100 Jahre Evangelische Landeskirche A. B. in Rumänien (I) / Von Ulrich A. Wien
Ausgabe Nr. 2749
In einer Kirche, die bereits fast 900 Jahre alt ist, und davon auf rund 600 Jahre unter ungarischer und 150 Jahre unter osmanischer Vorherrschaft zurückblicken kann, relativiert sich die heute zu bedenkende Phase der letzten 100 Jahre eminent. Diese Rückschau auf die Evangelische Landeskirche A. B. in Rumänien seit 1921 in dem vorgegebenen, begrenzten Raum zu leisten, ist angesichts der Dramatik dieser Jahrzehnte und den in ihnen erlebten Brüchen, Abbrüchen und Aufbrüchen schlechterdings eine Zumutung. Trotzdem soll diese Herausforderung angenommen werden, wenngleich wesentliche Aspekte und Einsichten praktisch unter den Tisch fallen müssen, aber nicht unter den Teppich gekehrt werden sollen. Dass der derzeitige Staatspräsident als Gemeindeglied dieser Minderheitskirche gewählt wurde, zeigt einerseits den Respekt und historisch begründete Hoffnung auf die in dieser Gemeinschaft vitalen Kräfte und Potenziale auf und hat einen gewissen Stolz geweckt, trägt aber einen ambivalenten Charakter, sofern diese Erwartungen/Zuversicht enttäuscht würden.
Wir begehen heute zwar einen runden Geburtstag, aber ein Jubiläum im eigentlichen Sinne kann dies kaum sein. Eher ein Gedenken, das im Sinne des hebräisch-jüdischen Denkraums als „Vergegenwärtigung“ der Geschichte zu verstehen ist. In diesem Gedenken wird also Geschichte transparent oder durchsichtig, weil in ihm an Versagen, Schuld und Katastrophen vor dem Angesicht Gottes erinnert wird und dies zugleich im Blick auf das von Gott – trotz allem – ein für alle Mal verwirklichte Heil in Jesus Christus tut.
Dies soll geschehen vor dem Hintergrund eines kurzen Abrisses, gewissermaßen einem Blick auf das Kerbholz der eigenen Geschichte:
Der mittelalterliche Privilegienverband der „Saxones“ legte bereits 1277 den Bischofssitz in Weißenburg in Schutt und Asche samt Dom und Inventar; mit dem Gewinn einer mündigen Gemeinde in der reformatorischen Bewegung auch in Siebenbürgen war zugleich der schmerzliche Verlust der kirchlichen Einheit verbunden, nicht zuletzt, weil aus der Klausenburger Gemeinde unter dem sächsischen Stadtpfarrer Franz Hertel (Davidis) eine konfessionelle Vielfalt bis hin zur antitrinitarischen Bewegung hervorging; mit der osmanischen Bedrohung und der ihr folgenden gegenreformatorischen Herausforderung entwickelte sich eine Kirchenburgen-Mentalität, welche die ursprünglich vorhandene Integrationskraft der „Saxones“ minderte, zugleich aber einem historisch entwickelten, ethnischen Dünkel Vorschub leistete; von außen einströmender Rationalismus und Kulturprotestantismus wurden durch die gesellschaftliche und kirchliche Elite aufgesogen, vermittelt, ja endlich auch von den Gemeinden verkraftet; doch in geistlicher und religiöser Hinsicht waren dies magere Zeiten mit einer Akzentuierung von Pflichtethik und Moral. Die Nation wurde zur Religion.
Danach wurde der Nationalsozialismus mehr oder weniger begeistert integriert und die Landeskirche von dieser Ideologie kontaminiert/verseucht und diese Verirrung im Nachhinein totgeschwiegen, was sich auch erklären lässt angesichts eines dauernd gegenwärtigen ideologischen Vorwurfs des „Hitlerismus“ durch den Geheimdienst und die Staatspartei; die Landeskirche hat den Staatssozialismus beschädigt überlebt, präsentiert sich trotz schwindender Zahl heute aber als erstaunlich vital.
Der Beitrag wird in zwei Schritten diese einhundertjährige Zeitspanne vergegenwärtigen: Herausforderungen und Antworten; Aufstehen nach den Stürzen – Aufbrüche; das lässt sich nicht immer exakt auseinanderhalten.
Gründungssituation
Für die landeskirchliche Führung in Hermannstadt kam der ersehnte Ausgang des Ersten Weltkriegs 1918 einer Katastrophe gleich. Die Revolution brach aus – selbst auf einigen Dörfern. Das Reich der Stephanskrone brach endgültig auseinander, und dessen chauvinistische Nationalitätenpolitik hatte zuvor eine Identifikation aller Minderheiten mit dem Staat beeinträchtigt. Am Ende stand der Verlust des „Vaterlandes“.
Das deutsche Milieu Siebenbürgens, dessen Elite geistig und akademisch im wilhelminischen Kaiserreich geprägt worden war, musste den Zusammenbruch des nationalistisch profilierten, protestantisch-deutschen Sendungsbewusstsein ertragen. Bischof Teutsch schwieg lange –, auch sein Tagebuch enthält ein halbes Jahr keine Einträge.
Früher als die Landeskirche in den ehemals „siebenbürgischen Landesteilen Ungarns“ erkannte die Evangelische Kirchengemeinde Bukarest die Notwendigkeit, sich frühzeitig für das territorial wachsende Königreich Rumänien auszusprechen und drängte auf eine Entscheidung in Siebenbürgen. Schließlich beschloss der deutsch-sächsische Nationalrat am 8. Januar 1919 in Mediasch seine Anschlusserklärung. Schon im November 1918 hatten die Nationalräte in der Bukowina und Bessarabien für den Anschluss plädiert. Die Karlsburger Beschlüsse der Siebenbürger Rumänen vom 1. Dezember 1918 boten einen konkret aber erst zu füllenden Erwartungshorizont. Mit den Pariser Vorortverträgen wurden die bis dahin historisch völlig heterogen geprägten Regionen zu einem kompositen Staat fusioniert: Zusammengesetzt, aber nicht zusammengewachsen.
Um das Regat, das Altreich, herum traten die Maramureş (Marmatien), die Bukowina, Bessarabien, die Süd-Dobrudscha, Teile des Banats und – das geographische eher als Landeszentrum zu bezeichnende – Siebenbürgen in den neuen Staatsverband. In allen Regionen lebten ethnische Minderheiten (in Siebenbürgen beispielsweise rund 40 Prozent). Der auf die doppelte Fläche gewachsene Staat als Ganzer versammelte mehr als zehn Ethnien, die knapp 30 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachten. Religiöse und konfessionelle Vielfalt stellten für die zuvor nahezu homogene rumänisch-orthodoxe Bevölkerung des Altreichs eine größere Irritation dar als für die an ethnische sowie religiöse Vielfalt gewöhnten Neubürger. Dazu kam, dass im westlichen Landesteil, „Transilvanien“ genannt, die Mehrheit der Rumänen zur griechisch-katholischen, mit Rom unierten Kirche gehörten.
Unter der deutschen Minderheit des gesamten Landes (mit schätzungsweise rund 760.000 Angehörigen, d. h. etwa 5 Prozent der Gesamtbevölkerung) war die Mehrheit römisch-katholisch, und nur etwa 45 Prozent evangelisch (lutherisch). In der Bukowina, dem ehemaligen habsburgischen Kronland, gab es eine über zwei Jahrhunderte gewachsene, ausgeprägte Diaspora mit einer ökonomischen und intellektuell starken evangelischen Kirchengemeinde, nämlich Czernowitz. Hier amtierte als Stadtpfarrer Dr. Viktor Glondys, ein gebürtiger Schlesier, der außerdem einen Lehrauftrag an der dortigen Universität versah. Die deutschsprachige Kultur stand in engem, nicht immer spannungsfreien, aber fruchtbaren Zusammenhang mit dem noch größeren jüdischen Milieu.
In Bessarabien bestand eine eigene Landeskirche. In diesem bis dahin zum russischen Zarenreich gehörenden Landstrich hatten sich die seit dem Beginn des 19 Jahrhunderts angesiedelten, meist dem deutschen Pietismus zuzurechnenden ländlichen Gemeinden und Kirchspiele samt ihren Dorfschulen zu einer lutherischen Kirche zusammengeschlossen. In Tarutino saß das Kirchenamt der mehr als 80.000 Glieder. Nach dem Anschluss an die siebenbürgische Landeskirche befand sich dort das Dekanat, wo die Pastoren Daniel Haase und Immanuel Baumann amtierten. In Sărată gab es ein diakonisches Zentrum (Diakonisse Lina Farr). In der Dobrudscha hatten Bessarabier Filialsiedlungen begründet, und die kirchliche/geistliche Versorgung war mühsam. Neu-protestantische Sondergruppen fanden durchaus Zulauf. Lokal sehr unterschiedlich war das generell schwache Bildungsniveau, besonders weil es praktisch keine Minderheitenschulen gab.
Im Altreich hatten sich vor dem Ersten Weltkrieg die Gemeinden des „Synodalverbandes an der unteren Donau“ dem preußischen Oberkirchenrat unterstellt gehabt. Obwohl die unierte Bukarester Gemeinde dies nicht tat, wirkte sie im Synodalverband wesentlich mit. Die Fluktuation in den Gemeinden war relativ stark, wenngleich die preußische Landeskirche stetig für die Besetzung und Bezahlung der Pfarrer aus dem Deutschen Reich gesorgt hatte. Dies war nun infrage gestellt.
Selbstbewusste Personalgemeinde
Auch in Bukarest versahen neben dem siebenbürgisch-sächsischen Pfarrer Rudolf Honigberger immer auch ein „reichsdeutscher“ Pfarrer, ab 1921 Hans Petri, den Dienst als Seelsorger. Kennzeichen war eine selbstbewusste Personalgemeinde (mit nur ca. 1000 zahlenden Gemeindegliedern bei etwa 8-10000 deutschen Protestanten am Ort), die außerdem auch für die protestantischen Ausländer (aus der Schweiz, den Niederlanden, Skandinavien und zuweilen auch für Anglikaner) Anlaufstelle wurde. Vor 1918 stand das größte auslandsdeutsche Schulzentrum mit rund 2300 Kindern in Bukarest. In diesen Bildungsanstalten – vornehmlich in der Strada Luterana – waren mehrheitlich nicht-deutsche Kinder aufgenommen worden, was in der Zwischenkriegszeit gesetzlich ausgeschlossen und damit zum Problem. Die Leitung der Gemeinde und ihre Außenvertretung hatte ein „Gemeindepräsident“, was in Art. 27 der neuen Kirchenordnung, den die Kirchengemeinde Bukarest durchgesetzt hatte, den Bestandsschutz lokaler Traditionen erlaubte.
Im Banat gab es nur wenige evangelische Gemeinden, die größte deutschsprachige war Liebling. Anfänglich diente Ferdinand Szende als Dechant. Schließlich traten 1932 auch drei größere Kirchengemeinden (Mocrea, Butin und Nagylak) als slowakischer Kirchenbezirk unter Leitung von Ivan Bujna der Landeskirche bei.
In Siebenbürgen leitete Bischof Dr. Friedrich Teutsch seit 1906 die Landeskirche mit rund 250 Kirchengemeinden in zehn Kirchenbezirken. Rund 250.000 Seelen zählte sie; zu ihr gehörten traditionell auch wenige ungarischsprachige Gemeinden, eine mit bulgarischer Tradition sowie in Nordsiebenbürgen auch evangelische Roma. Vorübergehend schlossen sich im Umfeld von Kronstadt weitere ungarische Gemeinden als Ungarisches Dekanat an, die sich allerdings nach wenigen Jahren mit der neu begründeten Presbyterial-synodalen Superintendentur Arad vereinigten. Die Landeskirche mit Sitz in Hermannstadt bildete das Rückgrat und bot einen in das neue Staatswesen hinübergeretteten, gewissermaßen öffentlich-rechtlichen Rechtsstatus und beanspruchte ihre staatskirchenrechtliche Autonomie. Aus diesem Grund suchten die evangelischen Kirchengemeinden und Kirchenbezirke der anderen Regionen zunächst um bilaterale Assoziationsverträge an, die zwischen 1920 und 1922 unterzeichnet wurden. Die nun gewachsene Landeskirche gab sich 1926 eine neue Kirchenordnung, in der die neu aufgenommenen Kirchenbezirke integriert waren.
(Fortsetzung folgt)
,,Es ist mir eine Freude“
Bischof D. Friedrich Teutsch bei der LKV 1921
,,Es ist ein altes historisches Gesetz, daß Gedanken, die im großen sich vollziehen, zugleich das kleinere Leben beherrschen. Das was die evangelischen Kirchen in der Welt als neues Ziel verfolgen, die Berührung mit einander inniger zu gestalten, das haben wir im kleineren Kreis durchgeführt, den Zusammenschluß nahezu aller evangelischen Kirchen in Großromänien. Es ist mir eine Freude, in dieser Landeskirchenversammlung zum erstenmal die Vertreter sämtlicher angeschlossenen Gebiete, des Bukarester und Banater Dekanates, des Bukowinaer Seniorates und der evang.-luth. Kirche Bessarabiens begrüßen zu können, wodurch die Landeskirchenversammlung zu einer Vertretung der überwiegenden Mehrzahl der evang. Gläubigen in Großromänien geworden ist. Sie umfaßt nach dem Stand am 31. Dezember 1920 in der siebenbürgischen Landeskirche 231.681 Seelen, im Bukarester Dekanat 12.803 Seelen, im Bukowinaer Seniorat 22.333 Seelen, im Banater Dekanat 8 Gemeinden und eine Diaspora von fast 50 Gemeinden 6701 Seelen, in der bessarabischen Kirche 63.514 Seelen, zusammen 337.031 Seelen.
Die Landeskirchenversammlung wird durch ihren Beschluß den Zusammenschluß endgiltig rechtskräftig machen – möchte er dazu beitragen, die Kraft des Evangeliums hier im Osten zu stärken, daß es eine Lebenskraft nicht nur für den einzelnen Bekenner, sondern auch für die Gesamtheit werde.“
(Auszug aus der Eröffnungsrede von Bischof D. Friedrich Teutsch zur 29. Landeskirchenversammlung, Kirchliche Blätter aus der ev. Landeskirche A. B. in Siebenbürgen, Ev. Wochenschrift für die Glaubensgenossen aller Stände, Nummer 42/12. November 1921)