Betrachtungen über Frauen, die als Urzel liefen und laufen / Von Dagmar SECK
Ausgabe Nr. 2760
Soweit meine Erinnerungen zurückreichen, wurde in meiner Familie immer Urzel gelaufen. Damit meine ich gar nicht meinen Großvater, der nach der Wiedereinführung des Brauches in Agnetheln 1969 Urzelsprecher war, das war vor meiner Zeit, sondern meinen Vater und meine beiden großen Geschwister: Sie nahmen bereits Anfang der 1990er Jahre am Urzelumzug in Sachsenheim teil, als ich Tummi noch glaubte, die Peitschen würden knallen, weil man sie ganz fest auf den Boden haute. Wenige Jahre später lief (und knallte) ich dann auch selbst, und heute bin ich regelmäßig dabei, wenn die Urzeln unter der Führung meiner Mutter Nürnberg und Umgebung unsicher machen. Soweit so normal. Aber ist es das wirklich? Wo war meine Mutter in den 1990ern? Wo war meine Tante, die heute doch auch so gerne im Umzug mitläuft und Krapfen verteilt? Auf den Fotos von damals sind hauptsächlich Männer zu sehen. Seit wann ist es „normal“, dass Frauen Urzel laufen? Die Frage hat mich umgetrieben. Also habe ich nachgelesen und nachgehakt.
Naheliegend war zunächst ein Gespräch mit meiner in Agnetheln geborenen Mutter, Doris Hutter:
Du stammst aus einer traditionell urzelbegeisterten Familie, bist aber erst in Deutschland Urzel gelaufen. Hattest du als junge Frau keine Lust?
Bei mir stellte sich die Frage gar nicht, weil es in Agnetheln damals zum Brauch gehörte, seine Urzelpart daheim zu erwarten und zu bewirten. Ein Moment, den ich schon genossen habe, war, wenn ich als Gastgeberin in der Peitsche gedreht wurde und mir dann im Haus der Urzelspruch „Mer wäintsche Gläck än diësem Hais …“ gesagt wurde. Dazu kam, dass wir immer Gäste von auswärts hatten, die betreut werden mussten.
Die Mütter hätten doch als Gastgeberinnen einspringen können, damit ihre Töchter mitlaufen können, oder?
Das ist gelegentlich auch passiert. Aber es gibt noch eine nicht unwichtige Sache: Ein Urzel musste knallen können. Otata, dein Großvater, war bei seinem ersten Urzellauf über 60 und tat sich anfangs schwer mit dem Knallen. Nicht knallen können, war für einen Urzel einfach nicht ,,artgerecht“, schließlich geht es um das Vertreiben böser Geister… Beim ersten Lauf rief ihm ein Partenkollege zu: „Es geht nicht, dass du deine Geißel nicht benutzt! Tu dauernd so, als würdest du den Schmiss der Geißel erneuern…“ Das war ihm eine Lehre: Er übte systematisch zwei Wochen vor jedem Urzeltag und brachte es zu einem ordentlichen Knaller.
In den 1980er Jahren sind aber einige Mädchen gelaufen, die nicht knallen konnten, da scheinen diese Bedenken nicht mehr vordergründig gewesen zu sein. Da machte sich schon die vermehrte Aussiedlung bemerkbar: Einige dezimierte Parten schlossen sich in der Not zusammen. Plötzlich waren Mädchen zum Schließen der Reihen willkommen. Sogar die Part von Otata, sie hatte den höchsten Altersdurchschnitt, nahm ein junges Mädchen in ihre Mitte auf: Helga Bloos aus einer Nachbargemeinde wohnte bei einem Urzel aus der Part im Quartier und ihrem Wunsch, mitzulaufen, wurde Ende der 1970er problemlos entsprochen. Sie hat in ihrer jugendlichen Frische bei den alten Herren am Urzeltag die Lebensgeister so aktiviert, dass sie als Bereicherung, irgendwie als „Maskottchen“ galt und gerne vorgezeigt wurde. Sie war jedoch nicht die erste. Einige Jahre zuvor sind bereits Frauen mitgelaufen, damals aber noch geheim.
Geheim? Im Urzelkostüm ist es tatsächlich möglich, völlig unerkannt zu bleiben. Angeblich stünde im Agnethler Blatt etwas dazu. Ich schaute nach: Bereits 1972 sagte der fortschrittliche Werner zu seiner Gattin Rosi „Du könntest ja mitlaufen!“ – was die nach ein bisschen Unterricht im Peitschenknallen auch tat. Hätte sie keine Damenschuhe angehabt, hätte wirklich niemand etwas gemerkt.
50 Jahre ist dieses Versteckspiel nun her. War Rosi ein Einzelfall? Ich habe zum Telefon gegriffen und mich ein wenig umgehört. Nachdenklich: „Für meinen Mann habe ich einen Anzug genäht. Warum eigentlich nicht auch für mich?“ Ehrlich: „Die Frauen kamen erst ganz, ganz spät dazu. Das war nicht gern gesehen. Wir Männer wollten unter uns sein.“ Überzeugt: „Neeeeiiiin, ich habe auch in den 80ern in Agnetheln nie eine Frau im Urzelkostüm gesehen.“ Erklärend: „Wir Frauen hatten am Urzeltag alle Hände voll zu tun, blieben aber gerne daheim. Die Urzeln zu Hause zu empfangen und zu bewirten war eine große Ehre: Das Haus war voller Leute, man stand als Gastgeberin im Mittelpunkt, es wurde gesungen und gelacht.“ Detailliert: „1981 ist meine Mutter am Vormittag gelaufen und meine Schwester am Nachmittag. Sie haben dazwischen einfach den Anzug getauscht.“ Völlig selbstverständlich: „Wir sind Anfang der 80er mit einigen Kränzchenfreundinnen gelaufen. Das war überhaupt nichts Außergewöhnliches mehr.“
Richtig spannend wurde es, als mir der Kontakt zu einer Frau vermittelt wurde, die 1974 als Gymnasiastin Urzel gelaufen ist – inkognito und sogar in Männerschuhen! Wirklich kompliziert war die Teilnahme ja nicht: Ein Mann war krank geworden und sie bekam seinen Anzug und lief unter seinem Namen und seiner Nummer. Dass sie hinter dem Haus erst noch das Peitschenknallen lernen musste, fiel nicht weiter auf, da in den Tagen vor dem Umzug sowieso in zahlreichen Gärten „geplaatscht“ wurde. Am Ende des Urzeltages wäre sie fast noch „enttarnt“ worden, als ein junger Mann sie auf ihre aufgeriebene Nasenspitze ansprach und fragte, ob die wohl von einer Urzelmaske käme. Aus Angst vor Konsequenzen verriet die Gymnasiastin jedoch nichts, nur ihre Part wusste Bescheid.
Mich hat verwundert, dass mehrere meiner Gesprächspartner Verbote und Angst vor unangenehmen Konsequenzen erwähnten. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass es Strafen fürs „Maschkurieren“ geben konnte. Zum einen wusste ich nicht, dass etwa nächtliches Herumtreiben von Schülern die Vergabe von schlechten Zensuren zur Folge haben konnte. Zum anderen war mir nicht klar, unter welchen schwierigen Bedingungen der Urzelbrauch 1969 wieder eingeführt wurde. Man stand unter Beobachtung. Hätte es unpassende Vorkommnisse gegeben, hätten die Behörden den Brauch gleich wieder verboten. Nicht nur, dass das ganze Fastnachtstreiben manchen Rumänen grundsätzlich suspekt war. Man hatte auch die Befürchtung, dass in der Anonymität des Kostüms (gewaltsame) Übergriffe hätten vorkommen können. Ein Zeitgenosse deutete übrigens an, dass die Lehrer und Professoren genau aus diesem Grund sehr erleichtert darüber waren, dass Schüler nicht teilnehmen durften. Die Sorge war letztlich umsonst und es kam nie zu derartigen Szenen. Die strengen Regeln und das namentliche Anmelden und Nummerieren der Teilnehmer mögen aber auch dazu beigetragen haben.
Was mir all meine Gespräche schlussendlich gezeigt haben: Die Erinnerungen und Erfahrungen weichen zum Teil stark voneinander ab. Das ist nicht weiter verwunderlich. Doch kann es wirklich sein, dass der Brauch sich in einem so wichtigen Punkt gewandelt hat, ohne dass der Wandel jemandem aufgefallen wäre? Kurioserweise konnte sich nämlich keiner meiner Gesprächspartner an Diskussionen über die Rolle der Frauen beim Urzellaufen erinnern. Und doch hat sie sich in kürzester Zeit geändert. So habe ich mir also die zeitgenössische Presse vorgenommen und angefangen, den Neuen Weg sowie die Hermannstädter Zeitung (von Oktober 1971 und bis 15. Dezember 1989 Die Woche) der 1970er und 1980er Jahre zu durchforsten. Und ich bin fündig geworden.
Bereits 1973 schrieb Inge Haner in der Hermannstädter Zeitung (HZ): „Wenn von Gleichberechtigung die Rede ist: Die Männer haben das Vergnügen, die Frauen die Arbeit. Die Männer dürfen hinternwedelnd den kindskopfgroßen Kuhglocken ein ohrenbetäubendes Rumpeln, Klingeln, Läuten und Rasseln entlocken und ihre zwölfriemenstarken Peitschen durch die Luft knallen lassen. Die Frauen dürfen im Schweisse ihres Angesichts Krapfen backen, Urzelkraut kochen, die Kostüme herrichten. Sie dürfen die Gäste bewirten, die sich nicht nur zum Essen, sondern auch schon zwei Tage früher zum Wohnen in Agnetheln eingestellt haben.“ Hoppla, da regte sich Widerstand im sozialistischen Rumänien.
1974 machten die Journalisten der HZ dann folgende Beobachtung: „Es sollen auch ein paar Sächsinnen maskiert gewesen sein. Man sah es an den kleinen Schuhgrößen. Unaufhaltsamer Weg der Frauenemanzipation.“
Im folgenden Jahr wurde der erste weibliche Reifenschwingerlehrling erwähnt und noch ein Jahr später wurde es erstmals ganz deutlich ausgesprochen: „Immer mehr Mädchen dabei“ titelte die HZ, während der Neue Wegzehn weibliche Urzeln direkt mit ihren Namen aufführte. 1979 wurde dann erstmals ein Mädchen ins Kostüm des Bären „eingenäht“ und 1985 die erste weibliche Partenführerin erwähnt. Ende der 1980er stellten die Frauen rund 150 der 450 erwachsenen Urzeln. Nicht umsonst hat Elfriede Fielk 1981 in der HZ noch einmal auf eine der Ursprungslegenden des Brauches verwiesen, als sie schrieb: „Bis vor wenigen Jahren war das zottelige Urzelkostüm ausschließlich dem starken Geschlecht vorbehalten, dann tauchten aber – zuerst nur einzeln und schüchtern – auch ein paar Mädchen darin auf. Bei dem letzten Agnethler Urzelfest waren es nun besonders viele. … Da es eine Frau war, die als erste die verrückte Idee hatte, haben wir doch das gute Recht, in ihre Fussstapfen zu treten. Und außerdem ist es gar nicht so schwer, einmal im Jahr acht Stunden lang Urzel zu sein, bloss einem Außenseiter scheint es schwierig.“
Da waren sie also, meine Beweise: Das Thema der weiblichen Urzeln wurde in den Medien durchaus verhandelt. Meine Gespräche haben aber auch bewiesen: Der Wandel ging offenbar ohne große Reibung vonstatten. Niemand konnte sich an etwaige Frustrationen, herablassende Kommentare oder problematische Situationen erinnern. Weder Männer noch Frauen, weder Alt noch Jung. Mit wem auch immer ich über das Urzellaufen gesprochen habe, stets wurden Erinnerungen an Gemeinschaft und fröhliche Stunden mit mir geteilt.
Auch heute geht es um Gemeinschaft und lustiges Beisammensein. Ich finde es schön, dass in Nürnberg Männer und Frauen gemeinsam Kraut kochen und am nächsten Tag gemeinsam ihre Masken aufsetzen. Es gefällt mir, dass junge Urzel-Familien in Sachsenheim sich in der Kinderbetreuung heute abwechseln und bei einem Termin Sie, beim anderen Termin Er im Umzug dabei sein kann. Ich habe Genugtuung verspürt, als mein Mann anfangs genauso viele gutgemeinte Ratschläge beim „Plaatschen“ bekommen hat wie ich. Diese neue Normalität hat in meinen Augen keine Verlierer. Zum Glück schließt die Tradition den Wandel nicht aus.