest
an den Rändern. Die Lichter springen
an, und die robust Selbstsicheren wuseln
in fliegendem Wechsel vor dem Eingang,
als finge die Zeitrechnung mit ihnen an.
Der Zweifel nimmt mich mit, führt mich
in Versuchung, sät nur keine Zwietracht.
Wir aber tasten uns die Wände entlang
und erkennen uns jeder in der Dunkelheit.
III.
In der Stunde gelöschter Zeichen bleibt uns
erhalten nur noch die Sprache. Der Neuweise
zieht nachts kometenhaft gewaltig seine Spur,
„und Ströme müssen den Pfad sich suchen“,
an den Dächern blüht Rauch, „und es girren
Verloren in der Luft die Lerchen“. Wer
wollte die Fährten alle deuten, ohne Fehl?
Ein einziges „Zeichen sind wir, deutungslos,
Schmerzlos sind wir und haben fast
Die Sprache in der Fremde verloren.“
(Bis auf jene in Teil I stammen die Zitate von Friedrich Hölderlin