Im Literaturforum im Brechthaus in Berlin Mitte
Ausgabe Nr. 2749

Michaela Nowotnick (links) und Iris Wolff. Foto: Christel WOLLMANN-FIEDLER
Im Literaturforum im Brecht-Haus in Berlin haben drei Autorinnen und ein Autor am 27. und am 28. Oktober d. J. aus ihren neuesten Büchern gelesen und Gespräche führen. Die Veranstaltung trägt den Titel „Voicing the East“, was soviel bedeutet wie ,,dem Osten eine Stimme verleihen“. Es geht laut Veranstaltern um ,,Deutsche Literatur aus Osteuropa oder osteuropäische Literatur aus Deutschland oder doch ganz anders?“. Auf dem Podium wird diskutiert und gelesen und Bertolt Brecht, der im Hintergrund auf einem übergroßen Foto an der Wand zu sehen ist, hört zu.
Vier Schriftsteller, die sich und ihre Literatur vorstellen, wurden hinter dem Eisernen Vorhang geboren, haben Osteuropa den Rücken gekehrt und schreiben in ihrer neu erworbenen oder vertieften deutschen Sprache im Westen Europas, in der Schweiz und in Deutschland. So wird das ,,ganz anders“ im Titel der Veranstaltung verständlich. Dana Grigorcea, Alexandru Bulucz und Iris Wolff haben Rumänien den Rücken gekehrt und Marica Bodrozic dem ehemaligen Jugoslawien.

Dana Grigorcea. Foto: Christel WOLLMANN-FIEDLER
Carola Opitz-Wiemers, die kompetente Literaturwissenschaftlerin, beginnt ein Gespräch mit Dana Grigorcea und spricht sehr intensiv über deren neuestes Buch, „Die nicht sterben“, und weiter über das gesamte Werk der in Zürich lebenden Schriftstellerin. Im Penguin Verlag in München ist das neue Buch in diesem Jahr erschienen, im Brechthaus erlebt es an diesem Tag die erste öffentliche Lesung. Dana Grigorcea ist gebürtige Bukaresterin, Jahrgang 1979, besuchte in Bukarest die deutsche Schule, studierte Philologie und Nederlandistik und wohnt heute mit Ehemann und zwei Kindern in Zürich. Dana gehört nicht zur deutschen Minderheit in Rumänien. Die früheren Jahre, das Leben mit der Familie damals ist lange her, doch Erinnerungen tauchen auf, werden von ihr auch in dieses neue Buch aufgenommen. Verknüpft werden Erinnerungen und Orte, diesmal wird Vlad Țepeș ins Geschehen einbezogen, der walachische Fürst, der als Dracula in der Welt bekannt ist.

Marica Bodrozic. Foto: marica-bodrozic.de
Am Abend stellt Carola Opitz-Wiemers „Pantherzeit – vom Innenmaß der Dinge“ und die Autorin Marica Bodrozic vor. In Dalmatien, einer wunderschönen Landschaft in Kroatien, dem damaligen Jugoslawien, wird Marica Bodrozic 1973 geboren und kommt als Zehnjährige nach Deutschland, nach Hessen. Am Taunus erlernt sie die deutsche Sprache. Später wird sie mit dem Initiativpreis Deutsche Sprache ausgezeichnet für ihr autobiographisches Buch „Sterne erben, Sterne färben“, worin sie ihr poetisches und poetologisches Verhältnis zu ihrer zweiten Muttersprache erklärt, die für sie auch die Sprache der Literatur geworden ist. Andere Auszeichnungen sind in Hülle und Fülle verzeichnet. Rainer Maria Rilkes Gedicht ,,Der Panther“ deklamiert sie hundertemal von ihrem Berliner Balkon während der Coronakrise im vergangenen Jahr. In dem jetzt vorgestellten Buch werden sehr poetisch gehaltene Vergleiche mit anderen schrecklichen historischen Ereignissen beschrieben, die soziale Isolation und die daraus entstandenen täglichen Konsequenzen sowie die Flucht nach innen.
Die umtriebige Literaturwissenschaftlerin Michaela Nowotnick, die in Deutschland und Rumänien gleichermaßen zu Hause ist, moderiert die beiden Gespräche, die tags darauf im Programm stehen. Alexandru Bulucz und Iris Wolff kommen beide aus Rumänien, beide aus Siebenbürgen, beide leben und schreiben im Westen Europas.
Der 1987 in Karlsburg/Alba Iulia geborene und heute in Berlin lebende Lyriker Alexandru Bulucz stellt seinen Gedichtband „Was Petersilie über die Seele weiß“ vor, der im vorigen Jahr im Schöfflin & Co Verlag in Frankfurt am Main erschienen sind. Die Ausreise im Jahr 2000 beschreibt er als Trauma. Kompromisslos isoliert er sich in Süddeutschland, die deutsche Sprache erlernt er neu, will seine frühere heimische Mundart vergessen, Rumänisch wird ausgelöscht. Als Sprachwechsler bezeichnet er sich, meint Deutsch in Deutschland gelernt zu haben. Germanistik und Literaturwissenschaft studiert er in Frankfurt am Main bei Professor Werner Hamacher, der für ihn wichtig und prägend ist. Als rumänisch, ungarisch und deutsch Schreibender sieht er sich heute. Paul Celan trifft er mental während seines Czernowitzer Stipendiums. Paul Celans Werk ist ein großes Vorbild für ihn, ebenso Thomas Bernhard.

Alexandru Bulucz.Foto: Christel WOLLMANN-FIEDLER
Auf dem Weg zur Wartburg in Eisenach kommt Iris Wolff am Abend ins Literaturforum in Berlin. Als Pfarrerstochter wird sie 1977 in Hermannstadt geboren, bald darauf zieht die Familie nach Semlak in die Nähe von Arad ins Banat. Nach sieben Jahren verlässt Familie Wolff das Land Rumänien und lässt sich in Westdeutschland nieder. In einem neuen Kulturkreis geht Iris in die Schule und studiert an der Universität Marburg Deutsche Sprache, Literaturwissenschaft und noch hinzu kommt Grafik und Malerei. Erinnerungen an ihre Kindheit, Erinnerungen an die Landschaft ihrer Kindheit, an Erlebnisse in der Familie und Nachbarschaft, die Eindrücke, die sie mitgenommen hat in den Westen, werden in den neuen Roman „Die Unschärfe der Welt“ aufgenommen. Michaela Nowotnick hat kurze Fragen parat und sofort strahlen die Augen von Iris Wolff beim Erzählen über die Heimat an den Karpaten. Viele Preise hat das Buch bereits bekommen, in sehr vielen Zeitungen ist darüber zu lesen. In aller Munde ist ihr Name.
Eginald Schlattner hat eine ihrer Erzählungen in sein neuestes Buch, ,,Drachenköpfe“, eingeflochten und schreibt dazu: ,,Iris Wolff ist wie ein Komet am bundesdeutschen literarischen Himmel aufgetaucht und hat sich als Fixstern etabliert. Ihre Erzählung ‚Drachenhaus‘, angesiedelt nach dem blutigen Ende der Diktatur im Dezember 1989, hat es mir angetan. Ich selbst habe das Drachenhaus, die Wohnstätte des Zauberers Klingsor in Kronstadt, einen Winter lang bewohnt, 1962/63. Es war die Unzeit der Repressalien nach der Revolution in Budapest gegen das kommunistische Regime.“
Warum auf dem Weg zur Wartburg? Neben der Lutherstube wird sie mit zwei anderen ausgewählten Literaten vier Wochen lang schreiben. Essays, Lyrik und anderes. Vier Wochen der Einkehr werden es sein beim „Wartburg-Experiment“.
Die Heimat von damals weiter östlich, das Erinnerungsland in der Ferne, nehmen die vier Schreibenden gedanklich in ihre Romane und in ihre Lyrik auf. Sie sind stark geprägt von ihrem damaligen Kulturkreis. Heute reisen sie dorthin und schöpfen nach Themen. Ein Lesegenuss sind diese Bücher. Es ist zeitgenössische Literatur von der interessanten, doch auch sehr persönlichen Art. Interkulturelle Literatur ist uralt.
Christel WOLLMANN-FIEDLER