Gedanken zu ,,Lehren Lieben Leben. Ein Lehrerroman“
Ausgabe Nr. 2741

Rektor, Lehrer Alfred Ernst Ungar 1930 mit dem Jahrgang 1923 an der Schule in Großscheuern.
Der Titel des Buches ,,Lehren Lieben Leben. Ein Lehrerroman“ von Alfred Ernst Ungar, das in diesem Jahr im Honterus-Verlag in Hermannstadt erschienen ist, erfüllt die wichtigsten Funktionen eines (Roman-)Titels: Er gibt eine allgemeine Inhaltsangabe an, ist somit eine Inhaltskennzeichnung und klassifiziert zugleich. Man möchte sogar meinen, dass mit dem Titel und seiner sich steigernden Gedankenführung (als rhetorische Figur Klimax genannt) eine „typisierende Kennzeichnung des Haupthelden“ verbunden ist. Von Interesse für die geneigten Leser wäre auch, dass aus der Sicht der literaturwissenschaftlichen Forschung Rahmenstücke eines Textes zusammengefasst werden, „die keine Bestandteile von ihm sind, ihn gleichwohl auf das engste umgeben und zu ihm in einem vielfach komplexen Verhältnis stehen“ und unter dem Begriff des Paratextes zusammengefasst werden.
Dass hier darauf nicht weiter eingegangen werden kann, dafür sei um Verständnis gebeten. Hinweisen wollen wir jedoch darauf, dass – so die literaturtheoretische Forschung – „innerhalb eines gedruckten Buches“ zu einem „engeren Bereich des Paratextes“ die folgenden „textuellen Rahmenstücken“ gehören: „Erstens die publizistische Erscheinung eines Textes, der Buchumschlag, das Papier, das Format, die Typographie sowie Illustrationen. Zweitens (…)die Angabe des Autorennamens, der Titel, das Vorwort, die Widmung, das Motto und die Anmerkung.“ (Gérard Genette, 1989, 1992)
In der Wahl des Titels, „der grundsätzlich keinen Restriktionen unterliegt“ – so die Forschung – gehen die Urheber sehr überlegt um. So auch Alfred Ernst Ungar, denn im Titel gibt der Autor nicht nur „erste vorverweisende Informationen über den nachfolgenden Text“, sondern vielmehr auch für den Text werbende „Anhaltspunkte für das Textverständnis“. (Gérard Genette, 1989, 1992)
Zu den Anhaltspunkten für das Textverständnis des Lehrerromans von Alfred Ernst Ungar gehört, dass der Roman in einer Zeit der „sichtbaren Geschichte“ (Karl Jaspers, 1958) der Siebenbürger Sachsen entstanden ist, die – im Rückblick – in vielfältiger Weise bewegt war. Die Bilder dieser „sichtbaren Geschichte“ zeigen, dass im Inneren der siebenbürgisch-sächsischen Gemeinschaft soziale Beziehungen ihrer Bewältigung harrten, von denen man erwartete, dass davon soziale Gebilde einer höheren Ordnung ausgehen werden. Aus dem Bild des Äußeren, des Ganzen hingegen, ist zugleich ersichtlich, dass es – so Karl Jaspers – in so manchen Teilen der Welt gärte.

Alfred Ernst Ungar: Lehren Lieben Leben. Ein Lehrerroman. Herausgegeben von Beatrice Ungar. Mit einem Geleitwort von Hermann Pitters und einem Nachwort von Christoph Klein. Honterus-Verlag Hermannstadt, 2021, 232 Seiten, ISBN 978-606-008-079-4
Offensichtlich war es nun so, dass das Leben und die Welt der Siebenbürger Sachsen – aber nicht nur dieser Minderheit im damaligen Rumänien allein – neuen Formen zustrebte, die sich zunächst noch nicht deutlich abzeichneten, jedoch vermuten lassen, dass die Zukunft im Zeichen einer Welt im Wandel stehe. Es bleibt allerdings unklar, wie diese Entwicklung ihren Höhepunkt erreichen werde, und es gibt auch keine Verlässlichkeit der Mitteilung darüber, denn Alfred Ernst Ungars Lehrerroman ist unabgeschlossen geblieben und hat uns nur als „literarisches Bruchstück“ erreicht. Als „ein Kaleidoskop“ somit, durch das wir „in eine bunte ferne Welt zurückblicken“ können und uns „von einem hochgeschätzten Lehrer über eine längst vergangene Zeit in amüsanter Weise unterrichten lassen“ mögen. So Hermann Pitters, der renommierte Professor und Theologe, in seinem Geleitwort zum Roman.
Diese „bunte ferne … längst vergangene Zeit“ gehört zur geistigen Welt eines Lehrers, des Lehrers Alfred Ernst Ungar (1901-1988), der Anfang der zwanziger Jahre im Hermannstädter Raum bekannt wurde, hier als Lehrer und als Rektor tätig war und später, 1934, nach Hermannstadt übersiedelte, wo er, bis zu seinem Eintritt in den Ruhestand im Jahre 1961, an der damaligen Knabenschule lehrte.
Ob er damals schon als junger Schriftsteller bekannt war und ob ihm die damaligen Schriftsteller zugetan waren und ihn in seiner Arbeit ermutigt haben, ist uns nicht bekannt. Gewiss ist aber, das ihm seine Schüler zugetan waren, denn es war die besondere Kunst des Lehrers Alfred Ernst Ungar, „dass er es vermochte, mit Wort und Stimme und mit gewinnender Güte und Herzenswärme Menschen – vor allem die ihm anvertrauten Kinder – zu fesseln und in eine andere, bessere Welt zu versetzen.“ Mit solch einfühlendem Verstehen hat nicht nur Hermann Pitters den Autor in seinem Geleitwort gewürdigt, sondern auch Altbischof Christoph Klein in seinem Nachwort zum Roman, in dem er schreibt, „dass ihn die unvergesslichen Erinnerungen an seinen (Anm. d. A.: Alfred Ernst Ungars) engagierten und herzlichen Unterricht, besonders in den Religionsstunden“, noch in späterer Zeit beschäftigt haben. So blieb „die Geschichte von Joseph und seinen Brüdern“ und die Versöhnung mit den Brüdern, die den Lehrer beim Erzählen „richtig zu Tränen gerührt“ hat, „als Sinn, Gehalt und Problematik … weiterhin ein wichtiges Thema und Anliegen“ nicht nur der Dienstzeit des Verfassers des Nachworts. Sie bildete vielmehr „den gedanklichen Hintergrund“ auch der nachhaltigen theologischen Arbeit des Bischofs Christoph Klein „über die Versöhnung und die Versöhnungspraxis in unserer Kirche“.
Unvergesslich geblieben sind auch mir die Erinnerungen an Alfred Ernst Ungar, dem ich in Hermannstadt in den siebziger Jahren in der schönen und hellen Wohnung des Schriftstellers Georg Scherg begegnet bin, wenn wir zu den Geburtstagsfesten des Schriftstellers eingeladen wurden und in der bürgerlich-kultivierten Atmosphäre des Hauses Scherg Gespräche über Literatur, Kunst, Musik und Philosophie zu einem freudigen Ereignis wurden. Sie haben mein Leben bis zum heutigen Tag bereichert. Und ebenso der Lehrer und Schriftsteller Georg Scherg, der in der damaligen Wirklichkeit des Hermannstädter germanistischen Lehrstuhls unsere moralischen Kräfte belebt hat.
Nun möchte man meinen, dass diese (Lehrer-)Welt der erzieherischen Impulse und der geistigen Horizonte des Lebens – mit ihrer Fülle von Gestalten und Vorgängen – auch die Geschehnisfolge in Ungars Nachlassroman bestimme und womöglich die Auswahl und Wertung von größeren Abschnitten des eigenen Lebens des Autors sinngebend verknüpft habe. Und ebenso, dass der Hauptheld des Romans, der junge Lehrer Ernstfred Zakel, somit autobiographische Züge des Autors trage und dass die Auswahl der Lebenssituationen sowie die Darstellung der äußeren Einflüsse, die zur Persönlichkeitsbildung des jungen Lehrers beitragen, vermutlich von der Suche des Autors nach dem eigenen Ich motiviert seien. Sicher ist, dass das überschaubare Geschehen in Alfred Ernst Ungars Lehrerroman stark und vielfältig Effekte der Zeiterfahrung vermittelt, dass bei der Betrachtung des (Zeit-)Geschehens allerdings zu berücksichtigen sei, dass das „wirkliche Geschehen“ von „der Dichtung“ unterschieden werden müsse. Denn diese erzähle, „was geschehen könnte, d. h. das nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit Mögliche“. (Aristoteles 1982/1991: Poetik, hg. von Manfred Fuhrmann. Stuttgart. Zitiert nach Heinz Ludwig Arnold und Heinrich Detering: Grundzüge der Literaturwissenschaft, München 1996)
Der literarischen Intention des Romans ist allerdings dienstbar gemacht, dass die Entwicklung, die Bildung sowie der Werdegang des jungen Lehrers Ernstfred Zakel, der Hauptgestalt des Romans somit, in die Übernahme einer klar umrissenen Rolle in der Gesellschaft einmündet.
Als Hilfsmittel bewährt sich hier, darauf hinzuweisen, dass bei der Darstellung der Geschehnisfolge die für Ungars Lehrerroman typische Erzählsituation die auktoriale Erzählsituation ist, in der der Autor über die Innen- und Außenwelt der Personen in der fiktiven Welt berichtet, die der Autor selbst geschaffen hat. Dabei erweckt er den Eindruck, dass das fiktionale Geschehen real, d. h. historisch sei. Und zu der gestalterischen Ausdrucksform des Romans gehört, dass das nur angenommene Geschehen täglich oder doch vergleichsweise regelmäßig tagebuchartig niedergeschrieben ist – als subjektives oder objektives Planen, Handeln und Erleben sowie Denken, Meinen oder Fühlen des Lehrers Ernstfred Zakel oder der einzelnen Angehörigen der Dorfgemeinschaft. Als zusätzliches, typisches Bauelement bestimmten der Dialog – so die Fachliteratur – die gestalterische Ausdrucksform des Romans; er fügt in den fiktionalen Texten die so genannte „imaginäre Kommunikationssituation“ hinzu und führt dazu, dass der Leser „den fiktiven Rahmen der Figurenrede rekonstruieren“ muss. In Ungars Lehrerroman gehören der Dialog und die Briefform als Ganzes zum narrativen Text und diese lassen die Gestalten des Romans aus ihrer Sicht die fiktive Welt akribisch sehen und erleben.
Der Leser kann nun dem Hang unterliegen, anzunehmen, dass diese (fiktive) Welt ein ganz besonderes Beispiel sozialer Verbundenheit in einer vertrauten Gemeinschaft des ausschließlichen Zusammenlebens ist, der sozialen Beziehungen und der sozialen Verbindung. Erstaunlich ist jedoch, dass sich im sozialen Spannungsfeld der schönen Gemeinde Stallendorf (gemeint ist Großscheuern) eine Mannigfaltigkeit der Formen der sozialen Zusammenhänge entwickelt, die zu einer Menge von Einzelbeziehungen führt, die voneinander verschieden sind und einander durchdringen. Damit erweist sich die soziale Beziehung trotz ihres elementaren Charakters als ein recht komplexes Phänomen, da in ihr nicht nur seelische, sondern auch materielle Gegebenheiten wirksam werden. Einflussmittel sind Freundschaft und Abneigung, Gewalt oder Zwang, Überredung und Austausch von Dingen, Handlungen des oder von Einzelnen, die den Normen und Motiven des sozialen Verhaltens, die als verbindlich gelten, nicht Rechnung tragen oder den Erwartungsnormen nicht entsprechen. Es gibt gute und schlechte Haushalter, gute oder gewalttätige Ehemänner und Väter, gute und schlimme Nachbarn, Freundschaften und Abneigungen, ja sogar ein von Gewalt, psychischem Terror und auswegloser Angst verursachter Kindesmord.
Im Unterschied zu diesem komplexen sozialen Verhalten, das die Vorstellung so manchen Lesers von der intakten sächsischen Dorfgemeinschaft entmythisieren mag, gibt es einen Ort, an dem alles zwischenmenschliche Geschehen zusammenläuft und die freiwillige Aneignung der bestehenden Normen als Vorgang und Verinnerlichung exemplarisch auf die ganze Dorfgemeinschaft – auch interethnisch – ausstrahlt. Dieser heile Ort ist die Wohnung des Lehrers Ernstfred Zakel, wo der Leser die Entdeckung macht, wie sehr ein junger Mensch – der Lehrer Ernstfred Zakel – Lebenskraft schöpft aus der tätigen und unteilbaren Pflege- und Seelengemeinschaft mit der erkrankten Mutter. Und ebenso aus seiner Bildungsarbeit in der Schule und aus der Kulturarbeit im Dorf, aus der selbstlosen und stetigen Entfaltung der geistigen und seelischen Möglichkeiten, die in den Kindern wie auch in den jungen Menschen angelegt sind. Und ganz besonders aus der stetigen Bemühung um die Heranführung der Dorfgemeinschaft an die Wahrhaftigkeit „als Fundament des geistigen Lebens“ (so Albert Schweitzer). Und um die Erziehung zur Gerechtigkeit, von der Sokrates gesagt hat, „dass die Gerechtigkeit und alles, was sonst zur Tugend gehöre, Weisheit sei … “ (nach Xenophon, zitiert nach Viktor Engelhardt, Die geistige Kultur der Antike, Stuttgart 1956). Tugend sei Wissen, heißt es bei Sokrates, und damit wird sie „lehrbar“. Zu dieser rationalistischen Geisteshaltung des Sokrates müssten sich alle politischen Wirklichkeitskonstellationen unseres Landes bekennen…
Als prägendes Merkmal der Darstellung des zwischenmenschlichen Geschehens in dieser Dorfgemeinschaft sowie in der Wohnung des Lehrers lässt sich die detailtreue Beschreibung des Lebens feststellen wie auch der stetige Zuwachs an Elementen der äußeren Wirklichkeit. Es sind Elemente des Realismus, zu denen die genaue, beinahe naturalistische Abbildung der Wirklichkeit tritt, verbunden mit einer engagierten Kritik an der Unzufriedenen-Bewegung jener Zeit, an der politischen Vertretung der Sachsen im Parlament, an den öffentlichen Ämtern sowie an der Evangelischen Kirche, speziell am Landeskonsistorium, dem Gleichgültigkeit gegenüber den Problemen der Lehrerschaft vorgeworfen wird. Dieses soziale Mitgefühl, festgesetzt vom Autor des Romans auf den Klassenstandpunkt – wohl als obligatorisches Zugeständnis an den sozialistischen Realismus als künstlerische Gestaltung in der Literatur in jener Zeit -, dieser marxistische Ansatz im Roman wird verbunden mit Vorschlägen zur Verbesserung der sozialen Zustände durch Anpreisung von kommunistischem Gedankengut, das sich in jener Zeit der Proletarisierung auch in Siebenbürgen zu verbreiten begann.
Trotz dieser Tendenzen ist Alfred Ernst Ungars Lehrerroman keineswegs ein Roman der politischen, sozialen und sittlichen Missstände seiner Zeit und beileibe kein politisches Manifest des Verfassers. Man ist jedoch geneigt, den Nachlassroman mit einem didaktischen Tendenzroman zu vergleichen, mit einem kritischen Zeitgemälde, in dem der Autor gegen die sittlichen Gefahren sowie gegen die Eingriffe der politischen und der staatlichen Kräfte protestiert, die das Leben der siebenbürgisch-sächsischen Gemeinschaft in der Zwischenkriegszeit bedrohten.
Gerhard KONNERTH