Gedanken zu dem Roman ,,Der Reisende“
Ausgabe Nr. 2747

Ulrich Alexander Boschwitz: Der Reisende. Hrsg. Peter Graf, Klett-Cotta Verlag Stuttgart, 2018, 304 Seiten, ISBN 978-3-608-98154-4.
Ulrich Alexander Boschwitz ist den meisten sicher nicht bekannt. Zur Erklärung: Ulrich Alexander Boschwitz war ein Schriftsteller, der im Exil 1938 den Roman „Der Reisende“ geschrieben hat. Tragisch ist die Geschichte des Romans und dessen Autor. Er emigrierte 1935 nach Skandinavien und später nach Frankreich, Belgien, Luxemburg und England. Der Roman wurde 1939 in englischer Sprache unter dem Titel ,,The Passenger“ in den USA erstveröffentlicht.
Ulrich Alexander Boschwitz wurde trotz seines jüdischen Hintergrunds kurz vor Kriegsbeginn in England als „Enemy alien“ interniert und nach Australien gebracht, wo er bis 1942 in einem Camp lebte. Auf der Rückreise von Australien, diese Reise war nur möglich, wenn man bereit war, in der „Britischen Armee“ zu dienen, wurde sein Schiff von einem deutschen U-Boot torpediert und Boschwitz starb im Alter von nur 27 Jahren.
Das dem Roman zu Grunde liegende Typoskript wurde ab November 1938 verfasst, wahrscheinlich nach den Pogromen in Deutschland, mit denen die organisierte Verfolgung der Juden begann. Das Manuskript liegt heute im Exilarchiv der Nationalbibliothek Frankfurt am Main. Der Verleger Peter Graf, Inhaber des Verlages ,,Das kulturelle Gedächtnis“, der seinen Arbeitsschwerpunkt auf die Wiederentdeckung vergessener Texte legt, hat den Roman „Der Reisende“ 2018 im Klett-Cotta-Verlag wiederveröffentlicht.

Ulrich Alexander Boschwitz (1915-1942).
Otto Silberstein, ein jüdischer Kaufmann, gut gestellt in der Berliner Stadtgesellschaft, ist „Der Reisende“ durch diesen rasenden Roman und dabei der seltene Fall, dass einer sein Leben nicht versteht und Recht hat. Wobei er Karl Roßmann aus Kafkas Amerika-Roman sehr nahe kommt, der sich ebenfalls nach Freiheit sehnte, nachdem seine Familie ihn verstoßen hatte.
Otto Silberstein wird von den selbsternannten ,,Ariern“ verstoßen, seines Geschäftes (Lebensgrundlage) beraubt und versucht, mit einer Tasche voller Geld im Ausland seine Freiheit wiederzugewinnen. Mit den Zügen der Reichsbahn, sie dienen Otto als Zufluchtsort, ist er als „Reisender“ unterwegs. Es ist eine Reise über die Bahnsteige, durch die Bahnhofsrestaurants, durch die Städte, übers Land, die scheinbar ziellos durch Deutschland führt. Ziellos? Nein, Otto erlebt eine Atmosphäre der Angst in Deutschland, die der Autor Ulrich Alexander Bollwitz in einer großen Dichte beschreibt, – außergewöhnlich für sein junges Alter – , die uns mitreißt, ja uns zum Mitfiebern bringt und auch eine ungefähre Vorstellung vermittelt von der Gleichgültigkeit der Massen und der Angst der Betroffenen. Otto Silberstein diente im Ersten Weltkrieg, wurde mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet, er war Deutscher: was ist nur geschehen? Otto Silberstein versteht die Welt nicht mehr. Er trifft auf seiner Reise Nazihäscher, Flüchtlinge wie er selbst, gute und schlechte Menschen. Wie alle Gehetzten immer wach, gespannt und bereit zur Flucht. Die sich wiederholenden Versuche Ottos, einen Reisepass zu bekommen oder die gescheiterten Grenzüberschreitungen ins Ausland und die damit einhergehende Enttäuschung Ottos, auch über seinen Sohn, der in Paris versucht, Papiere für seinen Vater zu bekommen, sind als Reminiszenzen des Autors an seine eigene Fluchtgeschichte aufzufassen und haben autobiographischen Charakter. Die Enttäuschung manifestiert sich wenn Otto feststellt: ,,Wie ist man doch vor sich selbst ein Clown. Man hofft, redet sich gleichzeitig ein, dass es nichts wird und glaubt an beides“.

Stolperstein für Boschwitz in Berlin, Hohenzollerndamm 81.
Ähnlichkeiten finden sich in Erich Maria Remarques Roman „Liebe Deinen Nächsten“. Der junge Autor Ulrich A. Boschwitz beschreibt das Flüchtlings-/Emigrationsthema aber in einem solchen Tempo, mit einer solchen Intensität, dass es den Leser fesselt. Man erstarrt als Leser ob der Authentizität, der Empathie und auch der eigenen Trauer, die sich einstellt, sitzt man mit dem „Reisenden“ als Beifahrer bei seiner rasenden Reise durch Deutschland.
Lothar SCHELENZ